Rückkehr ins alte Leben oder neue Normalität?
Immer mehr europäische Staaten wagen sich an erste Lockerungen des Lockdowns. So dürfen beispielsweise die Spanier seit Samstag wieder, nach Altersgruppen über den Tag verteilt, spazieren gehen. In Griechenland müssen die Bürger keine Genehmigung per SMS mehr vorweisen können, um sich die Beine zu vertreten. Kommentatoren überlegen, ob auf die Menschen nach der Covid-19-Pandemie der gewohnte Alltag wartet.
Ab jetzt leidet wieder jeder alleine
Kolumnistin Rea Vitali schreibt in Protagon, was ihr fehlen wird:
„Ich werde das gemeinsame Drama vermissen. Ja, das haben wir durchlebt, ein gemeinsames Drama. Es berührt die sarkastische Definition von 'demokratisch'. Ab heute wird jeder wieder sein persönliches Drama, seine persönliche Besorgnis durchleben. … Ich werde auch den Corona-Spaziergang vermissen. Was für ein Spaziergang! ... Wir haben das Universum mit einem anderen Blick betrachtet. Wie sehr haben wir die Natur geehrt! Welche Blumen haben wir studiert, in welchen Düften sind wir ertrunken. Auch die leere Stadt haben wir bestaunt. Eine andere Stadt, wie ein Gemälde von De Chirico [italienischer Maler und Hauptvertreter der Pittura metafisica].“
Alles fließt
Rzeczpospolita versucht, den Lesern die Angst zu nehmen vor dem, was kommt:
„Wir sollten uns nicht vor dieser Krise fürchten. Sie wird wahrscheinlich Veränderungen bringen, die uns sowieso erwartet haben. Wir sollten die Krise wie einen kalten Fluss betreten. Und so schnell wie möglich ans andere Ufer gehen. Wir werden dort tatsächlich eine andere Welt finden. Die Wirtschaft wird nicht mehr so sein wie zuvor. Aber keine Panik, es wird sie immer noch geben. Neue Unternehmen, Branchen und Berufe werden an die Stelle der verlorenen treten. Neue Arbeitsplätze werden geschaffen. Und dank der Digitalisierung und der Mobilität, die es zum Zeitpunkt der Weltwirtschaftskrise noch nicht gegeben hat, wird der gesamte Prozess sehr schnell ablaufen.“
Umarmungen machen glücklich, nicht Autos und Mode
Während des Lockdowns hatten die Menschen Gelegenheit, darüber nachzudenken, worauf es im Leben wirklich ankommt, glaubt Webcafé:
„Vielleicht verstehen wir jetzt, dass nicht das neueste Auto oder die aktuellste Designertasche unserem Leben einen Sinn verleihen. Es musste Covid-19 kommen und uns voneinander trennen, damit wir verstehen, wie wichtig die kleinen Dinge sind, die wir ansonsten gerne übersehen. Die neue sexy Lederjacke kann nicht die Umarmung eines guten Freundes ersetzen, oder? … Es wäre naiv zu glauben, dass die Konsumgesellschaft nach der Pandemie verschwinden wird, und alle auf einmal ein anderes Leben führen werden. Doch wir haben jetzt die Chance, etwas zu ändern.“
Bitte kein Einkaufen am Sonntag mehr
In Kroatien wurde entschieden, den Einzelhandel im Rahmen der Lockerungsmaßnahmen sonntags zu schließen - was eine hitzige Debatte ausgelöst hat. Večernji list regt sich über die Kritiker auf:
„Die größten Befürworter der offenen Geschäfte am Sonntag, sowohl unter den Bürgern als auch den betuchten Eliten, sind diejenigen, die nie sonntags gearbeitet haben. … Sie arbeiten fünf Tage die Woche und geben besserwisserisch von sich, man müsse die unterbezahlten Verkäuferinnen nur fair bezahlen, dann würden sie es kaum abwarten können, auch noch den siebten Tag der Woche zu arbeiten. Diese Leute sollten erst einmal von ihrem hohen Ross herunterkommen und versuchen, sich in diese Frauen hineinzuversetzen. Aber das werden sie nicht tun. Warum auch, sind ihre Arbeit und die ihrer Kinder doch mehr wert, als die von normalen Verkäuferinnen und deren Kindern.“
Die Rückkehr des verfluchten Wortes
Público vermutet, dass Portugal der Austerität nicht wird entkommen können:
„Angesichts der Isolation und der Kombination aus dem Anstieg des Defizits, das wohl rund sieben Prozent betragen wird, und dem Anstieg der Staatsverschuldung oder der Verschlechterung der Zinssätze gibt es keine Garantie dafür, dass die Regierung nicht gezwungen sein wird, die Ausgaben für Löhne, Renten oder andere Sozialleistungen zu kürzen oder die Steuern zu erhöhen. Wir können diese Strategie als 'Anpassung', 'Budgetkorrektur' oder 'Straffung des Gürtels' bezeichnen, um dem Anathema des verfluchten Wortes zu entgehen. Aber das wird nur eine semantische Frage sein. Für die Bürger sind es immer die gleichen Sparmaßnahmen.“
Existenzprüfung für die EU
Die Länder sollten keine Pläne im Alleingang machen, sondern einen europaweiten Plan zur Normalisierung des Alltages entwickeln, findet Novi list:
„Diese Corona-Krise ist ein entscheidender Moment nicht nur für den Erhalt der EU, sondern für den Sinn ihrer Existenz. Wenn eine gemeinsame europäische Antwort auf die unausweichliche Rezession ausbleibt, die sicherlich alle Mitgliedsstaaten erwischen wird, dann ergibt ihre Existenz keinen Sinn mehr. ... Nur eine auf europäischer Ebene erreichte Einigung kann dazu führen, dass der gemeinsame Wirtschaftsraum wieder zum Leben erweckt wird; ein feines Einstellen des gesamten Mechanismus, eine maximale Harmonisierung der Maßnahmen aller Staaten, ein Start des Wirtschaftsmotors, wo es möglich ist.“
Soziale Staaten werden überleben
Staatsmodelle, deren einziges Interesse im Wirtschaftswachstum besteht, haben seit Corona ausgedient, findet Milliyet:
„Es ist klar geworden, dass weder die liberale Wirtschaft noch der Staatskapitalismus [etwa in China] funktionieren. ... Das zeigt die Tatsache, dass westliche, also kapitalistische Länder wie Großbritannien, USA und Frankreich mit ihren angekündigten Hilfspaketen ihre Bevölkerungen wie ein sozialistischer Staat einhüllen. ... Eines ist sicher: Von nun an werden nicht Staaten hervortreten, die sich auf das Wachstum des Bruttosozialproduktes konzentrieren, sondern auf Teilhabe setzende Staaten und Systeme, die darauf Wert legen, wie sie wachsen, die ihren Wohlstand gerecht verteilen und ihre eigenen Ressourcen stärken.“
Hygienebewusster - aber auch zutiefst verängstigt
Ruben Jenikolopow, Rektor der New Economic School in Moskau, befürchtet in Wedomosti, dass 'nach Corona' eine von Ängsten dominierte Zeit wird:
„Die Menschen nach der Krise werden sich anders verhalten. Zu den positiven Aspekten gehört, dass sie Hygiene ernster nehmen und sich öfter die Hände waschen werden. Wenn jedoch jeder Unbekannte auf der Straße zur potentiellen Seuchengefahr wird, kann es das für eine erfolgreich funktionierende Wirtschaft so wichtige Vertrauen in der Gesellschaft unterminieren. Zudem dürfte das Trauma der zweiten Wirtschaftskrise in einem Jahrzehnt die aktuelle junge Generation vorsichtiger und weniger risikobereit machen. Einen solchen Effekt gab es in den USA nach der Großen Depression - und er beeinflusste das Verhalten der Menschen auch noch Jahrzehnte nach dem Ende der Krise.“
Humanismus ist das einzig Richtige
Dass die Staaten in der Krise Menschenleben über Wirtschaft stellen, belegt, dass es zu solidarischem Handeln keine Alternative gibt, schreibt der Philosoph Francis Wolff in Libération:
„Die Solidarität ist nicht mehr nur eine Frage der Ethik, sondern eine Frage des Überlebens. ... Auf die bewundernswerte Zusammenarbeit von heute zwischen Wissenschaftlern weltweit folgt morgen möglicherweise die Versorgung mit Masken und Beatmungsgeräten auf europäischer Ebene oder, besser noch, auch in Richtung Afrika. Anschließend dann ein Impfstoff oder Heilmittel für die gesamte Menschheit. Und übermorgen - warum denn nicht? - globale Gesundheits- und Sozialversicherungssysteme, die durch globale Gegenseitigkeitsversicherungen finanziert werden. ... Das ist unrealistisch, sagen Sie. Aber sehen Sie denn nicht, dass der humanistische Weg nun der einzig realistische ist?“
Schluss mit politischer Schönfärberei
Wir müssen einen vernünftigen Umgang mit Risiken finden, fordert der Ethik-Professor Peter Schaber im Tages-Anzeiger:
„Die Welt war nicht vorbereitet auf die Corona-Pandemie, einige Staaten noch weniger als andere, keiner aber so, wie er hätte vorbereitet sein sollen. Dabei war immer mit einer Pandemie zu rechnen. ... Politikerinnen und Politikern ist es unangenehm, auf solche Probleme aufmerksam zu machen. Lieber suggeriert man, dass alles gut gehen wird. Wir sollten unsere Haltung überdenken und pessimistischer werden. ... Aber wir dürfen dabei nicht in einen passiven Pessimismus verfallen, der die Zukunft ausschliesslich düster sieht und nahelegt, dass da nichts zu machen sei. Denn zugleich sollten wir alles dafür tun, das Schlimmste bestmöglich im Zaum zu halten.“
Die gesamte Sozialordnung umkrempeln
Alles, nur kein Weitermachen wie vor der Krise wünscht sich Rzeczpospolita:
„Das Schlimmste wäre es, wenn wir die aktuelle Krise als eine Episode betrachten würden, die schnell vergessen werden muss. Denn davon, dass die Gesundheitsversorgung ein untergeordneter Bereich des Staates und der Gesellschaft ist, deren Probleme durch Privatisierung und Dezentralisierung des Managements gelöst werden können, kann uns nun niemand mehr überzeugen. ... Um das System zu ändern, muss die gesamte Ordnung der sozialen Solidarität neu aufgebaut werden, die konkret zum Beispiel durch das Steuersystem zum Ausdruck gebracht wird. Die aktuelle Krise bietet uns die Gelegenheit, eine ernsthafte Reform unseres Staates vorzunehmen.“
Bedingungsloses Grundeinkommen muss her
Dass die Sozialsysteme umgebaut werden müssen, meint auch der TV-Moderator Savik Shuster auf Gordonua.com und macht einen konkreten Vorschlag:
„Ein bedingungsloses Grundeinkommen ist die Verantwortung jedes einzelnen gegenüber Familie und Gesellschaft. ... Spanien hat bereits beschlossen, während und nach der Corona-Krise ein bedingungsloses Grundeinkommen zu bezahlen. ... Ich glaube, dass ein bedingungsloses Grundeinkommen die wirksamste Maßnahme gegen Korruption ist. Denn wenn der Bürger für das verantwortlich ist, was er vom Staat erhält, wird er bestechliche Beamte beobachten. Weil das ganze gestohlene Geld ja aus seiner Tasche gestohlen wird. Deshalb schlage ich den Politikern im Parlament, in der Regierung und im Büro des Präsidenten vor, sich sehr ernsthaft dieser Sache anzunehmen.“
Kulturelle Kollateralschäden vermeiden
Künstler und Kulturinstitutionen stellen derzeit vermehrt digitale Angebote bereit. Online-Erlebnisse können kollektiven Kulturgenuss jedoch nicht dauerhaft ersetzen, mahnt Le Temps:
„Seit Beginn der Ausgangssperre haben wir alle die Erfahrung eines virtuellen Angebots gemacht, das uns zunächst verführt, dann aber eine diffuse Melancholie in uns hinterlassen hat. Das erinnert uns daran, dass Kultur seit dem griechischen Theater mit kollektiver Emotion zu tun hat. Die Welt nach der Pandemie muss mehr noch als die Welt davor auf Umweltschutz ausgerichtet sein. Sie sollte auch menschlich sein, mehr noch als virtuell. Wenn der Moment gekommen sein wird, die durch das Virus verursachten Kollateralschäden zu bilanzieren, wäre es tragisch, wenn die fragilsten Festivals und Kultureinrichtungen, die im sozialen Gefüge einer Region verankert sind und die nicht von künstlichen Paradiesen träumen, am stärksten gefährdet sind.“
Unsere Gewohnheiten sind langlebig
Mit dramatischen Prognosen sollte man vorsichtig umgehen, warnt der Journalist Pál Szombathy in Új Szó:
„Was soll man von diesen pessimistischen Zukunftsvisionen halten, die nun große Umwälzungen heraufbeschwören? Vielleicht lohnt es sich, über die Argumente nachzudenken, aber man sollte auch die dahinterliegenden Emotionen und Ängste zur Kenntnis nehmen. In schwierigen Zeiten strebt jeder danach, etwas Interessantes zu sagen, und dabei kommt es selbstverständlich zu Dramatisierungen. Niemand ist gegen die Auswirkungen des veränderten Alltags immun, doch zur Bewertung der Situation wäre etwas Abstand unerlässlich. ... Während solcher Umstürze sollte man vorsichtig urteilen. Das Virus kann eines Tages weg sein, wir bleiben aber die gleichen: Gefangene unserer Gewohnheiten. Deshalb glaube ich nicht, dass die wachstums- und konsumorientierte Welt am Ende ist.“