Streit nach Armenien-Resolution verschärft sich
Wegen Morddrohungen nach der Armenien-Resolution erhalten türkischstämmige Bundestagsabgeordnete jetzt verstärkten Polizeischutz. Präsident Erdoğan beschimpfte die Parlamentarier vergangene Woche, Bundestagspräsident Lammert und EU-Parlamentspräsident Schulz übten daraufhin scharfe Kritik. Höchste Zeit, dass die Türkei in die Schranken gewiesen wird, finden Kommentatoren.
Rote Karte für die Türkei
Die Ausfälle Erdoğans nach der Armenien-Resolution vergangene Woche lassen einen EU-Beitritt der Türkei in weite Ferne rücken, glaubt Jyllands-Posten:
„Der Türkei muss unmissverständlich klargemacht werden, dass, sollte sich die derzeitige Entwicklung fortsetzen, der Weg nur in eine Richtung führen kann - weg von Europa. Die europäischen Werte lassen eine Türkei dieser Tage nicht in der EU zu und eigentlich nicht einmal eine Zusammenarbeit mit der Türkei. Erdoğan wird nur deshalb nicht mit Putin gleichgesetzt, weil eine realpolitische Analyse zu den Prioritäten führt, die die EU jetzt gesetzt hat. Aber es gibt einen Tag nach Erdoğan und dann münden die Verhältnisse hoffentlich in konstruktivere Bahnen. Die geografische Lage der Türkei legt eine enge Zusammenarbeit mit Europa nahe. Aber der Präsident des Landes ist derzeit schlichtweg unseriös.“
Erdoğans Arm reicht weit
Die Drohungen gegen deutsch-türkische Abgeordnete nach Verabschiedung der Armenien-Resolution weisen auf eine zunehmende Einflussnahme der Türkei innerhalb Europas hin, meint De Telegraaf und warnt vor ähnlichen Ereignissen in den Niederlanden:
„Die Bedrohung der Mitglieder des Bundestags unterstreicht, dass unsere westlichen Freiheiten unter Beschuss stehen. ... Die deutschen Volksvertreter müssen Zuflucht im Polizeischutz suchen wegen der Bedrohungen aus der (deutsch)-türkischen Ecke. Das zeigt erneut, wie weit der Arm von Erdoğan reicht. Auch in den Niederlanden ist der Keim gelegt für Hass gegen alles und jeden, der Kritik an der türkischen Regierung übt. Dabei fällt die neue politische Bewegung Denk auf. Die früheren sozialdemokratischen Abgeordneten Kuzu und Özturk manifestieren sich wiederholt als Sprachrohr von Ankara. ... Wenn Denk Erfolg hat, dann wird die Zwietracht in unserem Land zunehmen. Denn dann ist der türkische Arm erneut länger geworden.“
Merkel kuscht vor Erdoğan
So entschieden wie Norbert Lammert hätte auch Angela Merkel die Attacken gegen türkischstämmige Bundestagsabgeordnete zurückweisen müssen, kritisiert der Deutschlandfunk:
„In wenigen Minuten hat der Präsident des Deutschen Bundestages … alles gesagt, was gesagt werden muss. Er sprach ohne Schaum vorm Mund, beherrscht und gleichzeitig schneidend im Ton, inhaltlich war es eine Ohrfeige für den türkischen Präsidenten. ... Angela Merkel hatte in den vergangenen Tagen alle Möglichkeiten, die deutlichen Worte zu finden, die Norbert Lammert … ausgesprochen hat. 'Nicht nachvollziehbar' seien die Aussagen von türkischer Seite, hatte sie am Mittwoch gesagt. Eine harmlose Formulierung, die keinesfalls Schutz für die bedrohten Abgeordneten bedeutete, sondern vor allem das Bild einer Bundesregierung bediente, die den Mächtigen in Ankara möglichst nicht erzürnen will.“
Faschistische Rituale in der Türkei
Erdoğans Angriff auf türkischstämmige Bundestagsabgeordnete ist Ausdruck der Mentalität des türkischen Regimes, urteilt die Wochenzeitung der armenischen Minderheit Agos:
„Diese Reaktionen kamen nicht unerwartet, doch wie immer erhoben sie die Leugnung von 1915 zum Kult. Diese Art faschistischer Rituale treten in einem immer gewalttätigeren Umfeld und im Zusammenspiel mit dem Kurdenkonflikt auf. ... Ironischerweise wird die 'Blut-Politik' bei beiden Themen angeführt um zu beweisen, dass die Türkei kein rassistisches Land ist. So soll die Türkei 1915 nichts Beschämendes getan haben und im Land kein Kurdenproblem existieren. Gleichzeitig kursieren aber Slogans wie 'der beste Armenier ist ein toter Armenier' oder Forderungen in den sozialen Medien, wonach die Kurden umgesiedelt werden sollten. ... Zugleich sind wir konfrontiert mit einem dreisten Regime, das von den Enkeln eines ermordeten und vertriebenen, enteigneten und in Angst lebenden [armenischen] Volks fordert, an der Leugnung teilzunehmen.“
Regierung äußert sich völlig unqualifiziert
Erdoğan hat am Sonntag erklärt, die türkischstämmigen Abgeordneten des Bundestags, die für die Armenien-Resolution gestimmt haben, seien keine richtigen Türken und sollten einem Bluttest unterzogen werden. Die Tageszeitung Milliyet übt scharfe Kritik an den Aussagen der Regierung:
„So sagte etwa Justizminister Bekir Bozdağ, 'Menschen wie diese, gesäugt mit schlechter Muttermilch und von schlechtem Blut, können weder die Türkei noch das türkische Volk vertreten'. Wenn die Türkei sich so verteidigt, dann kann man das nicht einmal Selbstverteidigung nennen, sondern Unterstützung der Gegenseite. Selbst aus den Kaffeehäusern der Provinz kommen qualifiziertere Kommentare. Dabei ist es Aufgabe der Regierung, Recht und Gerechtigkeit in der Türkei zu verteidigen und in der Öffentlichkeit ein Bewusstsein dafür zu schaffen.“
Erdoğans Aussagen schaden Türken
Dass der türkische Präsident Deutschland wegen der Anerkennung des Genozids an den Armeniern verurteilt, schadet nach Ansicht von Trouw nicht nur seinem Land:
„Die Art und Weise, mit der die Türkei und ihre Führer mit Kritik umgehen, wird zu einem immer größeren Problem. Indem er wiederholt hart gegen Kritiker vorgeht, sowohl in der Türkei als auch außerhalb, erstickt Erdoğan die Debatte in seinem Land, die so notwendig ist für dessen volle Blüte. Die Meinungsfreiheit ist entscheidend für die Entwicklung der Türkei und bildet die Basis für einen vernünftigen Umgang mit den Nachbarländern und anderen Partnern. Indem er wiederholt die Loyalität der Türken im Ausland fordert, belastet er zudem die erfolgreiche Integration dieser Migranten in ihrem neuen Heimatland. Sie müssen sich frei fühlen, vollwertig an den Debatten in ihrem Land teilzunehmen, auch wenn diese die Geschichte der Türkei betreffen.“
Genozid aufarbeiten, nicht leugnen
Hysterische Reaktionen der Türkei sind nicht neu, wenn man den Genozid an den Armeniern anspricht, konstatiert die Pravda:
„Dessen Leugnung ist Teil der türkischen Staatsdoktrin geworden. Ankara verbreitet zudem weltweit sein eigenes revisionistisches Bild dessen, was vor 101 Jahren geschah. Das ist ebenso absurd, als würde heute jemand in Deutschland den Holocaust leugnen. Dem würde Gefängnis wegen Verbreitung der Auschwitzlüge drohen. In der Türkei erlebt man das genaue Gegenteil. Bemerkungen über den armenischen Genozid sind dort als 'Beleidigung des Türkentums' strafbar. ... Die Türkei bleibt aber in ihrer Vergangenheit gefangen. Die Deutschen gesellten sich jetzt nur zu den mehr als zwei Dutzend Ländern, die das Verbrechen laut ansprachen. ... Diese Frage sollte nicht ständig unter den Teppich gekehrt werden. Man muss versuchen, sie aufzuarbeiten. Einen anderen Weg zu wirklicher Versöhnung gibt es nicht.“
Längst überfällige Resolution
Der Beschluss des Bundestags war nach Ansicht der Neuen Zürcher Zeitung richtig:
„Man kann darüber streiten, welche Motive die deutschen Parlamentarier hegten, dass sie die längst überfällige Völkermord-Resolution erst jetzt verabschiedeten, nachdem sie 2015 darauf verzichtet hatten. Der Wunsch, Präsident Erdoğan eins auszuwischen oder auch der Bundesregierung, die seit langem unter Verdacht steht, vor dem türkischen Machthaber zu kuschen, spielte sicher eine Rolle. Dennoch steht es dem Bundestag gut zu Gesicht, den Parlamenten anderer Länder gefolgt zu sein und so wie Frankreich, die Schweiz, Kanada oder die Niederlande den Völkermord endlich beim Namen zu nennen. Genauso wichtig war es, sich zur deutschen Mitschuld zu bekennen. Sich nur weiter zurückzuhalten, wäre letztlich nichts anderes als feige gewesen - und hätte den Vorwurf der Erpressbarkeit erst recht verstärkt.“
Völkermord an Armeniern hat es nie gegeben
Als politischen Schlag gegen das Land, verurteilt die regierungstreue Tageszeitung Star die Resolution:
„Die Entscheidung des Bundestags zielt darauf ab, die Türkei komplett unter Kontrolle zu halten, ihre Aufnahme in die EU zu behindern und sich Erdoğan nicht zu beugen. ... Im ersten Weltkrieg haben Türken und Armenier große Schmerzen erlebt. Aber einen armenischen Völkermord hat es nicht gegeben. In der Geschichte dieser Nation wurde niemals und an niemandem nur wegen seiner Rasse ein Völkermord verübt. Diese Nation hat Tausende von armenischen Kindern adoptiert. Es ist eine Nation, die den Juden, die vor ungefähr 500 Jahren aus Spanien flohen, ihre Arme geöffnet hat. Deutschland kann die Gewissensqualen wegen seines Völkermords an den Juden nicht lindern, indem es uns zu seinen Komplizen macht.“
Richtige Entscheidung im falschen Moment
Der Bundestag hat die Resolution zu einem äußerst ungünstigen Zeitpunkt verabschiedet, meint der Deutschlandexperte Gian Enrico Rusconi in der Tageszeitung La Stampa:
„Im Rahmen des Flüchtlingsabkommens forderte Ankara als Gegenleistung nicht nur die Visafreiheit und die Wiederaufnahme der Beitrittsverhandlungen, sondern auch die Nichteinmischung in 'innere Angelegenheiten' des Landes. … Unter innenpolitischem Druck und am Ende seiner Geduld hat Erdoğan Brüssel gedroht, den Pakt zu brechen. Einen ungünstigeren Moment konnte es somit für die Resolution des Bundestags nicht geben. Unklar ist, wer jetzt die Fäden wieder aufnehmen soll. Ich weiß nicht, ob Erdoğan sich darauf beschränken wird, den Einsatz im Poker mit der EU zu erhöhen, oder ob er den verletzten Nationalstolz nutzt, um seine autokratische Macht noch weiter auszubauen.“
Streit um die Resolution ist peinlich
Das Ganze Verfahren rund um die Resolution ist ein Trauerspiel, kritisiert Die Welt:
„Der SPD-Außenminister flieht bis nach Südamerika, um der Abstimmung nicht beiwohnen zu müssen. Und auch die Kanzlerin erwägt augenscheinlich, sich wegen ihres Flüchtlingsdeals mit dem türkischen Präsidenten Erdoğan bei der Abstimmung über die Armenien-Resolution auf einer naturwissenschaftlichen Konferenz zu verstecken. Das ist peinlich. Wirklich traurig ist hingegen das Verhalten einiger türkischer Verbände in Deutschland. Manche Funktionäre ... überschütten seit Tagen die Abgeordneten mit Pamphleten, Anrufen und vereinzelt auch Drohungen. Dass sie sich dabei vor allem auf Abgeordnete mit türkischem Hintergrund konzentrieren, sagte alles über ihr falsches Selbstverständnis: Diese Abgeordneten sind doch nicht Exklusivvertreter einer Minderheit.“
Erdoğan darf nicht deutsche Politik bestimmen
Die Abstimmung des Deutschen Bundestages über eine Armenien-Resolution kommt zwar zu Unzeit, aber sie ist richtig, urteilt Sme:
„Das nennt man schlechtes Timing, hat doch Europa gerade ein fragiles Abkommen zur Flüchtlingsfrage mit der Türkei abgeschlossen. Es wäre deshalb verständlich gewesen, wenn Angela Merkel interveniert oder die Resolution verwässert hätte. Manchmal ist es besser, einem Kampf aus dem Weg zu gehen für ein höheres Prinzip. ... Andererseits wird es immer schwieriger zu glauben, dass weitere Zugeständnisse Europas an Erdoğan Sinn haben. ... 'Wir gehen unseren Weg, geht Ihr euren', sagte er. Es wäre ein Fehler, Erdoğan in dieser Situation zu erlauben, weiter die Karten zu mischen und das am Ende auch noch in der deutschen Innenpolitik. Aus Erdoğan ist ein Erpresser geworden, der in Europa Angst vor sich nährt. Und wie jeden Erpresser können nur wir ihn entwaffnen und uns somit von unserer Angst befreien.“
Nationalistische Ignoranz regiert die Türkei
Der neue türkische Premier Binali Yıldırım (AKP) hat am Mittwoch erklärt, die Ereignisse von 1915 seien kein Völkermord an den Armeniern gewesen, sondern im Rahmen des 1. Weltkrieges gewöhnliche Ereignisse. Kolumnist Hasan Cemal zeigt sich in der liberalen Internetzeitung T24 entsetzt:
„Die ganze Welt hat die Ereignisse von 1915 als Genozid anerkannt. Das ist nicht zu leugnen. Doch selbst wenn man es nicht Völkermord nennt, so könnte man mit Rücksicht auf die Überlebenden zumindest sein Beileid bekunden. ... Bei Premier Yıldırım sind solche Gefühle nicht zu finden. Er wagt es, 1915 als gewöhnliches Ereignis zu bezeichnen. ... Ist soviel Emotionslosigkeit ein Produkt der Ignoranz? Oder eine bewusste Haltung, um nationalistische Stimmen zu ergattern? Es ist mir egal. Aber einst war die AKP-Führung anders. ... Doch seitdem ist viel Zeit vergangen. ... Ist das überraschend? Nein. Denn in diesen Tagen entsteht ein islamistisch-nationalistisches Bündnis.“
Auch Dänemark darf nicht schweigen
An der Debatte über die Armenier-Resolution im Bundestag sollte sich Dänemark ein Vorbild nehmen, fordert Kristeligt Dagblad:
„Die dänische Regierung spielt dem türkischen Revisionismus in die Hände, wenn sie schweigt, wo sie sprechen sollte. Das Hauptargument dagegen, einen Völkermord auch Völkermord zu nennen, ist, dass die Beziehung zur Türkei zu einem Zeitpunkt belastet werden könnte, an dem wir die Türkei militärisch und in der Flüchtlingspolitik brauchen. Aber es wird immer pragmatische Argumente geben, die Vergangenheit zu verleugnen. Auf lange Sicht ist es demokratisch unhaltbar, dass Politiker daran mitwirken, den Umfang dieses Massakers zu verbergen. Die dänische Regierung will die Christenverfolgung in der ganzen Welt bekämpfen. Dass man nicht den Mut hat, über die Verfolgung zu sprechen, die die christliche Bevölkerung des Osmanischen Reiches um 1900 drastisch dezimierte, zeigt, wie inhaltsleer diese Aussage ist.“
Völkermord-Vorwurf ist inakzeptabel
Mehr als 500 türkische Organisationen haben in Deutschland zu Protesten gegen die Völkermord-Resolution des Bundestags aufgerufen. Kolumnist Akif Beki schließt sich in Hürriyet dem Protest an, lobt aber zugleich die Toleranz deutscher Politiker:
„Was man versucht im Bundestag zu beschließen, ist inakzeptabel. Ich unterstütze die Kritik der Türkei und der Deutschtürken voll und ganz. Man sollte sie dafür loben. Ich hege keinen Funken Zweifel daran, dass die deutschen Politiker, die hinter dem Entwurf stehen, die härtesten Reaktionen verdienen. Allerdings versuchen die Politiker weder die entfachte Wut zu verbieten, noch kriminalisieren sie die Aktionen oder verurteilen sie als von außen gesteuerte Straftaten gegen den Staat. Sie bringen einerseits die Leute auf, tolerieren aber andererseits den Aufstand. Ist das nicht erstaunlich?“
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