Flüchtlingsdrama: EU und Türkei finden keine Lösung
Das Krisentreffen des türkischen Präsidenten Erdoğan mit Kommissionspräsidentin von der Leyen und Ratschef Michel am Montag in Brüssel ist ergebnislos geblieben. Nun steht zum Verbleib der Flüchtlinge an der türkisch-griechischen Grenze und zur Lage in Syrien noch ein Treffen von Erdoğan mit Macron und Merkel kommende Woche in Istanbul an. Pressekommentare spiegeln Unmut über Ankara und die EU.
Europa fehlen die Verbündeten
Diário de Notícias merkt an, dass sich die EU mit ihrer disparaten Innen- und Außenpolitik in eine schlechte Position gebracht hat:
„Seit Jahrzehnten behauptet Europa, dass die USA ihre Macht durch Waffen behaupten, während die EU politische Anreize, öffentliche Gelder, Dialog und neutrale Nichteinmischung nutzt, um die Länder um sich herum positiv zu beeinflussen. ... Europa hat aber keinen Freundeskreis und wiederholt nur, was Romano Prodi [2004 als Präsident der Europäischen Kommission] sagte: Wir müssen ein globaler Akteur sein. ... Eine gemeinsame Außenpolitik wird sich aus dem Bestehen gemeinsamer Interessen ergeben, nicht aus dem Willen stabiler oder vorübergehender Mehrheiten. Und der beste Weg zu einem gemeinsamen europäischen Interesse ist die Konsolidierung eines gemeinsamen Binnenmarktes.“
Die EU kann Athen hier nicht vertreten
Griechenland muss unbedingt bei den Gesprächen dabei sein, betont Avgi:
„Laut Regierungskreisen tut Athen alles, um an den Verhandlungstisch zu kommen. … Die Frage ist, ob es wirklich möglich ist - die griechische Regierung hat schließlich in den letzten Monaten keinen großen Eifer gezeigt, was die Wiederherstellung einer offenen Leitung auf der obersten Ebene [mit Ankara] anbelangt. Aber Athen muss anwesend sein bei dieser Verhandlung. Weil jede Seite ihre eigenen Interessen hat - und die Interessen der EU nicht einheitlich sind. … Solange Erdoğan Flüchtlinge nach Evros drängt, wird es keine Vereinbarung mit der EU geben. Wir gehen davon aus, dass Athen dies nicht zulässt. Das macht die Verhandlungen schwierig - und es werden Kompromisse sowohl von türkischer als auch von europäischer Seite erforderlich sein.“
Europa drückt sich vor der Verantwortung
Die EU begnügt sich in der Migrationspolitik mit Tricksereien und Unverbindlichkeiten, klagt Krytyka Polityczna:
„2017 wies der Europäische Gerichtshof bezüglich des Abkommens mit der Türkei darauf hin, dass die EU kein Abkommen mit Ankara geschlossen habe. Die Vereinbarung vom März 2016 schlossen demnach 'die Führer der einzelnen Mitgliedstaaten mit der türkischen Regierung'. ... So entzog sich der Gerichtshof bequem seiner Verantwortung, darüber zu urteilen, ob beim Zurückschicken von Flüchtlingen hinter europäische Grenzen Menschenrechte verletzt werden. Der Einsatz von unverbindlichen Instrumenten zur Gestaltung der Migrations- und Asylpolitik der EU wird leider immer üblichere Praxis.“
Ein skrupelloser Wettbewerb
Fassungslos ob der Untätigkeit der EU zeigt sich The Independent:
„Die EU ist letztlich die einzige Organisation, die eine Lösung bieten kann. Doch bislang hat sie nichts vorgeschlagen, was die Situation verbessern könnte. Stattdessen hat sie es vorgezogen, mit Geld um sich zu werfen. Damit gestehen die EU-Mitglieder ein, dass sie kein Problem damit haben, dass Teile Griechenlands und Italiens zu dauerhaften Gefängnissen für diejenigen werden, die versuchen, die 'Kernländer' der EU zu erreichen. ... Es wurde schon oft gesagt: Diese große Krise kann nicht gelöst werden, indem sich die EU und die Türkei darin messen, wer den Flüchtlingen am wenigsten hilft. Und doch hat sich Europa genau dafür entschieden.“
Ankara steht ganz alleine da
Ergebnisse blieb Erdoğan nach dem wichtigen Besuch in Brüssel schuldig, beschwert sich Kolumnist Emin Çölaşan in Sözcü:
„Er hätte sagen müssen, dass er es geschafft habe, aber das tat er nicht. Oder dass er die anderen überzeugen konnte und sie nun das Nötige tun werden. Aber auch das sagte er nicht. … Wir erwarteten, dass die regierungstreuen Medien wieder Siegesschreie ausstoßen und uns alles erklären würden, aber nein. In dieser riesigen Welt steht die Regierung allein da - was sie nicht einsehen will. ... Bezüglich der Ereignisse in Syrien herrscht Schweigen. Ich bin mir leider sicher, dass dort bald wieder Finger auf den Abzug drücken und neue Gefechte starten. ... Wir sollten uns nicht wundern, wenn bald auch an der griechischen Grenze Gefechte ausbrechen!“
