Es hagelt Kritik an Johnsons Brexit-Plänen
Die EU hat mit einem Ultimatum auf Pläne der Regierung in London reagiert, die mit einem Gesetz Teile des bereits gültigen Brexit-Abkommens aushebeln wollte. Sollte der Gesetzesentwurf nicht bis Ende September zurückgezogen werden, will die Union nicht weiter über ein Handelsabkommen verhandeln. Europas Presse ist empört über Johnsons Vorstoß - sieht aber auch Chancen.
So höhlt Populismus unser Vertrauen aus
Für El Mundo ist Boris Johnson nichts anderes als ein Lügner und Rechtsbrecher:
„Wenn es hart auf hart kommt, ist das Wort eines Populisten wertlos. ... Brüssel geht davon aus, dass alles ein Verhandlungsmanöver ist, um die Brexit-Forderungen aufzuweichen. Wie auch immer: Das gegenseitige Misstrauen wächst. Wer einseitig ein unterzeichnetes Abkommen kündigt, verletzt internationales Recht. Und Johnson verheimlicht das nicht einmal. Mit diesem gefährlichen Spiel bringt er sich in Gefahr gegenüber seiner Partei, den Wählern und Europa. Ein weiteres Beispiel dafür, wie Populismus das Vertrauen der Bürger aushöhlt und deren Entfremdung verschärft, die er ja eigentlich beheben wollte.“
Der Zweck heiligt nicht alle Mittel
Premier Johnson schadet dem Ruf seines Landes, warnt De Volkskrant:
„Ein Vorteil des Brexit ist Johnson zufolge, dass der Weg frei wird für wegweisende Freihandelsabkommen. ... Aber Nancy Pelosi, Vorsitzende des amerikanischen Repräsentantenhauses, teilte bereits mit, dass auf diese Weise ein amerikanisch-britischer Handelsvertrag 'absolut keine Chance' hat. ... Starke Worte und andere Kapriolen gehören zu Verhandlungen, aber der jüngste britische Vorstoß überschreitet viele Grenzen. Die Briten haben für einen Brexit gestimmt und nicht für einen ideologischen Kreuzzug. Johnson muss schnell einen Rückzieher machen, nicht nur, weil die EU das fordert, sondern weil das im britischen nationalen Interesse liegt.“
Britisches Irrlichtern ist Chance für Dublin
Die irische Regierung kann das eigene Land jetzt umso besser als attraktiven Wirtschaftsstandort präsentieren, freut sich der Ökonom David McWilliams in The Irish Times:
„Großbritannien ist unberechenbar geworden. Die Regierung in London bricht internationale Verträge und mit den Prinzipien der freien Marktwirtschaft. Da wird Irland als eine viel bessere Wahl für Investitionen, Kapital und qualifizierte Migranten dastehen. Irlands Geschäftsmodell sollte weiterhin sein, ein attraktiver Standort für internationale Geschäfte zu sein - sowohl für Einheimische als auch für Ausländer. Investitionen, die sonst nach Großbritannien gegangen wären, könnten hierherkommen ... Wenn dein Nachbar aus dem Gleichgewicht gerät, musst du nichts tun, um vernünftig zu wirken. In der Weltwirtschaft sollte die Bedeutung einer entsprechenden Optik nicht unterschätzt werden.“
EU hat Wichtigeres zu tun
Die EU wird sich von London nicht unter Druck setzen lassen, prophezeit Kauppalehti:
„Johnson hofft vielleicht, dass die EU nachgibt, wenn der Einsatz erhöht wird. Ihm stehen aber 27 Länder gegenüber, die an ihre eigenen Interessen denken. Zu diesen Interessen zählt ein reibungsloser Handel mit Großbritannien, aber nicht auf Kosten der Wettbewerbsfähigkeit der eigenen Unternehmen. Wenn Johnson das nicht versteht, sind ein Austritt ohne Abkommen sowie neue Zölle und Papierkrieg durchaus möglich. Was auch immer passiert, die EU-Staaten wollen auf Großbritannien nicht mehr Zeit als absolut nötig aufwenden. Auf der Agenda stehen wichtigere Dinge: Corona und das historische Wiederaufbaupaket. Die EU hat ihre Trauerarbeit zum Brexit schon vor langer Zeit abgeschlossen.“
