Misstrauensvotum in Berlin: Was heißt das für Europa?
Die Mehrheit der Bundestagsabgeordneten hat Kanzler Olaf Scholz das Vertrauen entzogen. Der am Montag vollzogene Akt macht den Weg für die anvisierte Neuwahl am 23. Februar frei. Scholz tritt erneut als Spitzenkandidat der SPD an. Umfragen sehen Oppositionsführer Friedrich Merz (CDU) vorne. Europas Presse ordnet die Geschehnisse in Berlin ein.
Kein Neuanfang in Sicht
Die deutsche Politik steckt in der Krise und Neuwahlen dürften daran wenig ändern, so The Spectator:
„Das bittere Auseinanderbrechen der Scholz-Dreierkoalition und die hässlichen Vorfälle während der Vertrauensabstimmung am Montag waren nur die Spitze des Eisbergs. Darunter liegt eine zersplitterte Parteienlandschaft, die für die deutschen Wähler immer undurchschaubarer wird. Umfragen zeigen, dass nur noch etwas mehr als ein Viertel der Bevölkerung den politischen Parteien vertraut. Vertrauen gewinnen die deutschen Parteien nicht zurück, indem sie sich in ihren festgefahrenen Positionen vergraben und sich gegenseitig mit Dreck bewerfen. Aber genau das tun sie. So wie die Dinge gerade stehen, gehen alle etablierten Parteien Deutschlands mit müden Ideen und müden Gesichtern in den Wahlkampf.“
Deutschland bleibt wohl der kranke Mann
Aufgrund der Wirtschaftslage ist Népszava skeptisch:
„Berlin braucht neue Impulse: Wenn keine positive Veränderung eintritt, könnte die rechtsextreme Alternative für Deutschland auf über 20 Prozent kommen. Es ist jedoch zu befürchten, dass nicht mal eine neue Regierung, die voraussichtlich im Frühjahr ihr Amt antreten wird, die Probleme bewältigen kann. Die wirtschaftlichen Probleme sind zu weitreichend, als dass eine Regierung in der Lage wäre, sie mit einigen Maßnahmen und einem stärkeren Parlamentsmandat zu beseitigen. Deutschland könnte also auch nach der Wahl im Februar der kranke Mann Europas bleiben.“
Süden muss als Stütze herhalten
La Vanguardia ist besorgt:
„Deutschland steht seit fünf Jahren still. Zuerst die Pandemie, dann die durch den Einmarsch Russlands in der Ukraine ausgelöste Energiekrise, die mit den steigenden Energiepreisen die Inflation in die Höhe schnellen ließ und die deutsche Industrie schwer belastet hat, und damit auch die europäische Wirtschaft. Es ist erstaunlich, dass es im Moment die südlichen Länder sind, die Europa stützen, während der geschichtsträchtige Motor Frankreich-Deutschland in einer tiefen politischen und wirtschaftlichen Krise steckt.“
Hoffen auf eine bessere Zukunft
La Stampa kommentiert den Umstand, dass in Deutschland nun ein abgewählter Regierungschef im Amt ist:
„So groß die Instabilität auch sein mag, mit der man in der Phase zwischen den Wahlen und der Bildung einer neuen Regierung rechnen muss, ist der Sturz von Olaf Scholz für Europa dennoch ein Moment der Erleichterung. Nun wird die lahme Ente Deutschland – denn diese Rolle spielt das Land nun schon seit einiger Zeit – von einer 'lame duck' angeführt. Aber man kann wenigstens auf eine bessere Zukunft hoffen. ... Ein Deutschland, wie wir es bisher erlebt haben, kann sich in Europa niemand leisten.“
Scholz bleibt unbelehrbar
Zeit Online lässt kein gutes Haar am Auftritt von Scholz:
„Schon zu Ampelzeiten machte der Sozialdemokrat immer wieder durch Unbelehrbarkeit von sich reden, und so findet er denn auch an diesem Montag die Schuld für das Ende der Regierung nicht etwa bei sich, sondern vor allem bei anderen: beim ehemaligen Koalitionspartner FDP. Bei der schwierigen Haushaltslage. Beim Krieg in der Ukraine. ... Gerade in Zeiten, in denen Mehrheiten immer schwieriger zu finden sind, ist Mangel an Selbstkritik ein Irrweg. ... Beschädigt hat Olaf Scholz damit nicht nur eine Regierung, sondern auch den Glauben daran, dass man über die Grenzen politischer Lager hinweg pragmatische Politik machen kann. ... Nach dem heutigen Montag gibt es keine Anzeichen mehr, dass Olaf Scholz dafür der Richtige wäre.“
Die Rezepte von Merz sind von gestern
Dass sich mit einer CDU-Regierung viel ändern würde, bezweifelt Hospodářské noviny:
„Merz geht mit Parolen in die Wahl, die an den sozialdemokratischen Kanzler Gerhard Schröder vom Beginn dieses Jahrtausends erinnern. Damals kürzten die Deutschen den Sozialstaat, die Löhne stiegen nur sehr langsam und die Unternehmen verschafften sich dadurch einen Wettbewerbsvorteil. Aber es reicht nicht mehr aus, solche Schritte zu wiederholen. ... Deutschland hat keine andere Wahl, als vom analogen ins digitale Zeitalter überzugehen. ... Dass es dazu kommen wird, lässt sich aus dem CDU/CSU-Programm noch nicht ableiten. Zudem wird Merz in einer Koalition mit den Sozialdemokraten oder den Grünen regieren müssen. Die Handlungsfähigkeit eines solchen Kabinetts kann ähnlich gering sein wie die des bisherigen.“
Ausgaben-Debatte ist existenziell
El País verweist auf die Bedeutung des Streits über die Schuldenbremse:
„Merz zeigt eine gewisse Konsensbereitschaft darüber, dass die fast schon kulturelle Abneigung gegenüber Haushaltsdefizit überwunden werden muss. ... Die Ausgaben-Debatte ist eine existenzielle Frage in Deutschland, und sie überträgt sich auf die EU. Vor zwei Jahren rechtfertigte Scholz 100 Milliarden Euro Verteidigungsausgaben, die größten seit dem Zweiten Weltkrieg, damit, dass der Krieg in der Ukraine eine Zeitenwende bedeute. ... Ganz Europa hat die Botschaft verstanden. Jetzt sollten die Deutschen das auch tun.“
EU steht gerade ohne Motor da
The Guardian schaut besorgt auf die politische Lage in Deutschland und Frankreich:
„Die politische Dysfunktion in den beiden mächtigsten Mitgliedstaaten der EU fühlt sich wie ein recht unheilvoller Jahresausklang an. Ab Januar wird Trump zweifellos versuchen, seine westlichen Verbündeten in Sachen Wirtschafts- und Außenpolitik einzuschüchtern. Da Paris und Berlin derzeit in Selbstbespiegelung versunken sind, kann man davon ausgehen, dass Europa nicht wirklich auf diese Herausforderung vorbereitet ist.“
Für Warschau eine Chance
Polityka fragt sich, ob Polen von einem schwächelnden Deutschland profitieren könnte:
„Unabhängig davon, wer die nächste Wahl gewinnt, wird eine neue Kanzlerschaft Ordnung in dieses Chaos bringen müssen. Das bedeutet, dass es kaum Spielraum für einen radikalen Politikwechsel zum Beispiel in Bezug auf die Ukraine geben wird, ebenso wie das Führungsvakuum in der EU gefüllt werden muss. Dies könnte eine große Chance für Polen sein, das in zwei Wochen den EU-Ratsvorsitz übernehmen wird. Zum ersten Mal in der jüngeren europäischen Geschichte bedeuten die Schwierigkeiten Berlins also Erfolgsaussichten für Warschau.“