Tausend Tage russischer Großangriff auf die Ukraine

Seit 1.000 Tagen wehrt sich die Ukraine gegen die am 24. Februar 2022 gestartete russische Großinvasion. Zwei Monate bevor in den USA ein neuer Präsident über die künftige Ukraine-Politik von Kyjiws stärkstem Verbündeten entscheidet, verstärkt Russland erneut die Angriffe auf das gesamte Land. Europas Presse schaut mit Schrecken auf das bisher Geschehene und skizziert mögliche Zukunftsszenarien.

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24tv.ua (UA) /

Menschen hinter den Zahlen nicht vergessen

24tv.ua erinnert an den Schmerz, den jeder Kriegstag verursacht:

„Heute sprechen wir über Zahlen und Statistiken. Doch niemand hat das Recht zu vergessen, was dahinter steht. Hinter jedem 'ums Leben gekommen' stehen Tragödien ganzer Familien. Hinter dem Wort 'Flüchtling' steht ein zerstörtes oder besetztes Zuhause, in das man so sehr zurückkehren möchte, und doch ist es unmöglich. Hinter jedem 'in Kriegsgefangenschaft' verbergen sich Ängste, diesen Menschen nie wieder zu sehen, sowie Bemühungen, alles für seine Rückkehr zu tun. Und hinter jedem für uns neuen Tag stehen die Leben jener, die unser Heimatland verteidigen und dank denen es im Februar 2022 überlebt hatte und heute weiter kämpft.“

Echo (RU) /

In Moskau besiegt der Mammon die Moral

Schriftsteller Dmitri Gluchowski beschreibt in einem von Echo übernommenen X-Post, was der Krieg mit Russland gemacht hat:

„Meine Bekannten meinen, dass sie genauso leben wie früher. Viele sind davon überzeugt, dass das Leben jetzt sogar besser ist: Das Geld sprudelt. ... Die Städte sind mit Werbung für Auftragsmorde zugepflastert, aber die Menschen – mit Ausnahme der Zielgruppe dieser Werbung – haben gelernt, sie nicht wahrzunehmen. Und die Zielgruppe, 30.000 Menschen pro Monat, zieht für die [auf den Plakaten versprochenen] fünf Millionen Rubel [ca. 50.000 Euro] in den Krieg, für durchschnittlich zwei Wochen, bevor sie sterben oder verkrüppelt werden. In 1.000 Tagen ist der Krieg zur Normalität geworden. Dem Land ist keine wirtschaftliche Katastrophe widerfahren, aber eine moralische.“

Neue Zürcher Zeitung (CH) /

Putin braucht den Westen als Feindbild

Selbst an einem Frieden, bei dem die seit 2014 annektierten Gebiete an Russland fielen, hat Moskau kein Interesse, betont die Neue Zürcher Zeitung:

„Eine prosperierende und sich nach freiheitlichen Idealen entwickelnde Rest-Ukraine hingegen wäre für das Moskauer Regime eine Gefahr. Sie wäre ein Gegenmodell zum perspektivlosen Polizeistaat, den Putin verwaltet. Es ist deshalb schwer vorstellbar, dass sich Russlands Diktator auf einen echten Frieden einlässt. Er braucht das Schreckgespenst des bösen Westens, um seine Herrschaft zu legitimieren. ... Die Anreize für das Regime, auf Kriegskurs zu bleiben und seine Untertanen in einem nationalistischen Wahn gefangen zu halten, sind deshalb gross.“

Corriere del Ticino (CH) /

Ein schier endloser Albtraum

Auf Fehleinschätzungen, in Moskau und im Westen, blickt Corriere del Ticino zurück:

„Alles sollte an nur einem Tag über die Bühne gehen, höchstens drei. Wladimir Putin hatte seinen Einzug in Kyjiw als triumphalen, entscheidenden, endgültigen Sieg geplant. Ein rascher Handstreich. Doch dem war nicht so. ... 1.000 Tage Krieg. Ein Krieg, der – nach inoffiziellen Schätzungen, daran sei erinnert – fast 300.000 Tote und knapp eine Million Verwundete und Vermisste gefordert hat. ... Wenn wir heute auf jenen 24. Februar 2022 zurückblicken, haben wir die Bilder der russischen Panzer, die auf die ukrainische Hauptstadt zielten, noch vor Augen. Die Bedrohung zeichnete sich bereits in den Tagen zuvor ab, aber sie schien nicht wirklich. Man wollte sie nicht wahrhaben. Dann war es wie die Verwirklichung eines Albtraums.“

