Warum sperrt sich Rom gegen Migrationskompromiss?
In die festgefahrenen Verhandlungen über eine europäische Flüchtlingspolitik ist Bewegung gekommen: 14 EU-Staaten unterstützen grundsätzlich einen deutsch-französischen Kompromissvorschlag zur Verteilung von im Mittelmeer geretteten Migranten, acht von ihnen sicherten sogar eine aktive Beteiligung zu. Doch Italien kündigte Widerstand gegen die Lösung an - was für Kommentatoren eine große Rolle spielt.
Blockade durch Schlüsselländer
Die beiden wichtigsten Länder wollen leider nicht mitmachen, klagt L'Humanité:
„Der Kompromiss, der auf Initiative von Paris und Berlin ausgearbeitet wurde, kann nur dann wirksam sein, wenn auch Italien und Malta ihre Häfen für sämtliche Schiffe öffnen, die auf dem Mittelmeer Flüchtlinge retten. Auf diese Bedingung hat Italiens Innenminister Matteo Salvini, der nicht hinnehmen will, dass sein Land 'Befehle erhält', umgehend reagiert. Der Chef der extremen Rechten lehnt die Einigung ab und beschuldigt deren Initiatoren, Italien zum 'Flüchtlingslager Europas' machen zu wollen.“
Salvini (miss)braucht die Flüchtlingskrise
Salvini braucht das Flüchtlingsproblem für seinen Dauerwahlkampf, wettert Avvenire:
„Der Innenminister hat nicht die Absicht, eine europäische Einigung im Asylbereich zu erzielen. ... Es ist klar, dass er es als gewinnbringend ansieht, den Nationalismus wiederzubeleben, seine unmenschliche Politik der 'geschlossenen Häfen' zu bekräftigen und die Wut des Volkes auf NGOs und Solidaritätsnetzwerke zu lenken. ... Salvini hat folglich großes Interesse daran, das Gespenst der 'Flüchtlings-Invasion' und das der 'Stiefmutter Europa' nicht ruhen zu lassen und damit gemeinsame Lösungen mit den Ländern, denen wir verbunden sind, abzulehnen.“
Das Dubliner Abkommen ist überholt
Salvini hat aber Recht, wenn er eine radikale Reform des Dubliner Übereinkommens fordert, das bis dato das Erstankunftsland in die Pflicht nimmt, kontert Corriere del Ticino:
„Das Abkommen wurde 1990, wenige Monate nach dem Fall der Berliner Mauer, unter dem Druck Deutschlands unterzeichnet. ... Heute ist das Problem allerdings eine massenhafte irreguläre Migration über das Mittelmeer und den Balkan, und in diesem völlig neuen Kontext funktioniert der Vertrag nicht mehr. Erstens gibt es nicht nur wenige 100 irreguläre Migranten aus Osteuropa, sondern Tausende aus Afrika und Asien. Zweitens sind die meisten von ihnen keine politischen Flüchtlinge, sondern Wirtschaftsmigranten, die nach Nordeuropa reisen wollen. Ihr Ziel ist somit eben gerade nicht das Erstankunftsland, aus dem sie vielmehr schnellstmöglich weiter fliehen wollen.“
Solidarität ist kein Wunschkonzert
Für viele EU-Länder ist Solidarität mit den Mittelmeer-Anrainerstaaten nicht mehr als ein Schlagwort, klagt The Malta Independent:
„In Wahrheit gibt es nur eine Handvoll Staaten, die immer aushelfen. Der Rest scheint nichts dabei zu finden, das Problem zu ignorieren. Das schafft einen gefährlichen Präzedenzfall: Was, wenn ein einzelnes Land in große Schwierigkeiten gerät? Können dann andere Länder einfach von Hilfeleistung absehen? Wenn Solidarität als Wahlmöglichkeit gesehen wird, wird die Grundidee der EU geschwächt. Sich in bestimmten Fällen dafür zu entscheiden, solidarisch zu sein, ist in keiner Weise solidarisch und könnte ungeahnte Folgen für jene Staaten haben, die sich zurücklehnen und nichts tun. Menschen sterben im Mittelmeer. Libyen ist nicht so sicher, wie einige Regierungen behaupten. Europa muss eine Lösung finden.“
Europas Politik des Todes
Die Niederlande müssen mehr Verantwortung übernehmen, fordert der Soziologe und Philosoph Willem Schinkel in NRC Handelsblad:
„Der deutsch-jüdische Philosoph Walter Benjamin umschrieb den Faschismus als die Mobilisierung der Massen ohne Bezug auf die wirtschaftlichen Produktionsverhältnisse. Das ist in Europa im Kommen: Überall sehen wir Versuche, das 'echte Volk' zu schützen vor den angeblich wesensfremden Migranten, als ob jene die zunehmende Ungleichheit verursachen. ... Auch Salvini und die Seinen machen deutlich, dass andere für den 'Stolz' Italiens sterben dürfen. ... Es ist Zeit, diese Politik zu beenden. Die Migration übers Mittelmeer erfordert Regulierung. ... Solange die niederländische Regierung solche Maßnahmen nicht auf dem Schirm hat, macht sie sich mitschuldig an der neokolonialen Politik des Todes von Tausenden Menschen auf See.“
