Entscheidet sich 2019 Europas Zukunft?
Für Europa hat ein ereignisreiches Jahr begonnen: Großbritannien plant im März den Austritt aus der EU und im Mai wird ein neues Europaparlament gewählt. Kommentatoren wagen einen Ausblick und beschreiben 2019 als das Jahr, in dem sich das Schicksal der Europäischen Union entscheiden könnte.
Antiliberalen Ballast abwerfen
Für die Bloggerin Adelina Marini gibt es in europapolitischer Hinsicht eine entscheidende Frage im kommenden Jahr, die sie in Sega beschreibt:
„Was machen wir mit den autochthonen Diktaturen? ... Wollen wir sie in der EU behalten? Und welchen Preis müssten wir dafür zahlen, wenn wir zuließen, dass die Antiliberalen die EU verließen oder wir sie sogar dazu zwingen würden, sie zu verlassen? ... Während der langwierigen Griechenlandkrise hat man in mehreren Mitgliedsländern Rechnungen angestellt, was der EU-Austritt des Landes kosten würde. Können diese Rechnungen als Schablone für die Kalkulation der Risiken dienen, die entstehen würden, wenn man den antiliberalen Ballast abwerfen würde? Eine Frage, die wohl niemand aussprechen wird, die aber im neuen Jahr in der EU im Raum stehen wird.“
Politiker und Volk haben sich nichts zu sagen
Die Demokratie wird gleich von zwei Seiten gefährdet, analysiert die Politologin Nadia Urbinati in La Repubblica:
„Die Mitgift für das neue politische Jahr sind zwei entgegengesetzte Tendenzen: Führungskräfte, die sich als 'Volk' bezeichnen, und Massen, die sich weigern, als Volk durch Politiker repräsentiert zu werden. ... Italien ist ein Lehrstück für das erste Phänomen, Frankreich für das zweite. ... Beide Phänomene sind Anzeichen für den Machtverlust der Demokratie, von der keine politische Kraft mehr weiß, wie sie sie repräsentieren soll. ... Politiker und Massen bewegen sich nebeneinander her und sind intolerant gegenüber Vermittlern.“
Bürger werden aktiv
Neue Dynamiken in der Zivilgesellschaft stimmen L'Obs hingegen positiv auf das neue Jahr ein:
„Abgesehen von der Empörung der Gelbwesten betonen immer mehr Stimmen die Notwendigkeit, unser Demokratiemodell zu überdenken. Zu beobachten ist vor allem eine ständig zunehmende Anzahl an Bürgern, Unternehmern und Vereinsleitern, die lokale Initiativen ergreifen, um die Gesellschaft solidarischer und nachhaltiger zu machen. Und die überwältigende Mehrheit junger Hochschulabsolventen ist auf der Suche nach sinnstiftenden Aufgaben, denn sie glaubt, wie es Albert Camus in seinem Essay zum Sisyphos-Mythos formulierte, 'dass es keine schlimmere Strafe gibt als unnütze und aussichtslose Arbeit'.“
Schicksal der EU liegt in den Händen der Wähler
Der Diplomat und Schriftsteller Sergio Romano beschreibt in Corriere della Sera die Herausforderungen, vor denen die EU in diesem Jahr steht:
„Der britische Austritt wird dem Vereinigten Königreich mehr Schaden zufügen als der EU, doch könnte er weitere Sezessionen auslösen. ... Die EU wird von Parteien bedroht, die das 'System' hassen. Dennoch erweist sie sich in einigen Fällen und entgegen Verleumdungen als konsequent und steht treu zu den Prinzipien, für die sie geschaffen wurde: etwa bei den Verhandlungen mit Großbritannien, bei der Bekämpfung der globalen Erwärmung und bei der Verteidigung des Handelsmultilateralismus. Ich hoffe, dass diese Überlegungen von den Wählern berücksichtigt werden, wenn sie für die Erneuerung des Europäischen Parlaments im Mai 2019 stimmen werden.“
Mögen uns Katastrophen erspart bleiben
Auch Wirtschaftsjournalist Ruben Mooijman hält 2019 für ein schicksalhaftes Jahr, wie er in De Standaard schreibt:
„Die Wahl zum Europäischen Parlament wird wichtiger denn je, weil die Mitgliedsländer über so viele Themen uneins und europaskeptische Parteien in so vielen Ländern im Aufwind sind. ... Und dann das wichtigste Ereignis 2019: Die Abspaltung Großbritanniens von der Europäischen Union. Dass darüber noch immer höchste Unsicherheit herrscht, stimmt wenig hoffnungsvoll. In dieser Hinsicht wünschen wir den Briten, dass sie einen kühlen Kopf behalten und gut über die Konsequenzen ihrer Entscheidungen nachdenken. Nicht nur für sich selbst, sondern auch für den Rest Europas. Hoffentlich bleiben uns Katastrophenszenarien erspart, die manche vorhersagen, und hoffentlich verläuft der Übergang ordentlich und mit minimalem wirtschaftlichen Schaden.“
Projekt Europa könnte trauriges Ende nehmen
Die Europawahl 2019 entwickelt sich zur Schicksalsentscheidung zwischen EU-Integratoren und EU-feindlichen Populisten, prophezeit Nowoje Wremja:
„Wenn die Integratoren siegen, dann erhält die EU eine Chance, sich in eine ernsthafte Kraft zu verwandeln, mit der in der Welt gerechnet werden muss. Wenn jedoch die Populisten siegen, dann ist das der Anfang des Verfalls und des Endes der Europäischen Union. Emmanuel Macron hat übrigens vor einiger Zeit erklärt, dass die Mehrheit der Franzosen bei einem Referendum für den EU-Austritt stimmen würde - wie auch die Briten 2016. Davor rettet derzeit nur, dass es kein Referendum gibt. Das kommende Jahr muss zwingend zum Jahr des Kampfes für all jene Kräfte werden, die gegen das schrittweise Auseinanderfallen der EU aufbegehren. Andernfalls könnte das Projekt sehr traurig enden.“
Leider kein Grund für Optimismus
Im neuen Jahr gibt es in Europa zu viele Unsicherheiten, um positiv gestimmt zu sein, meint Daily Sabah:
„Der Brexit ist nicht nur das Problem Großbritanniens, er beeinflusst auch die EU. Und was ist mit Frankreich? Können wir über eine Zukunft mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron reden, nachdem Frankreich Ende 2018 von den Gelbwesten eingenommen wurde? Und was planen die Katalanen 2019 in Spanien? An der Wirtschaftsfront sieht es sowohl in Italien als auch in Spanien nicht rosig aus. Und was ist mit Griechenland? Alle halten sich damit zurück, diese Frage zu stellen. ... 2019 wird ein hartes Jahr für die EU. Ja, leider können wir nicht besonders optimistisch sein, wenn wir ins neue Jahr blicken.“
Rechtsruck geht weiter
El Periódico de Catalunya betrachtet Gemeinsamkeiten und Unterschiede verschiedener rechtspopulistischer und rechtsextremer Bewegungen in Europa und weltweit:
„Alle, von Trump über Bolsonaro und Orbán bis Salvini haben einiges gemein: Beschneiden der Bürgerrechte und Freiheiten, freie Bahn für Rassismus, Torpedieren internationaler Handelsbeziehungen und Anstacheln eines ranzigen Nationalismus. ... Mit dem Erfolg von Vox bei den Andalusien-Wahlen legte Spanien eine Sonderrolle ab, um eine neue einzunehmen. Auch Spanien hat jetzt eine rechtsextreme Partei. Aber im Gegensatz zum restlichen Europa wird sie nicht isoliert, sondern man paktiert mit ihr ohne Berührungsängste. Erhalten die Populisten im restlichen Europa vor allem durch die Angst vor Einwanderung Auftrieb, ist es in Spanien die Ablehnung des katalanischen Separatismus.“
Es bleibt stürmisch
Die EU gibt zum Jahreswechsel ein zwiespältiges Bild ab, meint die Süddeutsche Zeitung:
„Die Union der Europäer scheint sich gefangen zu haben. Sie existiert nicht mehr in jenem Dauerkrisenmodus, der die Mitte des Jahrzehnts prägte, und sie wirkt nicht mehr unmittelbar vom Zerfall bedroht. Andererseits ist kein Fortschritt zu erkennen, weil es keine Richtung gibt, in die die Mitgliedstaaten gemeinsam gehen. ... Und 2019? Wird, folgt man dem politischen Kalender der EU, ein 'Übergangsjahr', das heißt, es geht mehr um das Personal als um Inhalte: Das Europäische Parlament wird neu gewählt, die Kommission wird ausgewechselt, und die Staats- und Regierungschefs müssen über die Nachfolge von Ratspräsident Donald Tusk entscheiden. ... Aber gemütlich wird es sicher nicht werden in der EU, eher stürmisch bleiben, schon allein wegen der innenpolitischen Krisen in Großbritannien und Frankreich.“