Népszava (HU) /

Am Rande eines Weltkriegs

Die Gefahr eines Flächenbrands ist nicht neu, betont Népszava:

„Seit den frühen Morgenstunden des 24. Februar 2022, als Präsident Putin eine 'militärischen Sonderoperation' ankündigte und russische Streitkräfte die Grenze der unabhängigen Ukraine überschritten, stehen wir am Rande eines Weltkriegs. ... Putin hat seinen Krieg von Anfang an mit belarusischer Hilfe geführt, im Laufe der Zeit kamen iranische Waffen und jetzt eine dritte Partei, Nordkorea, dazu. Wir haben jetzt in der Tat eine neue Situation, die aber nicht von der Genehmigung des Einsatzes von US-Raketen [gegen russischen Ziele], sondern von der Entsendung nordkoreanischer Truppen an die Front in der Ukraine verursacht wurde.“

Dagens Nyheter (SE) /

So lässt sich Russland nicht aufhalten

Dagens Nyheter kritisiert den Westen wegen mangelnden Beistands:

„Einerseits haben wir Selenskyj gesagt, dass wir ihn unterstützen, solange es nötig ist, und andererseits haben wir ihn gezwungen, den Krieg mit auf dem Rücken gefesselten Händen zu führen. ... Am Freitag rief Bundeskanzler Olaf Scholz Putin an, um ihn zur Deeskalation zu drängen. Der Kreml antwortete am Wochenende mit einem der bislang umfangreichsten Bombenangriffe auf Häuser und zivile Infrastruktur im Krieg. So reagiert Putin auf das, was er als Schwäche ansieht. Wenn Europa das nicht versteht, wird nicht nur die Ukraine verloren sein. In weiteren 1.000 Tagen könnten sich russische Truppen an der Grenze eines anderen europäischen Landes versammeln.“

Tygodnik Powszechny (PL) /

Ukrainer brauchen glaubwürdige Garantien

Wojciech Pięciak meint einen Stimmungswandel unter den Ukrainern wahrzunehmen und schreibt in Tygodnik Powszechny:

„Aus Gesprächen mit ukrainischen Freunden lässt sich schließen, dass die Mehrheit der Bevölkerung sogar den Verlust jenes Fünftels des Landes akzeptieren würde, das Russland von 2014 bis heute in Besitz genommen hat – wenn die Verhandlungen dazu führen, dass die Ukraine Garantien erhält, wonach sie ihre Unabhängigkeit behält und ihren eigenen Weg wählen kann. Allerdings müssten die Garantien glaubwürdig sein, etwa durch die Präsenz westlicher Truppen an der Demarkationslinie.“

La Stampa (IT) /

Auf Europas Worte müssen auch Taten folgen

La Stampa sieht eine Chance für die Ukraine:

„Die finnische Lösung während des Kalten Krieges. Nicht in der Nato, aber in 'Europa' und in der EU. Unter zwei Bedingungen: Die Ukraine muss sich militärisch halten, und wenn die Nato-Perspektive wegfällt, muss die EU-Perspektive bestehen bleiben. Beide Bedingungen betreffen die Europäer. Zur zweiten Bedingung: Die ukrainische Kandidatur muss mit Überzeugung verfolgt werden und es darf nicht zu einem weiteren Türkei-Szenario kommen. ... Wenn Europa mit Taten und nicht mit Worten zeigt, dass es nicht müde wird, die Ukraine zu unterstützen, könnte Putins Plan noch scheitern.“

Delfi (LV) /

Nicht auf Washington hoffen

Aus Sicht von Delfi steht nicht nur für die Ukraine viel auf dem Spiel:

„Wenn der Ukraine 'Frieden für unsere Zeiten' aufgezwungen wird (analog zur Aufteilung der Tschechoslowakei nach den Wünschen Hitlerdeutschlands [im Münchner Abkommen 1938]), wird Russlands Appetit nur zunehmen. ... Trumps Brigade wird die Nato kaum ernst nehmen. ... Der Moment wird kommen, in dem auch die baltischen Staaten durch politischen Druck Russlands, hybride Kriege und sogar Kriege bedroht sein werden und das Risiko besteht, dass die erschöpfte Nato ohne die USA Moskau nicht davon abschrecken kann. Worauf kann man hoffen? Nicht auf Trump und Washington, sondern vielmehr auf Kyjiws Fähigkeit, in naher Zukunft Atomwaffen zu entwickeln, und auf eine schnelle Bewaffnung der europäischen Nato-Staaten, um Russland mit allen Mitteln abzuschrecken und abzuwehren.“