Deutscher Atomausstieg: Gemischtes Echo in Europa
Deutschlands Atomausstieg ist vollzogen: Nach einer dreieinhalbmonatigen Laufzeitverlängerung wurden am 15. April um 23:59 Uhr die drei letzten deutschen Kernkraftwerke abgeschaltet. Andere europäische Staaten setzen hingegen weiter auf die Technologie, die im Zuge der Klima- und Energiekrise zuletzt wieder mehr Befürworter gewonnen hat, oder planen wie Polen gar den Einstieg. Das spiegelt sich auch in den Kommentarspalten.
So ambitioniert wie verwirrend
Český rozhlas wundert sich:
„Was passiert da in Deutschland, dessen rund drei Dutzend Kernkraftwerke im vergangenen halben Jahrhundert keine einzige größere Störung hatten und traditionell an der Spitze der internationalen Sicherheitsrangliste standen? Und wie passt das Image Deutschlands als treibende Kraft im Kampf gegen den Klimawandel dazu, dass man vergangenes Jahr die Produktion seiner Kohlekraftwerke um mehr als acht Prozent steigern musste, um seine Energie zu sichern? ... Am Ende hat sich die Überzeugung durchgesetzt, dass es sich um eine veraltete Technologie handele, in die es keinen Sinn mache, weitere Milliarden zu stecken. Und je früher Deutschland dieses Kapitel abschließe, desto schneller werde es die erneuerbaren Energien ausbauen. ... Hoffentlich endet der ambitiöse Plan nicht wie ein Sprung aus dem Flugzeug ohne Fallschirm. “
Alleingang kein Vorbild
Die Aargauer Zeitung empfiehlt den deutschen Weg nicht zur Nachahmung:
„Dem Land ist mit der Abschaltung der Meiler freilich nicht gedient, ja nicht einmal dem Klima: Der Anteil schmutziger Kohlekraftwerke an der deutschen Stromerzeugung nimmt durch den Atomausstieg zu, auch weil die Bundesrepublik mittlerweile auf russisches Gas verzichtet. So werden Kernkraftwerke ausgemustert, die als sicher und modern gelten, während in Frankreich oder der Tschechischen Republik Meiler weiterlaufen, deren Zustand Anlass zur Sorge gibt. ... In Europa steht die Bundesrepublik einsam da: Polen will in die Kernkraft einsteigen; Schweden, das einmal aussteigen wollte, plant neue Reaktoren. ... Deutschland wäre gerne Vorbild. Aber die Welt folgt ihm aus guten Gründen nicht.“
Ausstieg wird Deutschland stärken
Mittel- und langfristig wird Deutschland mit seiner Strategie zu den Gewinnern zählen, glaubt das Tageblatt:
„Das Land zwingt sich nun, die Erneuerbaren und das dafür benötigte Umfeld schnell auszubauen. Teure Importe von Energie dürften somit bald der Vergangenheit angehören. Das wird das Land wirtschaftlich stärken. Bereits 2030 will Deutschland 80 Prozent seines Stroms aus erneuerbaren Energien erzeugen. In Frankreich hingegen fehlt es an der Einsicht, dass diese Art der Energiegewinnung [Atomkraft] nicht die Lösung ist. ... Deutschland steht nun in der Verantwortung: Der Welt zeigen, dass es auch ohne geht.“
Dieser Schritt ändert alles
Diário de Notícias sieht hinter der Ausstiegsentscheidung gute wirtschaftliche Gründe:
„Wir wissen heute, dass die Produktionskosten pro Kilowattstunde Strom aus erneuerbaren Energiequellen - im Falle der Windkraft und der Photovoltaik - im Vergleich zur Kernenergie bereits ein Drittel betragen. Und sie werden weiter sinken. ... Die Entscheidung Deutschlands erscheint vernünftig und setzt stark auf die Vorzüge der erneuerbaren Energien als Alternative, die bekanntlich noch mit der Frage der Speicherung und der Verteilung zu kämpfen haben. Eines ist sicher: Mit diesem Schritt Deutschlands wird nichts mehr so sein wie bisher. “