Das Imperium schlägt zurück
Großbritannien liebäugelt mit mehr Kontrolle über die Republik Irland, befürchtet Lluís Bassets in El País:
„Der Schein trügt. Hier geht es nicht darum, wie ab 2021 die Beziehungen zwischen dem Vereinigten Königreich und der Europäischen Union aussehen werden, nachdem die Übergangsfrist verstrichen ist. ... Der wahre Grund für den aktuellen Streit - in dem ein Hauch von Rache liegt - befindet sich auf der Insel Irland und in den Beziehungen zwischen Dublin und London. So, als ob das Empire mithilfe des Brexits wieder die Kontrolle über die ehemalige Kolonie zurückerlangen wollte.“
Furcht vor britischem Dumping
Gazeta Wyborcza sieht das Kernproblem in der Frage der staatlichen Subventionen:
„Der schwierigste Punkt in den Verhandlungen ist die Forderung der Union an das britische Volk, sich in einem Handelsabkommen mit der EU zur Einhaltung der Regeln für staatliche Beihilfen (Subventionen für Unternehmen) auf EU-Ebene zu verpflichten. Es geht darum, dass die subventionierten Briten keine Dumping-Gefahr für z.B. Franzosen oder Deutsche auf dem EU-Markt darstellen sollen.“
Briten setzen Glaubwürdigkeit aufs Spiel
London schadet mit seinem Vorgehen vor allem sich selbst, analysiert The Economist:
„Die politischen Führer der EU wissen, dass die durch einen No-Deal-Brexit verursachten Störungen und wirtschaftlichen Schäden für Großbritannien weitaus schlimmer wären als für sie. Angesichts einer ähnlichen Aussicht im vergangenen Jahr war es auch nicht die EU, sondern Boris Johnson, der nachgab, indem er einen Sonderstatus für Nordirland akzeptierte, der Zollkontrollen in der Irischen See bedeutete. Darüber hinaus würde eine einseitige Neufassung des Austrittsabkommens das Vertrauen in die britischen Verhandlungsführer untergraben. Die politischen Führer der EU fragen bereits: Wie können sie ein Handelsabkommen mit einem Land abschließen, das erwägt, einen Vertrag zu brechen, den es vor nicht einmal einem Jahr mit ihnen vereinbart hat?“
London schert sich nicht mehr um EU-Drohungen
Dass aller Druck der EU mittlerweile wirkungslos verpufft, glaubt hingegen The Irish Times:
„Während des gesamten Brexit-Prozesses stärkte vor allem eines die Verhandlungsposition der EU gegenüber London: die Gefahr, dass der Zugang Großbritanniens zum EU-Binnenmarkt eingeschränkt werden könnte. Mittlerweile ist jedoch klar, dass die Johnson-Regierung einen sehr harten Brexit anstrebt. Selbst wenn es gelingt, ein Abkommen zu erzielen, wird der Zugang Großbritanniens zum EU-Binnenmarkt erheblich eingeschränkt sein. Da Großbritannien wild entschlossen einen Kurs verfolgt, der genau das zur Folge hat, hat die EU ihr größtes Drohpotenzial in den Verhandlungen verloren.“
Als Sündenbock taugt Europa immer noch
Die britische Härte in den aktuellen Verhandlungen ist nur ein Ablenkungsmanöver, urteilt Le Soir:
„Die Briten haben sich von der Europäischen Union verabschiedet, aber Europa ist eindeutig immer noch das beste rote Tuch, mit dem man winken kann, um Ausrutscher, Wunden und andere innenpolitische Übel vor der Bevölkerung zu verbergen. Man bedient sich also angesichts der vielstimmigen Kritik, die dem Premier zu schaffen macht, wieder des guten alten europäischen Sündenbocks. ... Es gilt auch, die Bürger von der Angst vor 'Brovid' abzulenken, wie das mögliche Zusammenfallen der negativen Auswirkungen des Brexit und einer neuaufflammenden Covid-Epidemie gegen Jahresende bezeichnet wird.“
Streit mit EU ist ein Ablenkungsmanöver
Die Politologin Melanie Sully weist in der Wiener Zeitung darauf hin, dass Boris Johnsons Umfragewerte gesunken sind:
„Der neue Labour-Parteichef Keir Starmer macht hingegen eine gute Figur im Parlament, und die Tory-Abgeordneten werden unruhig. Die Linie der Regierung sei inkonsequent, verwirrend und unmöglich zu kommunizieren, monieren sie. Sei es in der Schulpolitik oder bei der Bekämpfung des Coronavirus. ... Nur 15 Prozent der Tory-Abgeordneten würden genügen, um die Vertrauensfrage zu stellen und Johnson als Obmann und damit Premierminister abzuwählen. Bald beginnt der Tory-Parteitag. ... [D]ie Kritik an seiner Regierungsfähigkeit wird dabei wohl spürbar sein. Ein Streit mit der EU dient da als eine willkommene Ablenkung, soll die Partei geeint werden. Und er sichert Johnson allemal das Lob der britischen Boulevardzeitungen.“
Krankhafte Lust an der Selbstzerstörung
Wie lange die EU dieses Spielchen eigentlich noch mitmachen will, fragt sich Volkskrant-Kolumnist Bert Wagendorp:
„Die ewige Arroganz und das so größenwahnsinnige wie armselige Selbstbild von Rule Britannia wird mit dem Mantel der Liebe zugedeckt. ... Es ist ein erstaunliches Schauspiel der pathologischen Selbstverstümmelung. Großbritannien wurde vom Coronavirus schwer getroffen, und der No Deal, den Johnson offensichtlich will, wird dem Land einen weiteren wirtschaftlichen Schlag versetzen. Außerdem droht ein No-Deal-Brexit, das Land zu spalten. Die Schotten haben den Antrag auf EU-Mitgliedschaft bereits in der Schublade. Ich finde, wir sollten die britische Lust zur Selbstzerstörung respektieren. ... 'We've had enough, suckers', ist die einzige Sprache, die die Kerle verstehen. “
Londons Rückzieher verständlich
Dass das Austrittsabkommen in seiner derzeitigen Form die wirtschaftliche Abkoppelung Nordirlands vom Rest Großbritanniens ermöglicht, ist nicht hinnehmbar, meint The Daily Telegraph:
„Innerhalb des Vereinigten Königreichs darf es unter keinen Umständen Zölle geben. Londons Plan ist eine Art Rückversicherung für den Fall, dass die Verhandlungen scheitern. Er ist kein Versuch, die Verhandlungen zum Scheitern zu bringen. Die EU muss sich jetzt entscheiden. Sie könnte auf ihr hohes Ross steigen - was sie in der Vergangenheit oft getan hat - und über das hinweg galoppieren, was ihrer Ansicht nach gegen das Austrittsabkommen verstößt. Oder sie könnte Verständnis für das Problem äußern, dem Großbritannien gegenübersteht, und darüber verhandeln, wie es überwunden werden kann.“
Johnson macht sein Land zum Zwerg
Der Poker ihrer Regierung kann die Wirtschaft und die Menschen in Großbritannien teuer zu stehen kommen, warnt De Morgen:
„Die Briten brauchen die Europäer mehr als umgekehrt. Ein No-Deal-Brexit samt der damit verbundenen Zölle und Bürokratie hätte zugegeben auch für unsere Exporteure negative Folgen. Sie haben jedoch den Vorteil, dass sie unter den 450 Millionen EU-Verbrauchern und darüber hinaus neue Absatzmärkte suchen können. Johnson dagegen steht trotz des ehrgeizigen Slogans 'Global Britain' mit leeren Händen da. Die Briten haben noch kein einziges großes Freihandelsabkommen geschlossen und stehen mutterseelenallein auf einem Weltmarkt, auf dem Riesen Zwerge platt machen. Wenn Johnson zu hoch pokert, wird er bald enden wie der Kaiser ohne Kleider - und seine Wähler ohne Job.“
Brüssel fällt auf "U-Turn-Boris" nicht mehr herein
Ein Premier, der von ihm selbst ausgehandelte Abkommen plötzlich auf den Kopf stellen will, wird wohl kaum noch ernstgenommen, unkt die Kleine Zeitung:
„In Brüssel hat man zwar immer eine gewisse Kompromissbereitschaft signalisiert. Aber da ging es um formale Details oder technische Erleichterungen, nie ums große Ganze. Ein Einknicken der EU ist bei den Hauptpunkten nicht zu erwarten. ... Das Unfassbare ist, dass 'U-Turn-Boris' vor allem seinem eigenen Land einen kaum noch bezifferbaren Schaden zufügt. Und er denkt offensichtlich, dass er nach diesem Zickzackkurs mit den USA, Australien, Kanada oder China noch auf Augenhöhe verhandeln kann. Die EU ist über rund 100 Leitlinien längst auf den 'No Deal' vorbereitet. Johnson glaubt immer noch, es reicht, Brüssel an allem die Schuld zu geben.“
Riskantes Spiel mit rauchenden Colts
Ob Bluff oder Ernst: Johnson setzt mehr als die Möglichkeit einer Einigung mit der EU aufs Spiel, urteilt Brüssel-Korrespondent Andrea Bonanni in La Repubblica:
„Auch im Oktober hatte der britische Premier den von Theresa May erarbeiteten Plan hartnäckig abgelehnt, um ihn dann im letzten Moment doch zu akzeptieren. Mit der Ankündigung, die für Nordirland unterzeichneten Klauseln für nichtig zu erklären, stellt er diesmal jedoch ein fast unüberwindbares Hindernis für den Abschluss eines Abkommens auf. Es ist wie in drittklassigen Westernfilmen, wenn der Bösewicht seine Pistole auf den Pokertisch legt und droht, sie zu benutzen, wenn er nicht gewinnt. Das Risiko, dass die Situation außer Kontrolle gerät, ist extrem hoch. Und eine politische Krise mit Nordirland als Epizentrum kann die Gewalt zwischen katholischen und protestantischen Gemeinschaften schnell wieder entfachen.“
Wunder gibt es immer wieder
Turun Sanomat hält eine Last-Minute-Einigung weiterhin für möglich:
„Es sieht immer mehr danach aus, dass die Handelsbeziehungen zwischen der EU und Großbritannien ab dem Jahreswechsel auf der Minimalgrundlage der WTO-Regeln aufbauen werden. Das wäre sowohl für die EU als auch Großbritannien schädlich – aber insbesondere für Großbritannien. Auf die Unternehmen auf beiden Seiten des Kanals kämen Dutzende Milliarden Euro zusätzlicher Kosten und ein enormer Bürokratiezuwachs zu. Großbritannien scheint bereit, einen hohen Preis für seinen Austritt zu zahlen. Letztlich ist es eine Frage des politischen Willens. Auch in der Vergangenheit waren Wunder kurz vor Fristende möglich.“
Brexit und Covid - eine explosive Mischung
Wedomosti sorgt sich um die Lage auf der Insel, sollte ein harter Brexit am 1. Januar 2021 mit einer zweiten Covid-19-Welle zusammenfallen:
„Dann erscheint ein 'perfekter Sturm' möglich. Es gibt sogar schon einen Begriff dafür: 'Brovid'. Dieses Szenario wurde von einer Regierungskommission ausgearbeitet, Journalisten nannten es 'ein Dokument des Jüngsten Gerichts': Es prognostiziert Preissprünge, Lebensmittel- und Treibstoffmangel, massenhafte Entlassungen, einen Finanzkollaps und Massenunruhen, gegen die man die Armee aufbieten muss. Die Regierung bereitet sich schon darauf vor. Wenn dieses Szenario eintritt, braucht es zyklische Stromabschaltungen und Rationierungen von Wasser, Medikamenten und Essen.“
Irlands Wirtschaft droht der nächste Schock
Geregelte Verhältnisse mit Großbritannien sind für Irland überlebenswichtig, warnt The Irish Independent:
„Volle Supermarktregale und Fabriklager gibt es in Irland nur, wenn Güter aus oder durch Großbritannien kommen. Jede signifikante Betriebsstörung in den dortigen und/oder den irischen Häfen stellt eine echte wirtschaftliche Bedrohung dar. Da jeder Mann, jede Frau und jedes Kind in Irland importierte Waren konsumiert - denn dazu zählen die wesentlichsten Güter wie Lebensmittel -, ist es wichtig, dass die Versorgungslinien effizient funktionieren und es an den Häfen keine Staus gibt. Genau das droht aber, wenn es keine wirtschaftliche Vereinbarung zwischen der EU und Großbritannien gibt. Oder auch, wenn ein solcher Deal zu viele neue Kontrollen und Importsteuern bringt.“