Vielleicht kann der Papst Salvini bekehren
Papst Franziskus hat am Montag im Petersdom eine Messe gemeinsam mit ehemaligen Bootsflüchtlingen und mit Seenotrettern gefeiert. Für Tygodnik Powszeczny ist dies eine Geste, die Hoffnung macht:
„In den vergangenen Wochen haben italienische Grenzschutzbeamte und die italienische Marine fast täglich Dutzende Migranten aus dem Meer gerettet. ... Aber wenn das Schiffe von Nichtregierungsorganisationen tun, schlägt der Vize-Premier und Innenminister Matteo Salvini Alarm, versucht, den Zugang zu den italienischen Häfen zu blockieren, schickt seine Zollbeamten, und befiehlt, den Kapitänen der Rettungsschiffe Handschellen anzulegen. All dies geschieht unter dem Vorwand der 'Verteidigung der heiligen Grenzen des italienischen Staats'. ... Es scheint so, als hätte die Stimme des Papstes zu keinem besseren Zeitpunkt kommen können.“
Integration als Chance sehen
Eine geregelte Flüchtlingsaufnahme und Integration sind der Schlüssel zur Lösung des Problems, meint die Migrationsexpertin Manuela Niza Ribeiro in Jornal Económico:
„Die Erarbeitung eines gemeinsamen Plans und eines strukturierten Ansatzes zur Bekämpfung der Flüchtlingskrise könnte aus einem Risiko eine Chance werden lassen - insbesondere in den Augen der Öffentlichkeit. Nur durch Integration können Konflikte verhindert werden. Aber der Integrationsprozess muss immer wechselseitig sein und auf gegenseitigem Respekt beruhen, ohne falsche und perverse Bevormundung. Denn diese beeinträchtigt ein gutes Zusammenleben.“
Geflüchtete als Verhandlungsmasse
Europa unterstützt lieber Diktatoren als Flüchtlinge, urteilt Gazeta Wyborcza:
„Je weniger demokratisch eine Regierung ist, desto weniger will sie auch die Flüchtlinge, die auf ihrem Territorium festsitzen, loswerden. Ägypten hat vor kurzem damit begonnen, Tausende Migranten aus dem Gazastreifen anzulocken - es sichert sich so eine bessere Verhandlungsposition. Diese Situation wird andauern, solange wir, statt in Flüchtlinge zu investieren und ihnen zu erlauben, sich an der Entwicklung unserer Wirtschaft zu beteiligen, weiterhin lieber zahlen, um sie weit weg zu halten.“
Nordafrika darf keine Pufferzone werden
Auch Nordafrika steht, genau wie Europa, vor einer wichtigen Entscheidung angesichts der Flüchtlingskrise, betont der marokkanische Soziologe Mehdi Alioua in Le Monde:
„Europa muss zwischen Carola Rackete und Salvini wählen. Das Afrika des Mittelmeerraums und des Sahels muss ebenfalls entscheiden, ob es eine echte afrikanische Migrationspolitik entwickelt oder ob es sich an der europäischen Strategie der Grenzerrichtung beteiligt. Die Gefahr, eine weder europäische noch afrikanische Pufferzone zu werden, wo postkoloniale Aushilfssoldaten die Migranten verprügeln, inhaftieren und auf gefährliche Fluchtrouten drängen, ist real. Das stellen wir tagtäglich am Beispiel Libyens fest.“
Frontex muss übernehmen
Nach tagelanger Irrfahrt auf dem Mittelmeer konnten am Sonntag 65 Geflüchtete vom Rettungsschiff Alan Kurdi in Malta von Bord gehen. Dass die Alan Kurdi erst Lampedusa ansteuerte, sieht die Tageszeitung Die Welt als Provokation:
„Denn die Aufnahme der Flüchtlinge erfolgte in der Such- und Rettungszone, die unter die Zuständigkeit der libyschen Küstenwache fällt. Die libysche Seenotleitstelle hatte der 'Alan Kurdi' als 'sicheren Hafen' Zawiya angeboten. Dennoch hat das Schiff der Regensburger Hilfsorganisation Sea-Eye Kurs auf Lampedusa genommen. Zwar will seine Besatzung Menschen retten, gleichzeitig aber ist sie bestrebt, einen öffentlichen Krieg gegen Italiens populistischen Innenminister zu führen. Es wird Zeit, der europäischen Grenzbehörde Frontex das Meer zu überlassen, Leben zu retten, Hotspots einzurichten und die Menschen dorthin zu bringen, um ihre Fälle zu prüfen.“