Was Europa vom Ampel-Kabinett erwartet
In Deutschland hat die geplante Ampel-Koalition aus SPD, Grünen und FDP ihren Koalitionsvertrag vorgestellt. Auch das künftige Kabinett nimmt Formen an. Was Europa von einem sozialdemokratischen Kanzler Olaf Scholz, einer grünen Außenministerin Annalena Baerbock und einem liberalen Finanzminister Christian Lindner zu erwarten hat, erörtert die Presse.
Speerspitze gegen Autoritarismus
El País ist beeindruckt vom Koalitionsvertrag:
„Deutschland wird den europäischen Gedanken am Beispiel seiner Sozial-, Gleichstellungs-, Umwelt- und Digitalpolitik beispielhaft leben. ... Es reicht nicht mehr aus, Krisen zu managen, wie es Merkel gelungen ist. Jetzt ist eine weniger anpassungsfähige und anspruchsvollere Haltung erforderlich, insbesondere gegenüber Partnern wie Ungarn und Polen, die nicht freiheitlich eingestellt sind und ihr Wort nicht halten. Der Koalitionsvertrag ist das Bild einer demokratischen Gemeinschaft angesichts der autoritären Allianz, die unter der Führung von Moskau und Peking geschmiedet wurde - ein umfangreiches, ehrgeiziges Programm.“
Schützenhilfe für Athen nur vorrübergehend?
Athen fordert von Berlin eine kritische Positionierung gegenüber Ankara. Der Journalist Babis Koutras ist skeptisch, ob die neue Bundesregierung ihre Ideale gegen wirtschaftliche Interessen durchsetzen kann, wie er für Proto Thema schreibt:
„Deutschlands neue grüne Außenministerin Annalena Baerbock hatte sich klar hinter die griechische Position gestellt und sogar gefordert, den Bau der sechs türkischen U-Boote in deutschen Werften zu stoppen. ... In Athen glaubt man, dass eine solche Entwicklung zu schön ist, um wahr zu sein und dass bald Abschläge von dieser Position gemacht werden. Die wirtschaftlichen Interessen Deutschlands in der Türkei sind so groß und die Präsenz der Türken in Deutschland so stark, dass sie keine ehrgeizigen Ziele zulassen.“
Jetzt auf der Modernisierungswelle mitreiten!
Der Amtsantritt der Ampel-Koalition in Berlin birgt für Tschechien große Chancen, ist Deník überzeugt:
„Wir haben uns in den letzten 30 Jahren an Deutschland heran gearbeitet, auch wenn wir bei Gehältern beispielsweise noch weiter entfernt sind, als wir uns vorgestellt hatten. ... Als wirtschaftlich de facto eines der Bundesländer bekommt Tschechien jetzt die Riesenchance, auf der deutschen Modernisierungswelle mitzureiten. Verbinden wir unsere Hochgeschwindigkeitszüge mit den neuen deutschen, schließen wir uns der grünen Energiewelle an, profitieren wir vom Bau- und Bildungsboom in Deutschland! Oder wir entscheiden uns für den 'tschechischen Weg' und bleiben, wie wir sind. Aber dann sollten wir auch die deutschen Gehälter für immer vergessen.“
Schlechte Aussichten für Orbán und Co.
Die Ampel wird autoritären Bestrebungen in der EU entgegentreten, erwarten die Salzburger Nachrichten:
„[Der Koalitionsvertrag] liest sich streckenweise wie ein Reformprogramm für die Europäische Union. Zu einem 'föderalen Bundesstaat' solle sich die EU weiterentwickeln; eine enge Zusammenarbeit von Armeen reformbereiter Staaten möge entstehen; Brüssel solle vor allem 'konsequenter und zeitnah' gegen die Aushöhlung des Rechtsstaats vorgehen. ... Das alles sind keine guten Nachrichten für Viktor Orbán in Budapest, für Mateusz Morawiecki in Warschau und Janez Janša in Laibach. ... Dass der Rest Europas so lange zugesehen hat, wie [Orbán] und andere den Rechtsstaat Stück um Stück aushöhlten, hat auch mit Angela Merkel und vielen aus der Familie der Europäischen Volkspartei zu tun.“
Gegen Antidemokraten und für mehr Integration
Der Vertrag trägt eindeutig eine grüne Handschrift und ist richtungsweisend für Europa, meint Público:
„Er ist ein Sieg für die Grünen unter Annalena Baerbock, die selbst das Außenministerium übernehmen soll, was eine größere Konfliktfähigkeit gegenüber den Ambitionen Chinas und Russlands und die kompromisslose Verteidigung der europäischen Werte gegenüber dem aufkommenden Populismus und der Bedrohung der Rechtsstaatlichkeit erwarten lässt. Die Idee von Deutschland als großem Integrations- und Aufnahmeland, die in der jetzt vorgestellten Vereinbarung ebenso zum Ausdruck kommt, setzt ein klares Zeichen für den Weg, den Europa nehmen muss.“
Keine Angst vor Christian Lindner
Der neue deutsche Finanzminister kocht auch nur mit Wasser, erinnert Protagon:
„Was die Wirtschaft anbelangt, insbesondere im Hinblick auf die Anpassungsmaßnahmen nach der Pandemie und die Rückkehr zur Fiskaldisziplin, hat die Übernahme des Finanzministeriums durch Christian Lindner in ganz Europa beinahe Panik ausgelöst. ... Es sollte jedoch klar sein, dass Lindner, so sehr er auch als finanzpolitischer 'Falke' auftreten möchte, bei weitem nicht die politische Schlagkraft eines Wolfgang Schäuble hat. Als Deutscher wird er natürlich eine führende Rolle in der Eurogruppe und bei Ecofin [Rat für Wirtschaft und Finanzen des Europäischen Rats] spielen, aber gleichzeitig gibt es Draghi und Macron in Europa und Lagarde bei der EZB, mit allem, was das mit sich bringt.“
Kopenhagen begrüßt Berlin bei den Sparsamen
Die dänische Regierung wird vor allem mit dem liberalen Finanzminister Lindner gut zurechtkommen, prophezeit Jyllands-Posten:
„Er kann sein Veto gegen alle Gesetze einlegen und reiht sich nahtlos in die Reihe der knallharten deutschen Finanzminister ein. ... Mit Lindner wird es keine kopflosen Kapitaltransfers nach Südeuropa geben, und Deutschland wird mit ihm de facto - aber nicht formell - in die EU-Sparbande eintreten, zu der auch Dänemark gehört. Die gemeinsame EU-Verschuldung nach der ersten Corona-Krise wird sich kaum wiederholen. Auch hierzu wird [die sozialdemokratische dänische] Premierministerin Mette Frederiksen zufrieden nicken. “
Baerbock wird Moskau Kummer bereiten
Dass künftig eine Grüne die deutsche Außenpolitik bestimmt, wird die Spannungen mit dem Kreml verschärfen, warnt die Politologin Jewgenia Pimenowa in Iswestija:
„Man kann das kaum als hoffnungsvollen Umstand für Russland sehen. Bei den Grünen spielt der Faktor Werte eine wichtige Rolle in der politischen Entscheidungsfindung. Und gerade auf 'ideologischer' Front hat diese Partei am meisten Vorbehalte gegenüber Moskau. Es geht ihnen sowohl um Umweltprobleme als auch um eine Liberalisierung im Umgang mit diversen Minderheiten. ... Zudem hat sich Frau Baerbock schon als recht scharfe Russland-Kritikerin hervorgetan. Mir scheint, es ist damit zu rechnen, dass das für uns negative Nachrichtenbild noch dichter wird.“
Scholz wird mit Warschau weniger Geduld haben
Auch Polen sollte sich auf eine klare Kante gefasst machen, meint Rzeczpospolita:
„Für Angela Merkel war es eine Priorität, die Länder Mitteleuropas und vor allem Polen in der Gemeinschaft zu halten. ... Aber die Regierung von Olaf Scholz setzt auf etwas anderes: die Identität der EU als Union demokratischer und rechtsstaatlicher Staaten zu bewahren, auch wenn das bedeutet, dass sie einige ihrer Mitglieder verliert. ... Das bedeutet, dass das Spiel, das die polnische Regierung seit sechs Jahren mit Brüssel spielt, noch gefährlicher wird. ... Jetzt wird Berlin andere EU-Hauptstädte nicht mehr davon überzeugen können, gegenüber Warschau Zurückhaltung zu üben, und ein gescheiterter Kopfsprung der polnischen Regierung könnte in einem brutalen Polexit-Sturz enden.“
Da steckt Power drin
Die ehrgeizigen gemeinsamen Ziele der Koalitionspartner stimmen NRC Handelsblad optimistisch:
„Die drei haben ein digitaleres, nachhaltigeres und sozialeres Deutschland im Blick und erwecken vorerst noch den Eindruck, dass sie sich dafür gemeinsam einsetzen wollen. ... Die neue Regierung ist ausgesprochen pro-europäisch. Sie strebt einen föderalen europäischen Staat an und mehr Befugnisse für das europäische Parlament. ... Auch Deutschland erkennt die Bedeutung eines wirtschaftlich und technologisch starken Europas im geopolitischen Machtkampf. ... Koalitionsverträge stehen immer voller Versprechen und haben es oft schwer in der Realität. Aber sollte es den Dreien gelingen, ihr Programm im Kern umzusetzen, dann ist Deutschland in vier Jahren ein anderes Land.“
Neues Gleichgewicht
Ouest-France sieht den neuen Koalitionsvertrag als gute Basis für die europäische Zusammenarbeit:
„Was Europafragen betrifft, wird der am Mittwoch veröffentlichte Koalitionsvertrag das Lager von Emmanuel Macron zufriedenstellen, da die neue Koalition einige französische Ideen teilt. Transnationale Listen bei den Europawahlen, ein Initiativrecht des Europäischen Parlaments, Reformen auf Grundlage der Konferenz zur Zukunft Europas, Achtung der Rechtsstaatlichkeit. Die neue Regierung ist bereit, Vertragsänderungen vorzunehmen und die strategische Souveränität Europas voranzubringen. Die Vorbehalte der CDU gegenüber vielen dieser Themen scheinen überwunden zu sein - zumindest auf dem Papier.“
Kommt wieder diese orthodoxe Sparpolitik?