Mehr Atomkraft nötig
Zeitgleich mit Deutschlands Abschied von der Kernkraft ging in Finnland Europas leistungsstärkster Atomreaktor Olkiluoto 3 ans Netz. Iltalehti freut sich:
„Finnland wird sich nun zum ersten Mal seit Jahrzehnten praktisch selbst mit Strom versorgen können. … Die Verbraucher können sich über die Fertigstellung von OL3 freuen. Schon während des Testlaufs wurde deutlich, dass das neue große Kernkraftwerk den Strompreis senkt. … Die Energiekrise von 2022 und der Klimawandel haben gezeigt, dass mehr Kernenergie benötigt wird. Für Megaprojekte wie OL3 ist die Zeit nun vorbei. Die nächste Regierung sollte daher die Genehmigungsverfahren flexibler gestalten, damit Finnland kleine Kernkraftwerke bauen kann. Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, um die Zukunft der Kernkraft voranzutreiben.“
Und jetzt bitte auch in Europa
Für die taz ist der deutsche Atomausstieg nur ein Etappensieg:
„In Europa gibt es noch immer viel zu viele Meiler, Frankreich und andere Staaten wollen künftig viel Geld in die viel zu gefährliche und auch viel zu teure Atomenergie stecken. Die deutsche Politik ist daran nicht unbeteiligt. Deutschland hat mitzuverantworten, dass im Zuge der sogenannten Taxonomie Atomkraft bei privaten Finanzinvestitionen als nachhaltig eingestuft wird. Die EU will allen Ernstes bei staatlichen Förderungen Atomkraft den erneuerbaren Energien gleichstellen – das muss die deutsche Regierung verhindern. Und nicht nur das: Sie hat jetzt über den verstaatlichten Energiekonzern und AKW-Betreiber Uniper ein Instrument, um auch in anderen Ländern den Ausstieg voranzutreiben. Sie muss es nur nutzen wollen.“
Grüner Pyrrhussieg
Für den Kurier ist es unverständlich, dass Deutschland aus der Atomenergie aussteigt, aus Kohle aber nicht:
„2022 kam ein Drittel des in Deutschland eingespeisten Stroms aus Kohlekraftwerken, ein Plus gegenüber dem Vorjahr von 8,4 %. Da fragen sich nicht nur Klimaschützer: Ja geht’s noch? Europa befindet sich in einer Energiekrise, der Ausstieg aus Putingas bereitet vielen Volkswirtschaften enorme Probleme. Und wir haben eine Klimakrise. Dennoch soll das letzte Kohlekraftwerk in Deutschland erst 2038 vom Netz gehen. ... Das Aus für Atomkraft ist Teil der grünen DNA, daher ist verständlich, dass Habeck daran festhält. Doch an diesem 'Sieg' wird Land und Klima noch lange leiden.“
Bulgarien hat noch nicht mal ein Endlager
E-vestnik begrüßt den deutschen Atomausstieg und macht sich Sorgen darum, wie Bulgarien mit seinem Atommüll umgeht:
„In Bulgarien herrscht der Glaube, dass Atommüll eine wertvolle Ressource sei. Wofür? Die Zukunft werde es zeigen. ... Man muss aber kein Atomphysiker sein, um zu wissen, wie gefährlich radioaktiver Abfall ist und dass es ein Problem ist, dass wir noch kein Endlager haben. Wir stapeln alles am Standort Kosloduj in einem Zwischenlager. Churchill sagte einst, Krieg sei eine zu ernste Angelegenheit, um sie den Militärs zu überlassen. Dasselbe gilt für Kernkraftwerke – sie können nicht allein den Energieexperten und Nuklearspezialisten überlassen werden, weil es nicht nur sie betrifft.“