Niederlande: Rutte zieht sich aus Politik zurück
Nach seinem Rücktritt als niederländischer Premier hat Mark Rutte seinen Rückzug aus der Politik angekündigt. Seine Regierung war am Freitag am Streit über den Familiennachzug Geflüchteter zerbrochen. Kommentatoren ziehen Bilanz über den am längsten regierenden Ministerpräsidenten des Landes und fragen sich, was die Zukunft bringen könnte.
Der böse Bube geht
La Vanguardia zieht Bilanz:
„Der ehemalige Premier ist einer der dienstältesten Politiker Europas und sein Name wurde regelmäßig als Kandidat für wichtige Positionen in der EU genannt. ... Auf dem Kontinent wurde er wegen seines fiskalischen Konservatismus zum bösen Buben der EU und zum Anführer der europäischen Sparpolitik. ... Rutte sorgte immer wieder für Spannungen mit den südlichen Ländern. ... Sein Rücktritt kam überraschend, obwohl seine letzte Regierung schon seit Monaten am seidenen Faden hing. Die Regierungskrise war klar, nicht aber, dass Rutte die Politik verlassen würde, denn bisher hatte er alle politischen Krisen überlebt. Sein Abgang sorgt im Land und in seiner Partei für Unsicherheit.“
Raum für neue Ideen
De Volkskrant meint:
„Das abschließende Urteil über die Ära Rutte wird am Ende eine Sache für Historiker sein und mit davon abhängen, wie es in den nächsten Jahren weiter geht mit der zersplitterten, bis ins Mark polarisierten niederländischen Politik. War er das letzte Bollwerk gegen das totale Chaos, wie seine Fans immer sagten, oder hat er es gerade mit angefacht mit seinem polarisierenden ersten Kabinett, mit unzureichend durchdachten Reformen in seinem zweiten Kabinett und mit dem Leugnen von gesellschaftlichen Missständen in seiner dritten Amtsperiode?... Ruttes angekündigter Abschied schafft Raum für neue Beziehungen und neue Ideen.“
Welch eine Überraschung
Dass einer der Kritiker Ungarns gerade an der Migrationsfrage gescheitert ist, quittiert die regierungsnahe Magyar Nemzet mit Schadenfreude:
„Es liegt ein Bild vom EU-Gipfel 2016 vor uns ... Das Foto von den Staats- und Regierungschefs zeigt einige politische Figuren, die damals unser Land wegen der Migration und des Grenzzauns gerne belehrt haben. Der ehemalige österreichische Bundeskanzler Werner Faymann zum Beispiel oder der schnoddrige italienische Premier Matteo Renzi. .... Doch sie sind durch die Falltür der Politik verschwunden. ... Mark Rutte, der einst sagte, die Ungarn müssten in die Knie gezwungen werden, wurde nun in die Knie gezwungen. Seine Regierung ist zusammengebrochen - welch eine Überraschung: wegen interner Meinungsunterschiede über die Migration.“
Fauler Kompromiss wurde vermieden
Der Fall der niederländischen Regierung kommt zwar zum ungünstigen Zeitpunkt, schafft aber auch Klarheit, meint De Telegraaf:
„Bis zum Antritt einer neuen Regierung werden keine einschneidenden Beschlüsse gefasst. Einer dieser Beschlüsse hätte ein neuer Ansatz in der Asylpolitik sein müssen. Der anhaltende Strom Asylsuchender setzt die Gesellschaft unter einen zu hohen Druck. Die gescheiterte Asylpolitik ist eines der größten Probleme dieser Zeit, aber gerade über diese Frage stolperte das Kabinett. Wie unglücklich der Fall des Kabinetts auch ist, jetzt herrscht Klarheit. Nach neun Monaten Gesprächen über eine neue Asylpolitik erweist sich die VVD als standhaft. Lieber der Fall des Kabinetts als ein fauler Kompromiss über die Asylpolitik.“
Neuwahl kann Ruttes politisches Ende bedeuten
Der nun geschäftsführende Premier Mark Rutte geht ein hohes Risiko ein, analysiert De Volkskrant:
„Er ließ sein eigenes viertes Kabinett fallen in der Hoffnung, dass er dafür ein besseres, rechteres Kabinett bekommen werde. ... Der größte Teil des Parlaments findet, dass Rutte weg muss. Und einer aktuellen Umfrage zufolge gilt das - zumindest zur Zeit - auch für die meisten Niederländer. Und so geht nicht nur Rutte, sondern auch die VVD ein enormes Risiko ein mit dem Erzwingen von Neuwahlen. ... Wenn die VVD unerwartet nicht die stärkste Kraft wird, ist das Drama für die Liberalen groß: Dann ist Ruttes Abzug aus der Politik wohl unvermeidlich.“
Migration muss politische Priorität werden
Das wichtigste Streitthema ist für La Libre Belgique offensichtlich:
„Kein europäisches Land kann mehr ignorieren, dass eine riesige und tiefgreifende Aufgabe geschultert werden muss. Die Zuwanderung muss nicht nur korrekt kontrolliert werden, sondern die Zuwanderer müssen auch weitaus intelligenter und inklusiver integriert werden, als das bislang geschieht. Extremistische Parteien reihen Wahlerfolg an Wahlerfolg, indem sie das Gegenteil glauben machen: dass die Zuwanderungsströme einfach gestoppt werden müssen. Das ist eine gefährliche Vereinfachung. Aus ethischer, sozialer und wirtschaftlicher Sicht hat die EU großes Interesse daran, Migration zu einer absoluten Priorität zu machen. ... Bleibt dies aus, wird sich die politische Landschaft weiter verdüstern.“
Einwanderung ist eigentlich nicht das Hauptthema
Die Migranten werden zum Sündenbock für den Fall der Regierung, befürchtet Jutarnji list:
„Die Niederländer plagen hohe Mieten und ein Wohnungsmangel, der hohe Preisanstieg von Erdgas und die Inflation. In dieser Situation ist es simpel, die Schuld auf fremde Einwanderer abzuwälzen und besonders auf Asylbewerber. Letztes Jahr war man peinlich berührt nach der Kritik von humanitären Organisationen über die sehr schlechten Bedingungen zur Unterbringung von Flüchtlingen. Rutte wollte dies durch Verringerung der Migranten-Zahlen ändern, scheiterte jedoch. Bei Bekanntgabe seines Rücktritts führte er unter den Gründen die mangelnde Einigkeit über die Unterbringung der Asylbewerber an.“