Was würde ein FPÖ-Kanzler für Europa bedeuten?

Österreichs Bundespräsident Alexander Van der Bellen hat den Chef der rechtspopulistischen FPÖ, Herbert Kickl, beauftragt, eine Regierung zu bilden und Koalitionsgespräche mit der konservativen ÖVP zu beginnen. Er habe sich diesen Schritt nicht leicht gemacht und werde darauf achten, dass die Prinzipien der Verfassung eingehalten würden, erklärte das Staatsoberhaupt. Kommentatoren debattieren mögliche Folgen.

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Der Standard (AT) /

Es droht eine Zeitenwende

In Der Standard warnt der Publizist Paul Lendvai vor dem Ende der liberalen Demokratie in Österreich:

„Kickl als Bundeskanzler bedeutet eine Zeitenwende in Österreich – außen- und innenpolitisch, wirtschaftlich und kulturell. Eine von Rechts-außen-Politikern, mit einem Kern von schlagenden deutschnationalen Burschenschaftern, beherrschte Festung wird in der EU zu dem Klub der Zerstörer von Viktor Orbán und Robert Fico gehören. ... Die Steigbügelhalter, Speichellecker, gesinnungs- und charakterlosen Mitläufer stehen auch jetzt bereit, dem blauen Sieger bei der Abschaffung des verhassten 'Systems', der liberalen Demokratie, zu helfen.“

Süddeutsche Zeitung (DE) /

Das muss auch andere Länder alarmieren

Nicht zum ersten Mal droht Österreich zum Präzedenzfall zu werden, kommentiert die Süddeutsche Zeitung:

„Mitte der Neunzigerjahre war hier mit Jörg Haider so etwas wie die Geburt des europäischen Rechtspopulismus zu beobachten. ... Und nun, das Jahr 2025 ist erst einige Tage alt, ist es wieder so weit. Das Szenario, das in Österreich als einem der ersten westeuropäischen Länder einzutreten scheint, sieht so aus: Regierungen kommen nicht mehr ohne Beteiligung oder sogar Führung von Parteien zustande, die in Teilen rechtsextrem sind. Die Situation in Österreich ... erzählt sehr genau vom Zerfall der einstigen Volksparteien und der Schnelligkeit, mit der rechtspopulistische bis rechtsextreme Kräfte an die Macht gehievt werden. Sie könnte der Modellfall sein, den man in einigen Monaten vielleicht auch in Deutschland beobachten kann.“

Polityka (PL) /

Brandmauern funktionieren nicht mehr

Die gescheiterte Regierungsbildung in Österreich hat Signalwirkung, schreibt Polityka:

„Aus Österreich geht eine Warnung an den Rest Europas, denn die Brandmauern erweisen sich angesichts der Auseinandersetzungen innerhalb der etablierten Parteien als nutzlos. Politik 'wie bisher' funktioniert nicht mehr, die Regeln haben sich geändert. Wie das Beispiel aus Wien zeigt, sind die Parteien des im weiteren Sinne demokratischen Lagers nicht mehr bereit, in Koalitionsverhandlungen Zugeständnisse zu machen, nur um die Demokratie vor den Radikalen zu retten. Letztere wiederum geben nicht mehr vor, an einer Regierung im traditionellen Stil interessiert zu sein. Sie spielen effektiv mit Emotionen, vor allem mit negativen, und übertreiben diese bis zum Äußersten.“

NRC (NL) /

Europäische Werte in Gefahr

Wenn eine FPÖ-Regierung zustande kommt, steht die EU auf der Verliererseite, mahnt NRC:

„Sowohl das Programm der FPÖ als auch frühere Aussagen Kickls widersprechen fundamental den Werten, für die die EU steht, auf dem Gebiet von Menschenrechten, Rechtsstaat und Medienfreiheit. Kickl befürwortet gute Verbindungen mit Russland, um die Gaslieferungen nach Österreich aufrechtzuerhalten. Er will Migranten abweisen, Klimaaktivisten strenger bestrafen und Transgender-Personen rechtlich ausgrenzen. Österreich gesellt sich zu anderen Mitgliedsstaaten in Mitteleuropa, in denen anti-europäische Populisten viel politische Macht bekommen haben.“

Dnevnik (SI) /

Kickl könnte schaffen, was Haider nicht gelang

Die FPÖ wäre bereits zum fünften Mal an einer österreichischen Regierung beteiligt – und doch ist diesmal etwas anders, betont Dnevnik:

„Der wesentliche Unterschied besteht darin, dass die extreme Rechte diesmal Chancen auf den Kanzlerposten hat. Was der Kärntner Landeshauptmann [Haider] nie geschafft hat, liegt jetzt in der Hand von Kickl, einem Euroskeptiker, einem Skeptiker der Machtteilung, einem großen Kritiker der Professionalität der österreichischen Medien, einem Russland zugeneigten Politiker und Mitbegründer der 'Patrioten Europas', durch die er gemeinsam mit Orbán und Wilders die EU verändern will. Wenn Kickl österreichischer Bundeskanzler wird, wird der Einfluss der extremen Rechten in der europäischen Welt noch stärker sein.“

Die Presse (AT) /

Tiefpunkt politischen Handwerks

Die gescheiterten Koalitionsverhandler lassen jegliche Reife vermissen, kritisiert Die Presse:

„Das vergangene Wochenende hat nicht nur die ÖVP, sondern das ganze Land ins politische Chaos gestürzt. ... Die Schuldfrage ist müßig, muss aber gestellt werden. Dass die Elite dreier sich selbst als 'staatstragend' bezeichnenden Parteien [ÖVP, SPÖ, Neos] in drei Monaten keine Einigung erzielt, ist der vorläufige Tiefpunkt des politischen Handwerks in diesem Land. Von Steuergeldern gut bezahlte Berufspolitiker schaffen es also nicht, was man von erwachsenen Menschen täglich abverlangt: Kompromisse finden, Probleme lösen.“

Zeit Online (DE) /

Unredliche Wählertäuschung

Zeit Online ist empört:

„Die Konservativen brechen ... eines ihrer zentralen Wahlversprechen, keine Koalition mit der FPÖ von Herbert Kickl einzugehen. Und nicht nur das: Sie würden, wenn das Regierungsbündnis zustande kommt, Österreich in eine neue Ära führen, in ein Land, das sich schon bald ein Vorbild an den politischen Verhältnissen in Ungarn nehmen könnte. ... Mit [Nehammers] Rücktritt ist auch die letzte Brandmauer gegen die Rechtspopulisten gefallen. ... Redlich wäre gewesen, nach dem Scheitern der Koalitionsverhandlungen in Neuwahlen zu gehen und in einen Wahlkampf, in dem man die Option einer Zusammenarbeit mit der FPÖ eben nicht ausschließt. So aber hat die ÖVP ihre Wähler getäuscht und macht sich zum Steigbügelhalter eines Rechtspopulisten.“

Salzburger Nachrichten (AT) /

ÖVP spielt auf Zeit

Für die Salzburger Nachrichten ist der neue Chef der heutigen Kanzlerpartei nur eine Übergangslösung:

„Auch mit der Betrauung von Christian Stocker mit der Parteiführung spielt die ÖVP auf Zeit. Er wird nicht der definitive Parteichef für die nächsten Jahre sein, sondern er übernimmt die Partei nur so lange, bis die ÖVP weiß, ob sie einen Obmann für einen neuerlichen Wahlkampf oder einen Parteichef und Vizekanzler für eine blau-schwarze Koalition braucht. Stocker ist also eine Übergangslösung und wird die nun wohl anstehenden Koalitionsverhandlungen mit der FPÖ führen. Dann wird man weitersehen. Es kann sein, dass die ÖVP wirklich in eine solche Koalition eintritt. Es kann aber genauso sein, dass es ... zu keiner Einigung mit Kickl kommt.“

La Repubblica (IT) /

Ergebnis von monatelangem vergeblichen Verhandeln

La Repubblica ist nicht erstaunt über die Entwicklung:

„Die plötzliche Beschleunigung in Richtung einer Regierung, die Österreich auf die pro-russische Achse Ungarn-Slowakei zu bewegen droht und Mitteleuropa schwarz färbt, mag überraschend erscheinen. Doch die Gründe dafür liegen auf der Hand. Am Samstagabend trat Karl Nehammer den Rückzug als Chef der Volkspartei ÖVP und als Bundeskanzler an. In drei Monaten war es ihm nicht gelungen, eine Regierung mit gemäßigten Kräften zu bilden. Er hatte ein Bündnis mit Kickls extremer Rechten stets ausgeschlossen und war stets das größte Hindernis für eine Annäherung an die FPÖ gewesen. Gestern jedoch sagte sein Nachfolger [an der Parteispitze] Christian Stocker, man werde sich vor Gesprächen mit der extremen Rechten nicht scheuen.“

Exxpress (AT) /

Kein Umsturz zu befürchten

Der Publizist Christian Ortner sieht auf dem weit rechts stehenden Onlineportal eXXpress bei FPÖ-Chef Kickl keine Gefahr einer autoritären Wende:

„Evident ist, dass der Mann einige Seiten hat, die ihn nicht eben als Kanzler qualifizieren. ... Ausschließungsgrund vom Kanzleramt jedoch ist das keiner. Genauso wenig wie im Falle seiner Kanzlerschaft ein Umbau des Landes in ein autoritäres Konstrukt droht, wie das manche seiner Kritiker und Gegner geschüttelt von einer Angstlust prophezeien. Dies wird schon allein deshalb nicht möglich sein, als die FPÖ ja von einer parlamentarischen Mehrheit weit entfernt ist, von einer für solche Maßnahmen notwendigen Verfassungsmehrheit ganz zu schweigen. ... Der Anspruch auf die Übernahme der Regierungsverantwortung wird ihm [Kickl] auf Grund der enormen Stärke der FPÖ kaum noch zu nehmen sein.“

Respekt (CZ) /

Das Gespenst der Unregierbarkeit geht um

Respekt sieht einen Trend:

„Ein neues Gespenst geht um in Europas Demokratien – das Gespenst der Unregierbarkeit. Ende des Jahres brachen die Regierungen in Frankreich und Deutschland zusammen, die Regierungsbildung in den Niederlanden war äußerst kompliziert. Jetzt das Scheitern der Verhandlungen in Österreich. ... Es gibt einen Trend des stetigen Erstarkens der extremen Rechten. Sie profitiert von zahlreichen Krisen, von Schwierigkeiten bei der Integration von Einwanderern, vom Aufstieg sozialer Netzwerke auf Kosten traditioneller Medien und vom allgemeinen Pessimismus in Europa. Die Bildung von Koalitionen ohne die Beteiligung dieser Parteien wird – wie die aktuellen Entwicklungen in Österreich zeigen – immer schwieriger.“