Ukraine: Was hat Putin vor?
Bei einem virtuellen Gipfel am Dienstag wollen US-Präsident Joe Biden und der russische Präsident Wladimir Putin über die Ukraine-Krise verhandeln. Die USA fordern den Rückzug der an der ukrainischen Grenze zusammengezogenen Truppen. Der Kreml fordert unter anderem eine klare Absage an einen Nato-Beitritt Kyjiws. Wie brenzlig die Lage ist, erörtert Europas Presse.
Die Gelegenheit ist günstig
Expresso hält einen Krieg in der Ukraine für möglich:
„Niemand weiß, wie Putins Entscheidung über die Ukraine ausfallen wird. Er könnte zu dem Schluss kommen, dass trotz der politischen und finanziellen Kosten für die Beziehungen zu Europa und den USA ein kontrollierter Krieg gegen die Ukraine sinnvoll ist. ... Aus Putins Sicht ist es vielleicht besser, jetzt zu handeln, vor allem wenn er glaubt, dass eine weitere russische Invasion von einem bedeutenden Teil der ukrainischen Bevölkerung unterstützt wird. Für den russischen Staatschef ist die Ukraine kein Ausland. In ein paar Jahren wird es zu spät sein.“
Hoffentlich kein Risiko-Spiel
Ein Einmarsch ist nicht ausgeschlossen, aber unwahrscheinlich, meint die Russland-Expertin Anna Zafesova in La Stampa:
„Es wäre beruhigender, an einen Bluff zu denken. In der Zwischenzeit hat Putin - der die seiner Meinung nach sinnlosen Verhandlungen mit seinen ehemaligen Brüdern in Kyjiw, das er als westliche Kolonie betrachtet, ablehnt und behauptet, mit denen zu sprechen, die er für die wahren Herren hält - bereits einen Gipfel gewonnen, wenn auch per Videokonferenz mit Biden. Seine Taktik der 'positiven Spannung' in Europa hat ihm die Sichtbarkeit verschafft, die er anstrebt. Wenn es sich wirklich um ein Pokerspiel handelt, könnte er sogar mit diesem Ergebnis zufrieden sein. Die Frage ist allerdings, ob der Kreml Poker oder Risiko spielt.“
Eine Nummer zu groß
Putin kann die Ukraine nicht kleinkriegen, ist NV-Kolumnist Iwan Jakowyna überzeugt:
„Die Ukraine ist das heikelste Thema für Wladimir Putin. Seit 2004 versucht er, sie zu erobern. Und es ist ihm nie gelungen. 2014 ist er sogar einmarschiert, aber selbst das war nur halbherzig. Und anstatt die Ukraine zu unterwerfen, hat er sie noch weniger pro-russisch gemacht, sie viel mehr konsolidiert, sie antirussisch gemacht. ... Bislang sind die Dinge in dieser Richtung gut vorangekommen.“
Ein schwerer historischer Fehler
Die taz erinnert daran, dass die Verschlechterung der Beziehungen bereits mit der Nato-Osterweiterung begann, die ab 1996 vollzogen wurde:
„Es wurde das Versprechen gebrochen, das US-Außenminister James Baker, Bundeskanzler Helmut Kohl und Außenminister Hans-Dietrich Genscher dem sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow Anfang Februar 1990 nachweislich gegeben hatten. Die Osterweiterung war ein schwerer historischer Fehler der Nato. Man hätte stattdessen auf das von Gorbatschow vorgeschlagene 'Gemeinsame Haus Europa' und ein kollektives, auch für Polen und die baltischen Staaten verlässliches Sicherheitssystem mit Russland im Rahmen der OSZE setzen sollen. Heute ist es wahrscheinlich leider nicht mehr revidierbar.“
Nicht vom Unsinn aus Moskau ablenken lassen
Putins Forderungen sollte der Westen schlicht ignorieren, rät The Times:
„Er kann eine weitere Entmilitarisierung der Nachbarländer fordern, vielleicht eine Beendigung aller militärischen Übungen oder den Abzug der eigentlich nur symbolischen Nato-Kräfte in Polen und den baltischen Ländern. ... Dass Russland diese mickrigen [Nato]-Kräfte als eine Bedrohung darstellt, ist absurd. Ebenso das Bild der Einkreisung: Nur ein Sechzehntel der russischen Landgrenze besteht zu Nato-Ländern. Wir sollten Putin sagen, dass seine Beschwerden Unsinn sind. Stattdessen diskutieren wir untereinander darüber, wie wir ihn besänftigen sollen.“
