Afghanistan: Die US-Truppen gehen, die Angst bleibt

US-Präsident Joe Biden verschiebt den endgültigen Abzug der US-Truppen aus Afghanistan. Sein Vorgänger Trump hatte mit den Taliban den 1. Mai 2021 als Frist vereinbart. Diese ersetzt Biden nun durch den 11. September - 20. Jahrestag der Terroranschläge von New York und Washington. Kommentatoren mahnen, das Land trotzdem weiter zu unterstützen.

Alle Zitate öffnen/schließen
Tages-Anzeiger (CH) /

Zurück auf Feld eins

Der Rückzug der USA bringt ihre bisherigen Kooperationspartner im Land in echte Gefahr, warnt der Tages-Anzeiger:

„Bidens Entscheid ermöglicht seiner Regierung, amerikanische Leben zu retten und Geld zu sparen. ... Gleichzeitig droht Afghanistan die Rückkehr auf Feld eins, auf dem das Land mit seinen 39 Millionen Einwohnern 2001 stand. ... Am meisten Gefahr droht dabei jenen Afghanen und vor allem jenen Afghaninnen, die an den Aufbau einer Demokratie glaubten, die für die US- und Nato-Truppen oder westliche Hilfswerke als Fahrer und Übersetzer agierten, die ein Bürgermeisteramt übernahmen oder Kinder unterrichteten.“

El País (ES) /

Das Problem wird Europa weiter beschäftigen

Afghanistan aus den Augen zu verlieren würde direkte Auswirkungen auf Europa haben, warnt El País:

„Es wäre ein schwerer Fehler, wenn der Westen Afghanistan vergisst, sobald die Soldaten heimgekehrt sind. Ein neuer Bürgerkrieg würde zu neuen Fluchtbewegungen führen, die die Nachbarn, aber auch Europa etwas angehen (2019, vor der Pandemie, war die Zahl der Afghanen, die in illegaler Form nach Europa gelangt waren, höher als die der Syrer). Sollten die Taliban erneut die Macht an sich reißen, besteht zudem das Risiko, dass sich das asiatische Land wieder in ein Refugium für Terroristen verwandelt. “

Právo (CZ) /

Land wird nicht seinem Schicksal überlassen

Afghanistan ist noch kein sicheres Land, unterscheidet sich aber erheblich von dem von vor 20 Jahren, schreibt der frühere Vorsitzende des Nato-Militärausschusses Petr Pavel in Právo:

„Der größte Fortschritt ist das Bewusstsein eines großen Teils der Bevölkerung, dass man auch ein anderes Leben führen kann als eines im Krieg. ... Die jetzige Entscheidung bedeutet nicht, dass das Land mit dem Abzug seinem Schicksal überlassen wird. Das wäre ein großer Fehler und würde uns mit Sicherheit dazu zwingen, früher oder später zurückzukehren. Es wird Möglichkeiten geben, die progressiven Kräfte, die eine Befriedung wollen, weiter zu unterstützen und eine Rückkehr zur Gewalt zu verhindern.“

Postimees (EE) /

Es geht weiter

Der ehemalige estnische Außen- und Verteidigungsminister Jüri Luik fordert in Postimees, die finanzielle Unterstützung der Regierungsarmee in Afghanistan beizubehalten:

„Heute ist das Ende unseres langen Krieges in Sicht - das leider nicht das Ende des Krieges in Afghanistan bedeutet. Er wird nun ein Bürgerkrieg. Ich glaube, der Abzug wird in der Staatsführung von Afghanistan große Unsicherheit verursachen. Seit Jahren haben wir beteuert, dass wir nicht gehen, bevor die Arbeit getan ist. Die Internationale Gemeinschaft, vor allem die USA, müssen die Armee von Afghanistan weiterhin finanziell und mit Ausrüstung unterstützen. ... Wenn kein Lohn kommt, bricht die Armee schnell auseinander und die Taliban sind bald in Kabul.“