Griechischer Klartext
Athen hat mit seinen rigiden Maßnahmen eine doppelte Botschaft ausgesendet, erklärt Kathimerini:
„Die Grenzen zu schließen war die richtige Entscheidung. Ankara wurde gezeigt, dass man Erpressung nicht akzeptiert. Europa wurde klar gemacht, dass Griechenland sich nicht als Lagerhaus für Menschen mieten lässt. Die Griechen sahen ihre Regierung im Namen des nationalen Interesses schwierige Entscheidungen treffen. Hoffen wir, dass die Türkei versteht, dass die Grenzen Griechenlands die Grenzen Europas sind. Und dass Europa erkennt, dass die Dublin-Regelung abgeschafft werden muss, und Geld bereitstellt - auch für die Türkei -, um das Problem anzugehen.“
Jetzt braucht es Engagement und Verständnis
Beide Seiten müssen umdenken, erklärt Istanbul-Korrespondentin Susanne Güsten im Tagesspiegel:
„Die Türkei muss einsehen, dass sie die Mitarbeit der EU nicht mit Erpressung erzwingen kann. Gerade in einer Zeit, in der das türkische Bündnis mit Russland in Syrien wackelt, braucht Ankara seine Partner im Westen. Da ist es unklug, Europa vor den Kopf zu stoßen. Europa sollte Verständnis für die türkischen Interessen in Syrien aufbringen. Die Abneigung gegen Erdogan, die in vielen EU-Hauptstädten die Türkei-Politik prägt, ist keine gute Ratgeberin für einen rationalen Umgang mit dem Land. Die Türkei hat eine 900 Kilometer lange Grenze mit Syrien und blickt ganz anders auf den Konflikt beim südlichen Nachbarn als Politiker in Berlin oder Paris. Die EU sollte lieber versuchen, an der Suche nach einer Lösung für den Syrien-Konflikt aktiver mitzuarbeiten als bisher.“
Besser wären Entschlossenheit und Druck
Die EU sollte Erdoğan die Stirn bieten, drängt hingegen die Wochenzeitung Dilema Veche:
„Wenn wir 2020 eine ähnliche Flüchtlingskrise wie 2015 erleben sollten, werden die Auswirkungen auf die europäische Politik unvorhersehbar sein. Die Vorstellung, dass Erdoğan die Werte der Europäer verschiebt, ist inakzeptabel. ... Nur so aus Gründen der Abwechslung könnten die Europäer mal versuchen, entschlossen zu sein. Statt Vorteile anzupreisen, sollten sie sie entziehen. Statt zu verhandeln, sollten sie Auflagen stellen. Statt so zu tun, als sei Erdoğan legitim, sollten sie ihn an die türkischen Eliten in den Gefängnissen erinnern. Statt Problemen auszuweichen, sollten sie sich ihnen stellen. So viele Türken würden ihnen dafür dankbar sein.“
Die Türkei will Unterstützung in Syrien
Erdoğan hat die Grenzen geöffnet, um die EU endlich zu einer nachhaltigen Lösung der Flüchtlingsfrage zu bewegen, erklärt die regierungsnahe Sabah:
„Es ist nicht unser Anliegen, alle Flüchtlinge nach Europa zu schicken und die EU zu stürzen - und das sollte es auch nicht sein. Ganz im Gegenteil setzen wir uns aus menschlichen und strategischen Gründen dafür ein, dass diese Menschen in ihre Länder zurückkehren können. Die Türkei hat bereits eine sichere Zone im Norden von Syrien errichtet. Jetzt können ungefähr zwei Millionen der Migranten in diese Region ziehen. Allerdings kostet dies Geld. Will Europa vom Migranten-Zustrom verschont bleiben, sich gegenüber Russland behaupten und einen Platz in der Zukunft Syriens einnehmen, dann muss es zum Aufbau von Siedlungen in diesen Regionen beitragen.“
Flüchtlinge sind Opfer eines Machtspiels
Einem möglichen neuerlichen Flüchtlingsdeal zwischen der EU und der Türkei steht Pravda skeptisch gegenüber:
„Das Abkommen aus dem Jahr 2016 war von Anfang an moralisch fragwürdig und stand im Widerspruch zum internationalen Recht. Und schon bald hat sich gezeigt, dass es auch nicht nachhaltig ist: Es hat die EU abhängig gemacht vom Willen eines Autokraten, der Flüchtlinge skrupellos für seine eigenen politischen Ziele missbraucht. Das muss jetzt Griechenland ausbaden. Und hunderttausende Flüchtlinge, die in diesem Machtspiel gefangen sind. Wer nichts dagegen tut, macht sich mitschuldig.“