Wo steht Großbritannien vor der Wahl?
Die Briten wählen heute ein neues Parlament und die Frage scheint nicht mehr zu sein, ob Labour siegt, sondern wie heftig die Tory-Regierung abgestraft wird. Laut Umfragen liegt die Partei von Herausforderer Keir Starmer rund 20 Prozentpunkte vor den Konservativen. Kommentatoren fragen nach den Ursachen und blicken nach vorn.
Keine Fehler machen reicht schon
Die desaströse Bilanz der Tory-Jahre spielt Labour in die Karten, schreibt Radio Renascença:
„Die britische Politik befindet sich seit Jahren in Aufruhr. Nicht nur haben sich die Skandale vervielfacht, in die sogar die höchsten politischen Amtsträger verwickelt waren, sondern auch die Versprechungen der Brexit-Befürworter haben sich als Phantasie erwiesen. ... Nachdem es nicht gelungen ist, nach dem Brexit ein günstiges Abkommen mit der EU zu schließen, stagniert die britische Wirtschaft fast und die Armut in Großbritannien nimmt zu. ... Alles, was die Labour-Partei tun muss, um die Wahlen zu gewinnen, ist, keine eklatanten Fehler zu machen. “
Britische Wähler rächen sich heute
Die Wähler haben viele Gründe, die Tories abzuservieren, so Irish Examiner:
„Aus Abscheu über das Verhalten weinseliger politischer Berater während des Lockdowns; aufgrund des Versagens der Führungsriege, das seinen Höhepunkt im Postskandal fand; wegen der Verschmutzung der Flüsse mit Abwässern, während privatisierte Unternehmen Dividenden kassieren; weil junge Menschen auf dem Wohnungsmarkt nicht mehr Fuß fassen können; aus Ermüdung über hohe Steuern; weil es an erkennbaren Lösungen in der Einwanderungspolitik fehlt. ... Und weil die Mitglieder dieser todgeweihten Regierung sogar noch in ihren letzten Tagen versucht haben, mit Wetten gegen sich selbst und auf das Wahldatum ein paar Pfund zu verdienen.“
Höchste Zeit für Reformen
Die Tories haben ausgedient, schlägt El País in dieselbe Kerbe:
„Das Erbe der fünf Tory-Premiers weist eine negative Bilanz auf, beginnend mit David Camerons Sparmaßnahmen von 2008. ... Dadurch wurden dauerhaft starke Ungleichgewichte in der britischen Wirtschaft geschaffen. ... Das Vermächtnis des Brexit, Theresa Mays Nachlässigkeit und Boris Johnsons rücksichtslose Demagogie werden der dunkelste Fleck bleiben. ... Rishi Sunak hatte weder die Zeit noch das Talent, die schreckliche Wahrnehmung, die die Briten von seiner Regierung haben, zu korrigieren. ... Das Vereinigte Königreich braucht tiefgreifende wirtschaftliche, politische und soziale Reformen, die überfällig sind.“
Brexit ist der Elefant im Raum
Politiken analysiert:
„Der Elefant im Raum des Wahlkampfs ist der Brexit, über den weder die Konservativen noch die Labour-Partei sprechen, was an sich schon unglaubwürdig ist, denn der Austritt ist zumindest eine der Ursachen für die zahlreichen Krisen Großbritanniens und den derzeitigen Schlingerkurs der ehemaligen Großmacht. Es wird kaum besser werden, wenn es dem Architekten des Brexits, Nigel Farage, dem zutiefst manipulativen Trump-Freund, gelingt, für seine Partei Reform UK gewählt zu werden. Er ist die letzte Person, in deren Arme sich die Konservativen werfen sollten.“
Mit Neuanfang Vertrauen zurückgewinnen
Die nächste Regierung muss das Ansehen der Demokratie stärken, fordert The Guardian:
„Der Urnengang ist ein Moment der Verpflichtung, ein Vertrag, mit dem die Öffentlichkeit ihre Führungskräfte einstellt. Das Recht, sie auch zu entlassen, ist von entscheidender Bedeutung, aber die Stabilität in den dazwischen liegenden Jahren erfordert Geduld von der Wählerschaft – und die hängt wiederum vom Vertrauen in die Entscheidungsträger ab. ... Die nächste Regierung wird mit verschiedenen Herausforderungen konfrontiert sein, sie alle so anzugehen, dass das Ansehen der Demokratie selbst gestärkt wird, ist die allumfassende Aufgabe. Wie auch immer das Ergebnis ausfällt, der Wahltag markiert einen möglichen Neuanfang.“
Langweilig könnte genau richtig sein
Dagens Nyheter hofft, dass Starmer eine Annäherung an die EU verwirklicht:
„Kleine Schritte in die richtige Richtung verspricht Starmer. Es mag langweilig und einfallslos sein, aber im Moment ist es wahrscheinlich genau die Art von Projekt, die Großbritannien bewältigen kann. ... Während der Corbyn-Jahre war Starmer der prominenteste Labour-Vertreter, der sich für ein zweites Referendum einsetzte – um den Brexit abzuschaffen. Heutzutage ist er bei diesem Thema eher zurückhaltend. Die britische EU-Mitgliedschaft wird wahrscheinlich noch mehrere Jahrzehnte entfernt sein. Aber es gibt kaum etwas, das die Wirtschaft stärker beflügeln und Investitionen anregen würde als eine Annäherung an Brüssel.“
Völlig unklar, wohin die Reise geht
Ein Richtungswechsel bedeutet nicht gleich auch Stabilität, bedauert The Times:
„Die Labour-Partei weiß nicht, ob sie die Partei der offenen, freien Märkte sein will, und sie weiß nicht genau, wie sie zum Thema Einwanderung steht. Wie die Tories im Jahr 2019 wird sie viele Sitze gewinnen, deren Wähler miteinander unvereinbare Forderungen stellen. ... Die entscheidende Tatsache dieser Wahl, nämlich dass die Menschen nach 14 Jahren konservativer Regierung Wandel wollen, wird eine große Labour-Mehrheit hervorbringen. Diese Mehrheit sollte jedoch nicht mit politischer Stabilität verwechselt werden. Der Sieg der Labour-Partei wird großflächig sein, aber nicht in die Tiefe gehen.“
Keiner hört die wichtigen Tory-Warnungen
Wutwähler wollen nicht wahrhaben, wie sehr Labour der Mittelschicht schaden wird, schimpft The Daily Telegraph:
„Falls Keir Starmer am Donnerstag die Wahlen gewinnt, sollte man besser nicht einigermaßen wohlhabend sein, eine ansehnliche Rente angespart haben, im grünen Speckgürtel leben, Unternehmer sein oder sich um die Grenzen dieses Landes sorgen. Es sind alles Punkte, die die Basis des Tory-Wahlkampfs bildeten, nur hören nun alle weg, falls sie je zugehört haben.“
Britisch-europäisches Trauma endlich überwinden
Corriere della Sera hofft auf den Beginn einer Post-Brexit-Phase:
„Großbritannien hat viel zu gewinnen, wenn es seine Beziehung zum Markt und zur politischen Einheit Europas wiederherstellt. Auch die EU hätte Vorteile, insbesondere in einer Zeit internationaler Unruhen, Kriege und einer sich verändernden Weltwirtschaft. Der zweite Aspekt wird zu selten in Betracht gezogen. Die Briten haben für ihre Entscheidung und für die Unfähigkeit ihrer konservativen Regierungen, den Brexit positiv zu gestalten, einen Preis bezahlt; aber auch die Europäer haben an den Folgen des Referendums Schaden genommen – was oft unter den Teppich gekehrt wird. Erkennt man das auf beiden Seiten an, brächte dies für alle Beteiligten beträchtliche Vorteile.“