Europawahlen bedrohen die Einheit
Die Europawahlen im Mai könnten sich für die EU zum Albtraum des Jahres entwickeln, meint der Professor für Politikwissenschaften, Panagiotis Ioakeimidis, in To Vima Online:
„Es werden die wichtigsten Europawahlen seit den ersten im Jahr 1979 sein - vielleicht die Wahlen des Umsturzes. ... Denn im kommenden Mai werden unterschiedliche Vorstellungen von Europas Zukunft aufeinandertreffen: die ethnopopulistische Sichtweise der Rechtsextremen, die toxische linksextreme Version sowie die Perspektive demokratischer politischer Kräfte, die sich Einheit wünschen. ... Für Letztere bedroht der Ethnopopulismus nicht nur die Einheit Europas, sondern auch die Demokratie selbst.“
Russland und Westen auf Konfrontationskurs
Die Beziehungen zwischen Moskau und dem Westen werden sich wohl auch im neuen Jahr kaum verbessern, prophezeit Radio Kommersant FM:
„Die USA werden weiterhin portionsweise neue Sanktionspakete erlassen, während Russland dort ein Schlüsselfaktor der innenpolitischen Auseinandersetzung bleibt. Die Demokraten werden mit ihrer im Kongress errungenen Mehrheit wohl für die Erfindung immer neuer Druckmittel gegen den Kreml sorgen, der nach ihrer Überzeugung mit seiner Einmischung in die US-Politik Trump geholfen hat, an die Macht zu kommen. Europa ist vom Brexit erschüttert und geschwächt durch die Krise in Frankreich und den bevorstehenden Abgang von Bundeskanzlerin Merkel. Das erschwert es, harte und konsolidierte Politik zu machen und dem wachsenden US-Druck zu widerstehen, darunter auch in der Frage zu 'Nord Stream 2'.“
Ein innovatives Jahr
2019 wird ein Jahr des technischen Umbruchs, prognostiziert 24 Chasa:
„Es wird das entscheidende Jahr im Kampf gegen Autos mit Verbrennungsmotoren. Die großen Hersteller stehen immer mehr unter Druck, hybride oder gänzlich elektrische Autos zu bauen. ... Die Nutzung sozialer Netzwerke wie Facebook wird zurückgehen. Das persönliche Gespräch wird den Chat ablösen. Die Zeit, die man mit Freunden und Verwandten in der realen statt der virtuellen Welt verbringt, ist zum Luxus geworden, und wie nach jedem Luxusgut werden immer mehr Menschen danach streben. ... Und die Künstliche Intelligenz wird endgültig der heißeste IT-Trend werden und immer mehr menschliche Arbeit ersetzen. Doch bevor es soweit ist, müssen wir dafür sorgen, dass der 5G-Standard für mobiles Internet weltweit mehr Gebiete erreicht.“
Tschechiens Biertrinker satteln auf Brause um
Kommentator Luboš Palata prophezeit im Prager Landesecho wie in jedem Jahr die unwahrscheinlichsten Entwicklungen im kommenden Jahr:
„Dank einer Anti-Alkohol-Kampagne sinkt der Bierkonsum im weltgrößten Bierland Tschechien um 80 Prozent. Die Brauereien spezialisieren sich auf Apfelmost und Himbeerlimonade. ... Moskau zieht sich nach den ukrainischen Präsidentschaftwahlen, die der schlagstarke Witali Klitschko gewinnt, sicherheitshalber von Krim und Donbass zurück und zahlt Milliarden schwere Reparationen. Der neue Kreml-Herr Michail Chodorkowski bewirbt sich mit Russland um Aufnahme in Nato und EU. Nach beschleunigten Verhandlungen werden Russland, die Ukraine und Großbritannien Ende des Jahres EU-Mitglied. Theresa May verkündet die Abkehr vom Brexit mit den Worten: 'April, April!'. ... Donald Trump löscht seinen Twitter-Account und liest Dostojewskis 'Brüder Karamasow'. Als richtigen Roman, nicht als Comic.“