TVXS (GR) /

Es gibt noch Tausende Bin Ladens

Für den EU-Abgeordneten Stelios Kouloglou (Syriza) steht der US-Abzug für das Scheitern der Nahost-Politik der USA. Er schreibt auf TVXS:

„Wir feiern Bin Ladens Ermordung und vergessen dabei, dass sich Tausende von Bin Ladens in der Nachbarschaft befinden. … Übrig bleibt eine kleine Truppe, die die US-Botschaft bewacht. Alles, was sie tun kann, falls die Taliban die Hauptstadt besetzen, ist, die Botschaft mit einem Hubschrauber zu evakuieren, wie 1975 in Saigon. Trump hatte zuvor eine Einigung mit den Taliban erzielt, ein weiterer Beweis für ihre Macht. Nach der Ankündigung der leichten Verzögerung des Abzugs drohen sie sogar, den Waffenstillstand nicht einzuhalten und nicht an der bevorstehenden Friedenskonferenz in Istanbul teilzunehmen, die von Erdoğan veranstaltet wird.“

Le Figaro (FR) /

Zurück in die Steinzeit, auf in den nächsten Krieg

Das Scheitern Washingtons und der Nato überlässt das Feld den Taliban, bedauert Le Figaro:

„Von den westlichen Einsatzkräften befreit, werden sie das Land sicher bald wieder unter ihre Kontrolle bringen und die Menschenrechte - insbesondere die der Frauen - in die Steinzeit zurückkatapultieren. ... Diese Niederlage ist auch unsere - nämlich die der Nato, unter deren Flagge Frankreich vor seinem Rückzug 2012 bis zu 4.000 Soldaten einsetzte. Und sie bereitet den nächsten Afghanistan-Krieg vor: einen Bürgerkrieg zwischen lokalen Machthabern, die bereits ihre Privatarmeen in Stellung bringen, und einen ferngesteuerten Antiterrorkrieg mit Drohnen. ... Wie bereits der Rückzug aus dem Irak 2012 gezeigt hat, verabscheut die Region das Vakuum. Zumindest dürfte der Westen für eine gewisse Zeit vom naiven Traum eines Demokratieexports geheilt sein.“

Dagens Nyheter (SE) /

Taliban werden keine Stabilität schaffen

Einen Teufelskreis nach dem Abzug fürchtet Dagens Nyheter:

„Die Taliban sind kaum eine monolithische Organisation. Wenn der äußere Feind verschwindet, könnten die Fraktionen sich gegenseitig bekämpfen. Warlords, die auf Geographie, ethnische Minderheiten oder Clans angewiesen sind, werden ihre eigenen Ambitionen haben. Als die sowjetische Besatzung Ende der 1980er Jahre endete, ließ die westliche Welt Afghanistan alleine. Im Ergebnis wurde es zum Todesreich der Taliban. Wenn die US- und Nato-Streitkräfte das Land verlassen, müssen irgendwie neue Mittel gesucht werden, um es zu unterstützen und aufzubauen. Andernfalls entsteht ein weiterer Teufelskreis.“

La Repubblica (IT) /

Terrorismus muss heute anders bekämpft werden

Für die USA ist offenbar das Ende einer Ära gekommen, in der der Krieg gegen den Terror geografisch eingegrenzt schien, analysiert Kolumnist Paolo Garimberti in La Repubblica:

„[Der US-Einmarsch] war die Antwort auf den 11. September, basierend auf der Überzeugung, dass die Taliban in Afghanistan das Zentrum waren, von dem aus der dschihadistische Angriff auf den Westen ausging. ... Biden sagt, dass diese Strategie keinen Sinn mehr hat. Nicht nur, weil es andere Bedrohungen gibt, etwa durch China und Russland. Sondern auch, weil eine neue Phase im Kampf gegen den dschihadistischen Terrorismus eingeleitet werden muss. ... Was von Al-Qaida oder der IS-Miliz übrig geblieben ist, ist zwischen Asien und Afrika verstreut und stellt neue Herausforderungen dar, denen mit traditionellen Armeen und klassischen Kriegen nicht begegnet werden kann.“