Israel/Hamas: Kontroverse um IStGH-Haftbefehlsantrag
Der Haftbefehlsantrag der Anklagebehörde des Internationalen Strafgerichtshofs gegen Israels Premier Netanjahu, Verteidigungsminister Galant sowie drei Hamas-Spitzen – wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit – hat international für Aufruhr gesorgt. Israel, die USA, Großbritannien und Deutschland kritisierten, damit setze man die Führer einer Demokratie mit Terroristen gleich. Kommentatoren wägen ab.
Endlich eine rote Linie
Volkskrant-Kolumnistin Ibtihal Jadib verteidigt den Chefankläger des IStGH, Karim Khan:
„Khan ist der erste, der wirklich eine rote Linie zu ziehen wagt. Statt ihn zu bedrohen oder unter Druck zu setzen, sollten wir erleichtert aufatmen, dass jemand noch versucht, das internationale Recht zu handhaben. All die schönen Verträge sind nicht nur zur Zierde da. Bei möglichen Verletzungen müssen wir bereit sein, Verbrechen festzustellen, egal wer auch dahinter steckt. Mit den Worten von Khan gesprochen: 'Schauen Sie sich die Beweise an, schauen Sie sich das Verhalten an, schauen Sie sich die Opfer an und blenden Sie die Nationalität aus.'“
Forderung abzulehnen wäre Heuchelei
Auch Politiken unterstützt die Anklagebehörde:
„Ob die Voraussetzungen für den Haftbefehl vorliegen, muss das Gericht entscheiden, doch der Staatsanwalt sendet mit seiner Entscheidung genau das richtige Signal. Das Signal, dass jeder für sein Handeln zur Verantwortung gezogen werden kann. Auch aus westlichen Ländern und von unseren Verbündeten. ... Das Völkerrecht ist universell, das ist der Grundgedanke, und deshalb ist es entscheidend, dass der Westen die Forderung des IStGH-Staatsanwalts nach Haftbefehlen unterstützt. Alles andere würde uns als Heuchler der schlimmsten Sorte entlarven.“
Unglückliche Gleichsetzung
Khan und seine Mitstreiter hätten sich klüger anstellen können, kritisiert Svenska Dagbladet:
„Wenn der Chefankläger des IStGH sagt, dass 'niemand über dem Gesetz steht', was natürlich richtig ist, und im gleichen Atemzug die Verhaftung sowohl der Terroristen als auch derjenigen fordert, die für die Rückgewinnung ihrer entführten Bürger kämpfen, ist die Asymmetrie im Bild bestechend. ... Dies bedeutet nicht, dass der IStGH die Frage, ob Israel Kriegsverbrechen begangen hat, nicht untersuchen sollte. ... Die Staatsanwaltschaft beim IStGH verfügt jedoch über einen erheblichen Ermessensspielraum, welche Fälle sie verhandelt und wie sie sie präsentiert. Die wichtige Aufgabe, mögliche Kriegsverbrechen zu untersuchen, könnte nun eingeschränkt werden, und die Relevanz des IStGH ist gefährdet.“
Den 7. Oktober nicht vergessen
Spotmedia betont die Verantwortung der radikal-islamischen Hamas für die aktuelle Situation:
„Die israelische Offensive im Gaza geschah nicht ohne Fehler, Premier Netanjahu ist ein mehr als fragwürdiger Anführer. Er hat durch seinen Anti-Justizkampf das Land geschwächt, bis dessen Verletzlichkeit von der Hamas ausgeschlachtet wurde. Jedes zivile Opfer ist eine große Tragödie und jeder einzelne Fehler muss bestraft werden. Aber das erlaubt nicht, dass man den 7. Oktober vergisst, dass man den Terrorakt vergisst, der die Erwiderung ausgelöst hat, dass man vergisst, wer Zivilisten als menschliche Schutzschilde benutzt, dass man die Geiseln vergisst, dass man vergisst, dass die Opfer und ihre Familien [in Gaza] diese Terroristen gewählt haben.“
Ungewollte Schützenhilfe für Bibi
Der Haftantrag gegen Israels Premier verschlimmert die Krise sogar, meint Der Standard:
„Er kommt zu einem Zeitpunkt, an dem der äußere und innere Druck auf Netanjahu, den Krieg zu beenden oder zumindest zu einer politischen Lösung hinzuführen, auf einen Höhepunkt zusteuert und den Fortbestand der Regierung zunehmend gefährdet. Doch nun solidarisiert sich das Land mit dem Premier, was Netanjahu innerlich jubeln lässt. Seine Attacke auf Khan, den er 'einen der großen Antisemiten der Moderne' schimpft, ist maßlos übertrieben und ein Beispiel, wie Netanjahu den Antisemitismusvorwurf ständig instrumentalisiert. Aber die Causa spielt ihm und anderen Hardlinern in die Hände, schwächt seine Kritiker und könnte den Krieg verlängern, statt ihn zu verkürzen.“
IStGH emanzipiert sich von den USA
Jutarnji list findet das Vorgehen angesichts der ablehnenden Haltung Washingtons bemerkenswert:
„Obwohl die USA den IStGH formell nicht anerkennen, unterstützen sie in manchen Fällen (sprich: wenn es ihnen passt) seine Arbeit leidenschaftlich. So letztens geschehen bei der Untersuchung von Putins Kriegsverbrechen in der Ukraine, die die USA bedingungslos finanziert haben. ... Da sie seine Arbeit gesponsert und überwacht hat, war der IStGH bisher sehr von der Unterstützung der Supermacht abhängig. ... Dass sich der IStGH ohne den Segen der USA zu so einem Schritt entschlossen hat, zeigt, wie autonom er in den letzten Jahren geworden ist. Das war seinerzeit so auch gedacht, als man sich auf das Römische Statut einigte und den IStGH gründete.“
Israel genauso behandeln wie andere
Público kann die Anklage Netanjahus und Galants nachvollziehen:
„Israel hat das Recht zu existieren, es hat das Recht, sich zu verteidigen, aber es hat nicht das Recht zu tun, was es tut. ... Die Taten Israels, die toleriert werden, würden nicht toleriert, wenn sie von Russland, China, dem Iran oder irgendeinem anderen Land begangen würden. ... UN-Beamte und die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch berichten, dass sie zur Zielscheibe von geplanten Angriffen israelischer Sicherheitskräfte geworden seien.“
Diese Behörde ist parteiisch
The Spectator findet den Haftbefehlsantrag ungerecht:
„Gegen den syrischen Präsidenten Baschar Al-Assad, dessen Machtkampf Hunderttausende Zivilisten – unter anderem durch den Einsatz chemischer Waffen – das Leben kostete, wurde kein Haftbefehl erlassen. Ebenso wenig gegen den obersten iranischen Führer Ajatollah Khamenei, dessen Land Menschenrechte verletzt und den internationalen Terrorismus unterstützt. ... Auch ist es merkwürdig, dass der IStGH nach dem fürchterlichen Angriff der Hamas sieben Monate brauchte, um ihren Anführern mit Haftbefehlen zu drohen. Das selektive Vorgehen des Gerichtshofes gib Anlass zur Sorge, dass dieser nicht so fair und unparteiisch ist, wie er sein sollte.“
Anmaßend und kontraproduktiv
Der Internationale Strafgerichtshof nimmt Einfluss auf einen laufenden Konflikt, kritisiert die Neue Zürcher Zeitung:
„Das ist anmaßend und äußerst unklug – jeder auch nur halbwegs politisch denkende Akteur würde diese heiße Kartoffel noch so gern einer subsidiären Ebene überlassen und erst eingreifen, wenn diese das Problem nicht angeht. ... Mit Haftbefehlen gegen Netanyahu, Gallant und die Hamas-Schergen wird der ICC viel Aufsehen erregen, aber seine juristischen Ziele verfehlen, denn die Auslieferung dieser Personen ist völlig unrealistisch. Was der ICC erreichen wird, ist dagegen die politische Stärkung jener Kräfte in Israel, die hinter dem harten Vorgehen in Gaza stehen, sowie der antisemitischen Feinde Israels. ... Unsinniger kann sich eine internationale Organisation kaum verhalten.“
Es geht um Einzelpersonen, nicht um Völker
Vladimiro Zagrebelsky, ehemaliger Richter des EGMR, verteidigt die Entscheidung in La Stampa:
„Für die Glaubwürdigkeit des humanitären Völkerrechts und für das internationale Rechtssystem wäre es dramatisch, wenn die von den Staaten eingegangene Verpflichtung nun ignoriert oder gar in einen Vorwurf politischer Unsensibilität oder Parteilichkeit gegenüber dem Ankläger und den Richtern verwandelt würde. ... Mit ihrem Anspruch auf Immunität gewännen die mächtigsten Regierungen die Oberhand. ... In der Vergangenheit wurde dem IStGH vorgeworfen, dass er sich nur mit Afrika und zahlreichen afrikanischen Herrschern befasse. Die Ermittlungsarbeit der IStGH-Anklagebehörde und die Schlussfolgerungen zeigen, dass diese Vorwürfe der Voreingenommenheit und Diskriminierung unbegründet waren. ... Der IStGH urteilt über Menschen, nicht über Staaten.“
Neue Zeit für Israels Politik
Für das Verhältnis zwischen Israel und dem westlichen Staatenbündnis ist die Anklage eine Zäsur, stellt die Süddeutsche Zeitung fest:
„Wenn sich der Riss ... ohnehin schon länger abgezeichnet hat, so ist dies nun die notarielle Beglaubigung. Wie deutlich westliche Verbündete bis hin zu den USA zuletzt von der Jerusalemer Regierung abgerückt sind, das dürfte in Den Haag den Mut zum Einschreiten erhöht haben. Nun wird für Netanjahu und seinen Verteidigungsminister die Welt sehr klein werden, bei Reisen nach Europa etwa droht die Verhaftung. Der Hamas kann es egal sein, wenn ihre Führer per Haftbefehl gesucht werden; ihr Status als Parias ist schon nicht mehr steigerbar. Für Israels Politik aber bricht eine neue Zeit an.“