Kreml hat kein Recht auf Einflusszonen
Der Forderung Russlands nach einer Art Abstandsgarantie der Nato erteilt die Süddeutsche Zeitung eine Absage:
„Eine solche Garantie kann es nie geben. Sie käme einer Aufteilung Europas in Einflusszonen gleich, der Kontinent fiele quasi in den Kalten Krieg zurück. Alle Staaten in der russischen Peripherie verlören das Recht, souverän über ihre politischen Allianzen zu entscheiden. Dabei ist die Ukraine nicht weniger frei, als es die Staaten des Baltikums sind. Sie suchen sich ihre Bündnispartner selbst aus und folgen keinem Diktat des Kreml. Unterstellung Nummer zwei - der Westen dringe auf Russland vor - ist ebenso wenig von der Realität gedeckt. Die Staaten Mitteleuropas wurden aus eigenem, souveränem Wunsch heraus Mitglied der Nato oder gar der EU. Niemand hat sie dazu gezwungen.“
Zerstörung der Weltordnung Schritt für Schritt
Moskau wird nicht aufhören, Forderungen zu stellen, prophezeit Rzeczpospolita:
„Es geht darum, ob der Kreml entscheidet, was der Westen tun darf und was nicht. Nur vordergründig geht es um die Ukraine. ... Als nächstes will der Kreml darüber entscheiden, welche Truppen in den baltischen Staaten oder in Polen stationiert werden dürfen. Vielleicht wird er fordern, dass das Kaliningrader Gebiet nicht mehr so isoliert vom Rest Russlands sein sollte. Und immer so weiter. Dieser Prozess ist unaufhaltsam. Es ist die Logik des östlichen Imperiums, das die gegenwärtige Weltordnung Schritt für Schritt zerstört.“
Russland will als ebenbürtig anerkannt werden
Echo Moskwy erklärt, was der Kreml erreichen möchte:
„Moskau möchte, dass es gehört wird und man mit ihm auf Augenhöhe spricht. Deshalb erhöht es ständig den Einsatz und wirft Scheite ins Feuer - und gießt für alle Fälle noch Öl nach. Das alles natürlich nicht für ein Treffen von Lawrow und Blinken und nicht dafür, dass die USA bereit sind, als Vermittler [zwischen Russland und der Ukraine] aufzutreten. Wir müssen erst noch mit Blinkens Boss sprechen. ... Erst dann kann man um Pipelines und Sanktionen feilschen und um ein paar für die USA und den Westen weniger grundlegende Dinge.“
Eskalation wäre katastrophal
Was jetzt geschehen müsste, skizziert The Times:
„Der Westen muss Russlands Getöse die Stirn bieten, Moskau ermutigen, Spannungen abzubauen, das dem Untergang geweihte Minsker Abkommen zur Ukraine wieder beleben und Lawrow - einem professionellen und pragmatischen Diplomaten - einen gesichtswahrenden Grund geben, um die Deeskalation und einen neuen europäischen Sicherheitsakt voranzutreiben. Mehr als 14.000 Menschen wurden in den sieben Jahren des Konflikts in der Ukraine getötet. ... Das ist kein weit entfernter Konflikt. Es ist ein europäischer Brennpunkt, der eine katastrophale militärische Eskalation auslösen könnte, wenn nicht alle Seiten die Gefahren verstehen und darauf reagieren.“
Die Ukraine ist stärker als je zuvor
Russland sollte sich genau überlegen, ob es die Ukraine angreift, rät Latvijas avīze:
„Wenn man ukrainische Militäreinheiten besucht, wird jede Person auch mit wenig militärischem Wissen feststellen, dass der Aggressor kein leichtes Spiel haben wird. Der Krieg dauert schon fast acht Jahre und diese Jahre sind nicht einfach so verstrichen. Die ukrainischen Armeebrigaden werden von erfahrenen Obersten geführt, die von Dutzenden, ja Hunderten erfahrener Soldaten und Offiziere begleitet werden. Und die Versorgung der Armee hat sich deutlich verbessert. ... Im Fall eines Großangriffes könnte die riesige Menge an Särgen, die nach Russland zurückgebracht werden müssen, dem Kreml arg zusetzen. Das sollte die Hitzköpfe in Moskau abkühlen.“