"Winter des Unmuts" treibt Europäer auf die Straße
Hunderttausende Menschen führen in Großbritannien den größten Arbeitskampf seit mehr als zehn Jahren. Über eine Million Franzosen demonstrierte gegen die geplante Rentenreform. Sorgen über steigende Lebenshaltungskosten, bezahlbaren Wohnraum und ausreichende Gesundheitsversorgung nehmen in ganz Europa zu. Zu Recht?
Preise steigen, Löhne nicht
Die Menschen haben allen Grund für ihre Proteste, findet Duma:
„Arbeiter aller Berufe auf dem ganzen Kontinent erheben sich und werden dies auch weiterhin tun, um ihren Regierungen zu zeigen, dass etwas nicht stimmt. Es kann nicht angehen, dass die Preise aller Waren und Dienstleistungen steigen, doch die Löhne nicht. Dem spanischen Premier Pedro Sánchez gebührt Lob dafür, dass er 14 Gehälter auszahlen lässt und den Mindestlohn, wenn auch geringfügig [um 8 Prozent], angehoben hat. Wenn die Löhne in einer Branche steigen, müssen alle andern folgen. ... Ärzte sind genauso wichtig wie Lehrer, Verkäufer, LKW-Fahrer und Postboten. Sie alle sind Dienstleister und Konsumenten zugleich. Auf der anderen Seite stehen diejenigen, die nur an ihre Bankkonten und Dividenden denken.“
Verwöhnte Egoisten
Kein Verständnis für die aktuellen Streiks im britischen Bildungs- und Gesundheitssektor zeigt The Sun:
„Wenn Menschen in der Privatwirtschaft mit einer Krise der Lebenshaltungskosten konfrontiert werden, dann schnallen sie im Großen und Ganzen einfach den Gürtel enger und sitzen die Krise aus. Werden Menschen aus dem öffentlichen Sektor mit der gleichen Situation konfrontiert, dann fordern sie mehr Geld und bekommen das in der Regel auch. Wenn nicht, dann streiken sie. Ungeachtet dessen, dass sie große Vorteile wie großzügige Renten und eine oft kürzere Arbeitswoche aus ihrer Tätigkeit ziehen. ... Die Beschäftigten im öffentlichen Dienst zwingen das Land in die Knie. Und die Hauptgründe dafür sind Gier und Egoismus.“
Generalstreiks könnten bald folgen
Adevărul-Kolumnist Cristian Unteanu sieht Europas Regierungen in der Defensive:
„Die zahlreichen Krisen, die sich in jüngster Zeit überschnitten haben, haben gezeigt, dass die Reaktionsfähigkeit der Regierungen immer stärker begrenzt ist und weiter abnimmt, so dass ihnen als letztes Mittel - das sie auch einsetzen - nur noch die Anwendung von Gewalt oder legislative Tricks bleiben, um die Rechte der Gewerkschaften abzubauen. In einigen Ländern mit demokratischer Tradition reagieren die Leute und die Gewerkschaften darauf und gehen wieder auf die Straße, um mit großen nationalen Protestdemonstrationen zu zeigen, dass sie kurz davor sind, in die letzte und mittlerweile sehr wahrscheinliche Phase einzutreten: einen unbefristeten landesweiten Generalstreik.“
Der Elite fehlt das Einfühlungsvermögen
Die britische Regierung repräsentiert die Bevölkerung doppelt schlecht, kritisiert The Guardian:
„Eltern wollen nicht, dass ihre Kinder in unterfinanzierten Schulen unterrichtet oder von entmutigten Krankenschwestern auf überfüllten Krankenstationen behandelt werden. Alle verspüren den gleichen langanhaltenden Druck, der auf den Einkommen lastet. Zumindest fast alle. Eine kleine Minderheit ist wohlhabend genug, um sich gegen diesen Druck, der auf gewöhnlichen Menschen lastet, abzuschirmen. Diese soziale Schicht, die Glück hat, ist in Sunaks Kabinett überrepräsentiert. Das mag einige der politischen Fehlentscheidungen um diese Streiks erklären, aber auch ein Mangel an strategischer Kompetenz dürfte eine Rolle spielen.“
Irland könnte es Großbritannien nachmachen
Die britische Streikwelle wird die Grüne Insel nicht kalt lassen, glaubt Irish Examiner:
„Die derzeitige Unzufriedenheit in Irland hat eine Vielzahl von Ursachen und viele davon ähneln denen in Großbritannien: Probleme mit dem Wohnraum, der katastrophale Zustand der Gesundheitsversorgung, die Krise um die Lebenshaltungskosten, die Bedrohung durch Rechtsextreme, der Druck, der auf staatlich finanzierten Diensten lastet. ... Das wirft die Frage auf: Könnte ein großangelegter Arbeitskampf ein Weg sein, um einige dieser Probleme zu lösen? Wäre der irische Gewerkschaftssektor in der Lage, das in diesem Maß zu koordinieren? Fragen, die an Relevanz gewinnen könnten, wenn sich die Streiks in Großbritannien als erfolgreich erweisen sollten und als Vorlage verstanden werden.“
Politische Extreme geben den Ton an
Público hat seine Zweifel, ob die breite Wahrnehmung der Lage angemessen ist:
