Wiederaufbau: Viel Arbeit für Merkel und Macron
Deutschland und Frankreich wollen, dass die EU-Kommission 500 Milliarden Euro für den europaweiten Wiederaufbau nach der Corona-Krise bereitstellt, indem die EU-Staaten gemeinsame Schulden aufnehmen. Doch dafür ist die Zustimmung aller 27 Mitgliedsländer nötig, und insbesondere aus Norden und Osten kommt Kritik. Was sind die Argumente und wie stehen die Chancen?
Hoffnung auf gemeinsamen europäischen Haushalt
Wenn dieser Plan durchkommt, könnte er der europäischen Integration neuen Schwung verleihen, hofft Lidové noviny:
„Es kann sein, dass der Plan wie ein Schlag ins Wasser endet, weil er von allen EU-Ländern die Zustimmung braucht und es schon jetzt Widersacher gibt, wie die sparsamen Länder Österreich und Finnland oder auch unsolidarische Länder wie Tschechien. ... Die zweite Variante ist, dass der Plan den Keim eines großen gemeinsamen europäischen Haushalts in sich trägt, den Europa schon wegen des Euro verzweifelt benötigt. Dass damit der Motor der Integration wieder anspringt und Europa sich bewegt. “
Deutschland hilft nicht ohne Eigennutz
Warum auch Deutschland ein großes Interesse daran hat, weitere Hilfen an wirtschaftlich schwächere Staaten zu vergeben, erklärt der frühere rumänische Premier und jetzige sozialdemokratische EU-Parlamentarier, Mihai Tudose, im Blog des Fernsehsenders Digi24.ro:
„Die Hälfte der staatlichen Beihilfen, die seit Beginn der Krise von der EU genehmigt wurden, werden von der Merkel-Regierung an deutsche Unternehmen gehen. Doch die wirtschaftlich schwachen EU-Länder würden ohne externe Direkthilfe kollabieren. Und 59 Prozent der deutschen Exporte gehen an genau die anderen EU-Länder, die wiederum 66 Prozent der deutschen Importe stellen. Ich hoffe, dass Frau Merkel es schafft, dem jungen [österreichischen Kanzler und Kritiker des Plans] Kurz zu erklären, welche Risiken es gibt, die Wertschöpfungskette einer integrierten Wirtschaft ins Wanken zu bringen - unter dem Einfluss einer unvermittelten Rezession.“
Geld allein genügt nicht
Das Macron-Merkel-Paket muss durch weitere Maßnahmen ergänzt werden, fordern fünf große französische Gewerkschaften und der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) in einem gemeinsamen, in Le Monde veröffentlichten Aufruf:
„Die Belebung der Wirtschaft muss solidarisch und sozial sein und auf der Notwendigkeit einer Wirtschafts-, Fiskal- und Haushaltskonvergenz der EU-Mitgliedstaaten basieren, die endlich mit der Sparpolitik bricht. Die Europäische Union muss auf die Herausforderungen des Wiederaufbaus reagieren, indem sie die soziale Dimension stärkt, ihr Produktionsmodell überdenkt und ihren Platz als globaler Akteur ausbaut, der ein nachhaltigeres Wirtschaftsmodell anvisiert. Wir brauchen eine wirksame Wiederaufbaustrategie, die über die von Frankreich und Deutschland angekündigten 500 Milliarden Euro hinausgeht.“
Widerstand aus allen Richtungen
Es braucht noch viel Überzeugungsarbeit, wenn das Vorhaben Realität werden soll, gibt die Neue Zürcher Zeitung zu bedenken:
„Der Weg wird jetzt erst recht mühselig. Der Fonds kann nur geschaffen werden, wenn alle 27 Staaten und ihre Parlamente Ja sagen. Die Arbeitsteilung zwischen Berlin und Paris besteht zunächst darin, dass die Franzosen die Länder im Süden und die Deutschen jene im Norden von dem Vorhaben zu überzeugen versuchen. Das wird vor allem für Merkel schwierig. Niederländer, Dänen und Schweden bilden zurzeit eine geschlossene Ablehnungsfront gegen Gemeinschaftsschulden. Auch aus dem Osten ist der Sukkurs ungewiss. Aus Wien berichtet Bundeskanzler Kurz von einem 'guten Telefongespräch' mit den Skandinaviern und Niederländern. Man sei sich einig und wolle keine Schuldnergemeinschaft werden. Auch Ungarn wird sich sein mögliches Einverständnis etwas kosten lassen.“