Auf Europa könnte wieder mehr Austeritätspolitik zukommen, warnt El Mundo:
„Die deutsche Politik zeichnet sich seit langem durch einen Pragmatismus aus, der es ihr nicht nur ermöglicht, solide Koalitionen zwischen Parteien aus sehr unterschiedlichen Spektren zu schmieden, sondern auch ihre Regierungen mit außergewöhnlicher Stabilität und Effizienz auszustatten. ... Der Schlüssel dazu ist das Finanzministerium, das der Vorsitzende der Liberalen, Christian Lindner, übernehmen wird. Dies ist eine Botschaft an die EU-27 als Ganzes: Es ist an der Zeit, über eine Rückkehr zur wirtschaftlichen Orthodoxie nachzudenken. Im [spanischen Regierungssitz] Moncloa gibt es Grund zur Sorge.“
Auf die Kriechspur verbannt
Die neue Regierung wird Deutschland nicht die Wirtschaftsreformen bringen, die das Land so dringend braucht, fürchtet The Spectator:
„Wir sind an das Klischee gewöhnt, dass Deutschland führende Kraft der Eurozone mit der mächtigsten Wirtschaft sei. ... Und doch ist diese Ansicht zunehmend veraltet. Deutschland droht, zur schwächsten der großen Volkswirtschaften des Blocks zu werden. Dabei wird sich die Macht unweigerlich von Berlin nach Paris und Rom verlagern. Früher oder später werden die Deutschen einen Kanzler wählen, der die Wirtschaft reformiert und wieder in Gang bringt. Olaf Scholz wird das nicht sein - und auch nicht die zänkische Koalition, die er vorgestellt hat. Sie wird das Land auf die Kriechspur verbannen.“
Historische Schuld hinter sich lassen
Berlin muss vor allem geopolitisch mehr Farbe bekennen, fordert La Repubblica:
„Es sollte die Aufgabe Deutschlands sein, über die Schattenlinie der historischen Schuld zu springen, indem es ein halbes Jahrhundert 'unantastbaren' Pazifismus zu den Akten legt. Und die Führung eines Europas übernimmt, das seine Aufgabe in einer Welt neu definieren muss, die sich von der Welt nach dem Zweiten Weltkrieg völlig unterscheidet. … Vor allem kann sich die künftige deutsche Regierung nicht darauf beschränken, als unflexibler Hüter der europäischen Verträge im Namen der Wirtschaft aufzutreten, wenn doch das Schicksal Europas heute unwiderruflich vom Primat der Geopolitik abzuhängen scheint.“
Durch Krisen beschleunigt
Jutarnji list begrüßt die schnellen Verhandlungen und erinnert an die verschiedenen Probleme, mit denen sich Europa konfrontiert sieht:
„Die Krise des Gesundheitswesens tobt durch Europa und droht mit einem neuen Schlag gegen die Wirtschaft. Eine geschäftsführende Regierung hat da nur begrenzte Befugnisse. Der Winter klopft an die Tür und die Energie-Lage in Europa ist bedroht. ... Wladimir Putin rasselt mit den Waffen an der ukrainischen Grenze und spielt Psychokrieg mit den USA, während Europa beobachtet und nicht weiß, was tun. ... Paris und Rom wollen die Schuldengrenze auf 100 Prozent des Bruttoinlandsproduktes anheben. Und die deutsche Ampel-Koalition einigte sich, Verschuldung auf lokalem Niveau zu stoppen. Es gibt keine Zeit zu verlieren.“