„Portugal hat sich von einer Oase der Stabilität in ein Beispiel sozialer und politischer Spannungen verwandelt. ... Die Gefahr dieses politischen Kontextes ist real, wenn der Protest bei der Eroberung der Straßen die Mäßigung und den Geist des Kompromisses, die den Erfolg von Demokratien ausmachen, außer Kraft setzt. ... Nur die Ruhe, bitte! Dem Land ging es auch nicht so gut, als es noch keine sozialen Unruhen gab, und es ist auch jetzt nicht so schlimm, dass die Nachrichten nur vom Abgrund handeln müssen. Was passiert, ist, dass die politischen Extreme die ganze Aufmerksamkeit erreichen und die Befürworter demokratischer Verhandlungen überhaupt keine Bühne haben.“
Investitionen bremsen Rezession
Polen kommt alles in allem gut durch die Krise, urteilt Tygodnik Powszechny:
„Das vergangene Jahr war von einer Krise der Lebenshaltungskosten geprägt und wirtschaftliche Themen beherrschten die Schlagzeilen wie nie zuvor. ... Die Krise wird sich allmählich auch auf den Arbeitsmarkt auswirken, auch wenn wir derzeit eine rekordverdächtig niedrige Arbeitslosigkeit verzeichnen. ... Der Anstieg der Arbeitslosigkeit wird durch das nach wie vor große Interesse ausländischer Unternehmen an Investitionen in Polen gebremst. ... Höchstwahrscheinlich wird es in Polen zu einer Art Rezession kommen, aber die Chancen stehen gut, dass diese nicht lange andauern und eher flach ausfallen wird.“
Das Schlimmste ist überstanden
Wir brauchen noch etwas Durchhaltevermögen, erläutert Le Quotidien:
„Die Inflation wird weiter zulegen. Der Sturm ist noch nicht vorüber und eine Beruhigung der Lage wird vielleicht für Anfang 2024 erwartet. Ja, das ist noch in weiter Ferne. ... In den kommenden elf Monaten wird uns nicht nur der Preisanstieg beschäftigen. Die galoppierende Inflation setzt langsam auch der Wirtschaft zu. ... Die Beschäftigungslage dürfte sich verdüstern, was sich bereits an den jüngsten Arbeitsmarktzahlen für Luxemburg ablesen lässt. Doch wir haben die größten Herausforderungen überstanden. … Es sei denn, weitere schlechte Nachrichten aus Osteuropa stören dieses anfällige Gleichgewicht.“
Arroganz der Regierung gefährlich für Demokratie
Mediapart verurteilt, wie Paris auf die Proteste gegen seine Rentenreform reagiert:
„Das Vorhaben Emmanuel Macrons ist ungerecht und brutal. … Die Regierung weiß, dass sie den Kampf um die öffentliche Zustimmung bereits verloren hat und trotzdem möchte Macron die Reform zum Markenzeichen seiner zweiten Amtszeit machen. … Eine Regierung, die nicht auf die riesigen Proteste in ganz Frankreich reagiert, die die acht Gewerkschaften der Arbeitnehmer*innen verachtet, den Widerstand aus allen sozialen Schichten übersieht und die Oppositionsparteien ignoriert, könnte zu viele Bürgerinnen und Bürger in die Arme der extremen Rechten treiben. … Es ist dringend notwendig, dieser demokratischen Gefahr entgegenzuwirken.“
Ohne Tricks aufklären
Die französische Regierung sollte ihre Ziele der breiten Öffentlichkeit klar vermitteln, meint der ehemalige Wirtschafts- und Finanzminister Jean Arthuis in Ouest-France:
„Es ist an der Zeit, Licht in den öffentlichen Raum zu bringen und den Franzosen die allgemeine Lage schonungslos zu erklären. Die großen Reformen bezüglich der Arbeitslosenversicherung oder der Renten sind angesichts unserer finanziellen Lage gerechtfertigt. Die Regierung muss die Öffentlichkeit aufklären, und zwar ungeschminkt und ohne Kommunikationstricks. Frankreich hat alle Trümpfe in der Hand, um den vorherrschenden Konservatismus zu überwinden und mit Zuversicht in die Zukunft zu blicken. Es ist eine Frage der Klarheit, der Solidarität und des Mutes.“
Europa ist ein brodelnder Topf
Naftemporiki schreibt:
„Während in Frankreich die Rentenreform im Mittelpunkt der Arbeits- und Sozialunruhen steht, schüren in Großbritannien hohe Preise und Inflation weiterhin den 'Winter der Unzufriedenheit', mit Streiks, die an die Unruhen Anfang der 1970er Jahre erinnern. Damals war Labour [als regierende Partei] mit der sozialen Unzufriedenheit konfrontiert. Es war die Zeit, in der der Stern von Margaret Thatcher aufging, die die Konservative Partei und das politische Leben Großbritanniens für viele Jahre dominieren sollte. Jetzt sind es die Konservativen. Die größte britische Gewerkschaft Unite hat für Februar und März zu einer Reihe von Streiks aufgerufen. ... Europa ist ein brodelnder Topf.“