Neue Bundesregierung: Was erwartet Europa?
Deutschland hat eine neue Regierung. Am Mittwoch nahmen Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und sein Kabinett der Koalition mit Grünen und FDP die Geschäfte auf. Europas Presse beobachtet prüfend, in welche Richtung sich die EU durch den Neubeginn in Berlin bewegen wird.
Für die Türkei steht die Ampel auf Rot
In Bezug auf einen EU-Beitritt der Türkei sollten in diese Koalition keine allzu großen Hoffnungen gesetzt werden, kommentiert Hürriyet:
„Denkt man an die konstruktive Haltung, die der ehemalige Kanzler Schröder in Bezug auf eine Vollmitgliedschaft der Türkei zeigte, kann es auf den ersten Blick zwar ermutigend wirken, dass erneut ein sozialdemokratischer Kanzler in Deutschland das Amt übernommen hat, allerdings ist es nicht sehr realistisch, dass wir dieselben warmen Schwingungen von Scholz empfangen werden. Die Grünen, die während der Schröder-Periode Koalitionspartner waren und zu jenem Zeitpunkt die Vollmitgliedschaft kräftig unterstützten, sind ebenfalls wieder in der Regierung. Jedoch kann die Zurückhaltung der Sozialdemokraten insbesondere ihnen zugeschrieben werden.“
Stresstest für Achse Berlin-Paris
Annalena Baerbocks klimapolitische Ambitionen werden zu Reibungen mit Frankreich führen, ahnt der Rumänische Dienst der Deutschen Welle:
„Frankreich deckt 70 Prozent seiner nötigen Energie über Atomreaktoren ab und hat nichts übrig für radikale ökologische Diktate, wie die Entscheidung von Angela Merkel, auf die Tragödie in Fukushima damit zu reagieren, dass Deutschland alle seine AKWs - vielleicht die sichersten der Welt - aufgibt. … Zudem hat Frankreich, dem es wirtschaftlich schon lange nicht mehr gut geht, sich von der Linken und dem Progressivismus mit all seinem radikalen Umweltbewusstsein verabschiedet. Im aktuellen Präsidentschaftswahlkampf buhlen nicht weniger als drei Kandidaten, die sich auf de Gaulle berufen, mit echten Chancen um eine wachsende Wählerschaft rechts der Mitte. Das wird auch Emmanuel Macron unter Zugzwang bringen.“
Ein starkes Europa wehrt sich
Die Frankfurter Allgemeine Zeitung hofft, dass Baerbocks in Paris geäußertes Versprechen, Deutschland wolle den EU-Ländern ein verlässlicher Partner sein, nicht nur so daher gesagt war:
„[Es] muss auch dann gelten, wenn innenpolitische Kräfte in andere Richtungen drängen, ob in der Außenwirtschafts- oder in der Verteidigungspolitik. Wenn Deutschlands wichtigstes Interesse ein starkes Europa ist, wie Baerbock sagt, dann muss es als stärkstes Land entsprechend 'investieren'. Im Moment unternimmt China einen Rachefeldzug gegen das EU-Mitglied Litauen wegen dessen Haltung zu Taiwan. Ein starkes Europa lässt sich weder spalten noch in einer Unterwerfungsrolle zwingen. Es muss sich wehren. Die Stärkung der Wehrhaftigkeit der europäischen Demokratien muss das Ziel der neuen Bundesregierung sein.“
Geopolitisches Bad Godesberg
Die SPD braucht einen Modernitätsschub, ähnlich dem Godesberger Programm von 1959, als sich die Partei von einer sozialistischen Arbeiter- zur Volkspartei entwickelte, meint Philosoph Angelo Bolaffi in La Repubblica:
„Olaf Scholz muss mit der Kompromiss- und Verzögerungslogik brechen, die die langen Jahre der Großen Koalition prägte. ... Scholz ist aufgerufen, etwas zu vollziehen, was einer regelrechten Revolution des deutschen politischen Handelns auf der internationalen Bühne gleichkommt, eine Art 'geopolitisches Bad Godesberg'. Zusammen mit dem Italien von Mario Draghi und Macrons Frankreich wird die Regierung Scholz Europa bei den europäischen Entscheidungen in militärischen, technologischen und kulturellen Fragen lenken müssen, um ein eigenes Modell sowohl gegenüber dem 'Gegner' China als auch gegenüber dem 'Verbündeten' USA zu definieren.“
Deutschland muss robuster auftreten
Der wahre Härtetest für Scholz wartet in der Außenpolitik, meint Der Tagesspiegel:
„Man kann verstehen, warum der neue Kanzler da Kontinuität verspricht, in auffallendem Gegensatz zur Innenpolitik. Man möchte aber zugleich hoffen, dass er das nicht ernst meint. ... Merkels Dialog mit Russland und China war richtig, um den Schaden zu begrenzen. Aber er reicht nicht als Zukunftsstrategie für eine konfliktreiche Welt. ... Deutschland und Europa müssen robuster auftreten, um ihre Interessen zu verteidigen. Das erwarten auch die EU-Partner und die USA von Scholz. Je früher er einkalkuliert, dass seine Regierung an einer Vernachlässigung der Außenpolitik scheitern kann, desto mehr Freiraum bleibt ihm für eine erfolgreiche Innenpolitik.“
Paris sollte auf EU-Ambitionen der Ampel eingehen
L'Opinion drängt:
„Der Koalitionsvertrag legt die Latte sehr hoch. Er plädiert beispielsweise für 'eine Weiterentwicklung der EU zu einem Bundesstaat', ein Wort, das in Frankreich tabu ist. … Es ist nicht sicher, dass diese gewagten Ideen in Paris, wo man eine Blau-Weiß-Rot geprägte EU vorzieht, Begeisterung auslösen. Ihre Umsetzung würde nämlich mit Sicherheit die Führungsposition Berlins bestätigen, wo man versichert, dass 'wir als größter Mitgliedstaat unsere besondere Verantwortung in einem dienenden Verständnis für die EU als Ganzes wahrnehmen'. Jetzt ist Frankreichs Präsident am Zug.“
Gegenwind für Visegrád
Die Ost-Mitteleuropäer werden mit der Regierung Scholz zu schaffen haben, fürchtet Echo24:
„Die Koalition von Scholz wird sich die Visegrád-Staaten - anders als Merkel - richtig zur Brust nehmen. Die Auszahlung der Gelder aus dem Pandemie-Wiederaufbaufonds hänge auch von einer zufriedenstellenden Beilegung der Streitigkeiten der EU-Kommission mit Warschau und Budapest ab, heißt es. Merkel hat sich aus Anstand und einem Gefühl für Geschichte heraus nie so brutal verhalten. ... Aber die Richtung war schon unter ihr deutlich: etwa Projekte wie die CO2-Neutralität energisch voranzutreiben, ungeachtet der Kosten und ohne Rücksicht auf die ärmeren Mitgliedstaaten im Osten. Jetzt, wo Angela Merkel geht, ist es, als ob sich der Nebel auf dem Schlachtfeld lichtet.“
Berlin und Budapest müssen sich weiter respektieren
Die deutsch-ungarischen Wirtschaftsbeziehungen müssen Priorität über politische Differenzen behalten, fordert die regierungsnahe Magyar Nemzet:
„Auch die ungarisch-deutschen Beziehungen müssen daraufhin angepasst werden, dass in Berlin von jetzt ab eine linke Regierung im Amt ist, deren Standpunkt dem der ungarischen Regierung in Grundfragen radikal entgegensteht. ... Jedoch liegt der moralische Vorteil bei demjenigen, der dem gegenseitigen Respekt wenigstens eine Chance gibt, selbst wenn dies wohl keine große Liebesbeziehung wird. Man sollte nicht vergessen, dass gerade im ungarisch-deutschen Verhältnis das Riesengewicht der wirtschaftlichen Verflechtung die zwingende Kraft ist und nicht eine vorübergehende politische Laune.“