Großer Häftlingsaustausch: Ein Erfolg?
Vergangene Woche ist der größte Gefangenenaustausch zwischen westlichen Staaten und Russland seit dem Ende des Kalten Krieges durchgeführt worden. Russland und Belarus ließen 16 Personen frei, darunter den US-Journalisten Evan Gershkovich sowie den russischen Menschenrechtsaktivisten Oleg Orlow und den Oppositionellen Wladimir Kara-Mursa. Zehn Häftlinge wurden Russland übergeben, unter ihnen der sogenannte Tiergartenmörder Wadim Krassikow.
Russland verliert, Putin gewinnt
Der russische Politologe Abbas Galliamow sinniert auf Facebook darüber, was nach dem Gefangenenaustausch weiter passieren könnte:
„Ein Haufen guter Leute ist ausgereist, ein Haufen schlechter eingereist. Russland steht mal wieder auf der Verliererseite. ... Dafür hat Putin - im Gegensatz zu Russland - gewonnen. Spionen und Mördern hat er klargemacht, dass er für sie wie ein Vater ist, also gibt es die Hoffnung, dass sie ihm noch eifriger dienen werden. Der Hauptmasse der Russen hat der Präsident gezeigt, dass er Reste an Angemessenheit noch nicht eingebüßt hat und noch fähig ist zu gut kalkulierten, rationalen Handlungen. Das ist das, was sie mögen.“
Belarusen blieben außen vor
Menschenleben haben offenbar nicht gleich viel Gewicht, analysiert der Philosoph Gintautas Mažeikis in LRT:
„Ein Mensch kann so viel wert sein wie drei, zehn oder hundert andere. Eine israelische Geisel ist mehrere Dutzend Palästinenser wert, ein russischer FSB-Agent mehrere demokratische Oppositionsführer, öffentliche Personen kosten mehr als stille Demonstranten, Amerikaner und Russen sind wertvoller als Belarusen. ... Wenn man von einer starken internationalen Organisation oder politischen Bewegung verteidigt wird, steigt der Wert. Deshalb konnte Alexej Nawalnys Stiftung für Korruptionsbekämpfung mindestens drei Mitglieder befreien, während die gesamte belarusische Opposition unter der Leitung von Swjatlana Zichanouskaja niemanden frei bekam.“
Auf Kosten der Berichterstattung
Der Gefangenenaustausch ist nach Ansicht von Sydsvenskan teuer erkauft:
„Am schwersten wog am Ende die Freiheit der in Russland unschuldig Inhaftierten. So sollten liberale Demokratien denken, die die Menschenrechte wertschätzen. Und genau das nutzen Führer wie Putin und der iranische Ajatollah Ali Khamenei aus. ... Und es ist besonders besorgniserregend, wenn es um Journalisten geht. Denn wenn Journalisten Gefahr laufen, in russische Gefängnisse geworfen zu werden, um dort für einen politischen Kuhhandel eingesetzt zu werden - welche Medienunternehmen wagen es dann noch, ihre Korrespondenten hinzuschicken? Die Folge ist, dass es keine Journalisten gibt, die über das Geschehen in Ländern wie Russland und Iran berichten können.“
Licht und Schatten
In einem von Echo übernommenen Telgram-Post des Oppositionspolitikers Lew Schlosberg mischt sich in die Erleichterung auch Sorge:
„Dank an alle, die diese Rettung möglich gemacht haben, wo auch immer diese Menschen waren. Dieser Austausch ist aber nicht nur ein Zeichen für die Zusammenarbeit zwischen unversöhnlichen Seiten, sondern ein Zeichen für die Rückkehr der zynischen Ära des Kalten Krieges, in der auf der anderen Seite der Grenze kein Rivale, sondern ein Feind, kein Konkurrent, sondern ein Gegner steht. ... Man kann nicht anders, als um all diejenigen zu bangen, die in Gefangenschaft bleiben – diejenigen, die bereits verurteilt wurden, und diejenigen, gegen die ermittelt wird und die vor Gericht stehen, wo weder Gerechtigkeit noch Gesetzesmäßigkeit zu erwarten ist.“
Putin kann neue Geiseln nehmen
Für die Frankfurter Allgemeine Zeitung ist die Aktion ein Fehler:
„Die Freilassung eines verurteilten Mörders, der nach Feststellung des Gerichts im Auftrag Moskaus in Berlin einen Tschetschenen erschossen hatte, quält jedes Rechts- und Gerechtigkeitsempfinden. Aber auch rein realpolitisch betrachtet ist dieser Handel ein verhängnisvoller Fehler. Er verstößt gegen die oberste Regel im Umgang mit Geiselnehmern, die lautet: Niemals deren Forderungen erfüllen. Wer sich als erpressbar erweist, wird weiter erpresst werden, vom selben Erpresser oder von anderen. ... Dem Kreml wird es nicht schwer fallen, weitere Agenten zu finden, die bereit sind, im Westen für ihn zu morden. Denn nun weiß jeder, dass Putin seine Killer nicht im Stich lässt, sondern alles tut, um sie heimzuholen.“
Dialog ist möglich
Der Gefangenenaustausch ist Anlass zur Hoffnung, meint Corriere della Sera:
„Die Tatsache, dass Wladimir Putin die Freilassung des Wall-Street-Journal-Journalisten Evan Gershkovich und des ehemaligen Marinesoldaten Paul Whelan angeordnet hat, ist eine sehr gute Nachricht. ... Sogar der Dissident Wladimir Kara-Mursa wurde freigelassen. Eine sehr gute Nachricht. Für die Betroffenen. ... Aber auch, weil die Freilassung im spektakulären Rahmen eines 'Gefangenenaustauschs' stattfindet, der ein klarer Beweis für die Eröffnung eines Dialogkanals zwischen dem Kreml und dem Weißen Haus ist. Die US-Medien behaupten zu Recht, dass es sich um den größten 'vorteilhaften Austausch von Männern und Frauen' in der Geschichte der Beziehungen zwischen den beiden Ländern handele.“
Freude, Verachtung und Überraschung
Gemischte Gefühle empfindet The Times:
„Als erste Reaktion dürfte ein jeder Freude darüber empfinden, dass die lange Tortur von Evan Gershkovich ein Ende hat. ... Die zweite Reaktion muss völlige Verachtung für eine gewalttätige Regierung sein, die auf zynische Weise westliche Journalisten und andere passende Geiseln entführt, um sie gegen Mörder, Waffenhändler und Spione auszutauschen. ... Und die dritte Reaktion muss Überraschung darüber sein, dass es der Biden-Regierung in einer Zeit nahezu beispielloser Spannungen mit Russland gelungen ist, hart zu verhandeln, sodass auch eine Reihe mutiger Russen befreit wurde, die sich gegen Missstände und Unterdrückung eingesetzt haben und dafür mit langen Gefängnisstrafen zahlen mussten.“
Bedenken, was mit Skripal geschah
El Periódico de Catalunya fürchtet um die Sicherheit der Befreiten:
„Was die aus russischen Gefängnissen entlassenen Personen betrifft, ist zu hoffen, dass es nicht zu dem kommt, was 2010 geschah. Damals wurde bei einem anderen großen Austausch Sergei Skripal freigelassen, ein ehemaliger Offizier des [russischen] Militärgeheimdienstes, der beschuldigt wurde, für den britischen Geheimdienst MI6 spioniert zu haben, und auf den acht Jahre später ein Giftanschlag verübt wurde.“