Wofür steht der Rechtsruck in Portugal?
Das Mitte-Rechts-Bündnis Aliança Democrática (AD) hat die vorgezogene Parlamentswahl in Portugal knapp vor den seit 2015 regierenden Sozialisten (PS) gewonnen. Für eine Mehrheit reicht es jedoch nicht, denn die rechtspopulistische Chega konnte ihren Stimmenanteil mit 18 Prozent mehr als verdoppeln, die Zahl ihrer Parlamentssitze sogar vervierfachen. Auch die europäische Presse beschäftigt vor allem Chegas Erstarken.
Verflixtes Szenario
Die Chega-Partei steht in einer gefährlichen Schlüsselposition, meint El País:
„Luís Montenegro steht vor einem verflixten Szenario. Die Summe seiner Abgeordneten und der Abgeordneten der Iniciativa Liberal, die ihn unterstützen wollen, ist weit von einer absoluten Mehrheit entfernt. Für eine Haushaltsverabschiedung reicht es nicht. Genau deswegen stürzten in der Vergangenheit Regierungen. Die Wahlen von 2022 waren das Ergebnis der Unfähigkeit der Sozialisten, ihren Haushalt durchzubringen. ... Die Feuerprobe wird im Herbst kommen, wenn die Regierung ihren Vorschlag für 2025 vorlegen muss. ... Sie wird die Geisel von Chega sein, die den Schlüssel für eine vorzeitige Beendigung der Legislaturperiode und die Auslösung von Neuwahlen in der Hand hält.“
Rechtsextreme sind Magnet für die Unzufriedenen
Für Tvnet folgt Portugal dem europäischen Trend:
„Insgesamt sind die Wahlen in Portugal ein weiterer Beweis für den umfassenderen Verlust des sozialistischen Einflusses in Europa. Nur in vier der 27 EU-Mitgliedstaaten führen noch die Sozialisten die Regierung. ... Noch vor 2020 waren die Steckenpferde der rechtsextremen politischen Kräfte und Populisten die Ablehnung der Einwanderung und der Europäischen Union. ... Jetzt richtet sich ihr Widerstand lauter gegen sexuelle Minderheiten und die Politik zur Bekämpfung des Klimawandels, und das Thema Krieg steht auf der Tagesordnung. Die rechtsextreme Ideologie ist zu einem großen Magneten für die unzufriedenen Massen der Bevölkerung geworden, die unter steigenden Lebenshaltungskosten und Inflation leiden.“
Wachstumskurs hat Schattenseiten
Die Stimmenverluste der Sozialisten lassen sich für das Tageblatt erst auf den zweiten Blick erklären:
„Portugal hat in den vergangenen Jahren einen ordentlichen Aufschwung erlebt. Die Bilanz der Sozialisten kann sich sehen lassen: wachsende Exporte, eine anziehende Binnenkonjunktur und steigende Löhne. Doch der Wachstumskurs hat wie so oft seine Schattenseiten: So ist etwa der Immobiliensektor außer Kontrolle geraten, was zu einer Krise auf dem Wohnungsmarkt führte. Obwohl die Regierung die Mindestlöhne erhöhte, ist es für viele Portugiesen schwierig geworden, über die Runden zu kommen. Doch statt nach weiter links wanderten viele Wähler nach rechts ab.“
Opposition beste Option für Sozialisten
Wie sich die linken Wahlverlierer nun aufstellen sollten, erläutert The Irish Times:
„Der neue PS-Chef, Pedro Nuno Santos, erklärte, dass seine Partei nicht die Absicht habe, Chega zur Hauptstimme der Opposition in Portugal werden zu lassen. Die Sozialisten planen, diese Rolle selbst zu übernehmen. Für einen kurzen Zeitraum könnten sie dennoch bereit sein, die Bildung einer Mitte-Rechts-Minderheitsregierung zu ermöglichen. Eine solche Regierung könnte sich schwertun, eine volle Amtszeit durchzustehen. Die Sozialisten hoffen, ihre Stärke und Glaubwürdigkeit in der Opposition zurückzugewinnen und zu zeigen, dass der dramatische Aufschwung der extremen Rechten eher das Ergebnis eines vorübergehenden Protests als ein dauerhaftes Merkmal der portugiesischen Politik ist.“
Steiniger Weg für Wahlsieger Montenegro
Les Echos beobachtet:
„Der besorgte Gesichtsausdruck, den dieser imposante, nachdenkliche, wenig charismatische und ziemlich einsam agierende Mann bereits jetzt an den Tag legt, sagt viel über die Schwierigkeiten aus, die ihn erwarten. Trotz der Sanierung der Staatsfinanzen und des robusten Wachstums bleiben die Löhne niedrig und die Inflation hoch. Die jungen Leute ziehen genauso schnell weg wie die Rentner aus dem Ausland einströmen und der Unmut über die hohen Lebenshaltungskosten wächst. … Voraussetzung [für Montenegros Regierung] ist jedoch zunächst, dass es ihm gelingt, eine regierungsfähige Mehrheit zu bilden, wobei er seit Monaten jedes Bündnis mit den Populisten entschieden ablehnt. Es ist löblich, die Tür für Störenfriede schließen zu wollen, aber sie haben sich schon eingeladen.“
Chegas Erfolg ist die Niederlage der Etablierten
Público fordert die gemäßigten Parteien auf, den Erfolg der Rechtspopulisten sehr genau zu analysieren:
„Es reicht nicht mehr aus, die Popularität einfacher Antworten oder demagogischer Tiraden zu kritisieren oder den Einfallsreichtum, mit dem reale oder eingebildete Probleme, über die 'niemand reden will', ausgenutzt werden. ... Von nun an müssen die demokratischen Kräfte den Sieg der Chega-Partei als ihre eigene Niederlage betrachten. Nur dann werden sie in der Lage sein, sich neu zu erfinden, um zu verhindern, dass diejenigen stärker werden, die den Konflikt dem Kompromiss vorziehen, die vor Lügen, Manipulation und Betrug nicht zurückschrecken und die dem Land bisher nicht viel mehr zu bieten hatten als die Entfesselung der niedrigsten Instinkte.“
Ende der Ausnahme
La Repubblica klagt:
„Es ist das Ende der portugiesischen Ausnahme. Und es ist auch das Ende des sozialistischen Wunders, das den Neid der Linken ganz Europas auf sich zog. Die Ausnahme war die eines Landes, das es vermieden hatte, in den Bann des konservativen Extremismus zu geraten – selbst in heikelsten Momenten wie den dunklen Jahren der begrenzten nationalen Souveränität um 2011, als die 'Männer in Schwarz' von EU, EZB und IWF kamen um Blut-und-Tränen-Rezepte auf eine Wirtschaft anzuwenden, die am Rande der Zahlungsunfähigkeit stand. ... Das Wunder, das knapp ein Jahrzehnt hielt, wurde mit großem politischen Geschick von Sozialistenchef António Costa geschaffen, dem es gelang, Portugals Wirtschaftsbilanz wieder in Ordnung zu bringen und sowohl einen ausgeglichenen Haushalt als auch die Wiederbelebung des Sozialstaats zu erreichen.“
Der Protest ist jetzt rechts
Es ist eine Ironie der Geschichte, schreibt Correio da Manhã, dass genau 50 Jahre nach dem Sturz der Diktatur in Portugal die extreme Rechte mit einer so starken Fraktion ins Parlament einzieht:
„Chega besetzt ein Terrain, das traditionell den Parteien links von der PS gehörte: die Stimme des Protests, die Stimme der vom System Empörten, der Wütenden, die Stimme der Peripherie. Das ist eine wichtige Tribünenfunktion in der Demokratie, die sich jetzt von der extremen Linken zur Rechten verschoben hat. Es ist eine Ironie, dass 50 Jahre nach dem 25. April eine rechtsextreme Partei fast 50 Abgeordnete hat.“
Gegen die eigenen Interessen
Mit Logik hat das starke Abschneiden der Rechtspopulisten nichts mehr zu tun, meint Portugal- und Spanienkorrespondent Rainer Wandler in der taz:
„Ein nicht unerheblicher Teil der Wählerschaft gibt seine Stimme einer Rechtsaußen-Formation, deren autoritär-wirtschaftsliberales Programm gegen die eigenen Interessen verstößt. Trump, Milei, Meloni, Le Pen, AfD, Vox in Spanien und jetzt Portugal – 'Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral', war einmal. Heute kommt hasserfüllte Ideologie zuerst. Feministinnen, LGBTIQ, Ökos, Einwanderer – alle haben Schuld, nur die wahren Schuldigen nicht: diejenigen, die von der neoliberalen Politik profitieren, die Gewinner der sich immer weiter öffnenden sozialen Schere. Nach solchen Wahlergebnissen bleibt nur Ratlosigkeit.“
Schweden als abschreckendes Beispiel
Aftonbladet warnt vor einer durch die Rechtspopulisten tolerierten Regierung wie in Schweden:
„In Schweden wissen wir, was das Tidö-Abkommen [Kooperationsvereinbarung der konservativen Regierung mit der rechten SD] in der Praxis bedeutete. Eine ruinierte Wirtschaft, ein auf Schmalkost gesetztes Wohlfahrts- und Kulturleben, zunehmende Repression, Rassismus und Rechtsunsicherheit. Darüber hinaus hat die SD eine Klausel in die Vereinbarung aufgenommen, die es den Regierungsparteien verbietet, sie offen zu kritisieren. In einer vernünftigeren Zeit hätte das heutige Schweden als Schreckensbeispiel gewirkt.“
Gewohntes Gleichgewicht in Gefahr
Der deutliche Zugewinn der rechtspopulistischen Chega stellt die traditionelle Parteienlandschaft Portugals auf die Probe, schreibt Jornal de Notícias:
„Die Partei von André Ventura hat bewiesen, dass sie in der Lage ist, sich im ganzen Land zu etablieren. … Es wird nicht das Ende der Zweiparteienherrschaft sein, aber es ist zumindest eine klare Bestätigung, dass eine noch mittelgroße Partei das traditionelle Gleichgewicht bedroht. ... Während die Lebensfähigkeit einer AD-Minderheitsregierung zunächst gesichert ist, wird der entscheidende Test die Abstimmung über den Staatshaushalt sein. Zu diesem Zeitpunkt wird es für die Sozialisten schwieriger sein, der rechten Regierung die Hand zu reichen, auch wenn ein Teil der Partei diese Strategie verteidigen könnte, um zu verhindern, dass die Chega die entscheidende Rolle erhält.“
Das Land nicht in die Sackgasse steuern
Público wünscht sich geschlossenes Handeln der gemäßigten Parteien:
„Ein Szenario der Unregierbarkeit, das Wahlen gegen Ende des Jahres erzwingt, ist der beste Weg, um den Portugiesen Recht zu geben, die das Lager der liberalen Demokratie verlassen haben und eine radikale Politik der Toleranz, dem Bürgersinn und dem Geist der gemeinschaftlichen Solidarität vorziehen. Die Regierenden müssen erkennen, dass Zögern und Nachlässigkeit heute noch schädlicher geworden sind. Sie müssen in kritischen Bereichen wie Gesundheit und Bildung handeln. Sie müssen erkennen, dass es neue Herausforderungen wie die Einwanderung gibt, die nicht wie in der Vergangenheit vergessen werden dürfen.“