Solidarität heißt ordentlich haushalten
Jyllands-Posten freut sich, dass Dänemark sich den gemeinsamen Schulden so vehement entgegenstellt:
„Die [südeuropäischen] Länder hatten schon lange vor der Corona-Krise große Probleme mit ihren Staatshaushalten. ... Nach wie vor kann ein französischer Schaffner 15 Jahre früher in Rente gehen als sein dänischer Kollege. ... Es ist durchaus legitim zu fragen, warum die südeuropäischen Länder im Gegensatz zu den nordeuropäischen nach der Finanzkrise ihre Haushalte nicht in Ordnung gebracht haben. ... Ist es solidarisch, dass nordeuropäische Steuerzahler, die selbst von umfassenden Reformen betroffen waren, die Rechnung dafür zahlen, dass Steuerzahler in Südeuropa nicht die gleiche Rosskur durchmachen mussten? ... Dass ein nahezu einiges dänisches Parlament diese Zusammenhänge erkennt, ist erfreulich.“
Politische Antwort auf Urteil aus Karlsruhe
Efimerida ton Syntakton sieht den Plan auch als Reaktion auf das Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts von Anfang Mai 2020:
„Mit ihrer Entscheidung haben die Richter in Karlsruhe den Willen und die Möglichkeit der EZB und anderer europäischer Institutionen angezweifelt, alles zu tun, um die Eurozone zu retten. All dies vor dem Hintergrund der Unsicherheit, die den alten Kontinent angesichts der Pandemie überschattet. ... Das Karlsruher Gericht wollte offenbar die allgemeine Solidarität in der Eurozone torpedieren und stark einschränken. Natürlich haben sich die Vorsitzenden der EU-Kommission und der EZB gegen die Entscheidung des Gerichts positioniert. Im Wesentlichen gab Merkel am Montag mit ihrer Zustimmung zu Macrons Plan eine politische Antwort darauf. So sieht Karlsruhe seinen Überraschungsschachzug als Bumerang zurückkommen.“
So fährt Europa gegen die Wand
Das vorgeschlagene Wiederaufbauprogramm geht in die völlig falsche Richtung, warnt Le Courrier:
„Die nicht vorgesehene Rückzahlung der Fondszahlungen durch Empfänger des Fonds ist an 'ein klares Bekenntnis der Mitgliedstaaten zu solider Wirtschaftspolitik und einer ambitionierten Reformagenda' geknüpft. ... Die Wortwahl erinnert an den Neusprech und die neoliberalen Rezepte, die Griechenland unlängst aufgezwungen wurden. Schlimmer noch: Da das bisher einzige Zuweisungskriterium des künftigen europäischen Wiederaufbaufonds das ist, 'die am stärksten betroffenen Sektoren' zu stützen, kann man wetten, dass die von den europäischen Steuerzahlern an den Finanzmärkten geliehenen Milliarden dazu dienen werden, die Automobilindustrie, die zivile Luftfahrt und den Massentourismus wiederzubeleben. Das bringt uns wieder in Fahrt, gewiss, lässt uns aber voll auf die Wand zusteuern.“
Jetzt beginnt das große Feilschen
Die Niederlande werden den Vorstoß von Merkel und Macron so nicht hinnehmen, erklärt De Volkskrant:
„[Premier] Rutte hat potentiell zwei Brecheisen, um den deutsch-französischen Plan aufzubrechen. Das letzte Rettungsmittel ist, dass Erste und Zweite Kammer [des Parlaments] die Erweiterung der Kreditkapazität der Kommission ablehnen. Das ist die nukleare Option, effektiv, aber nicht ohne Folgen: Die Niederlande würden an den europäischen Pranger gestellt und müssten für eine Weile ohne Verbündete auskommen. ... Besser ist es - wie im Krieg - nur mit der Atomwaffe zu drohen, um Änderungen zu erzwingen. ... Der EU-Gipfel im Juni verspricht ein einziges großes Feilschen zu werden.“
Dänemark darf nicht bremsen
Die dänische Regierung sollte ihre Haltung überdenken, fordert Politiken:
„Dänemark hat auf nationaler Ebene klug mit Hilfspaketen agiert. Das sollten wir auch in der EU tun. Für den Zusammenhalt und um unser selbst willen. Als Exportnation haben wir ein enormes Interesse daran, dass die EU schnell wieder auf die Beine kommt. 'Wenn sich die Fakten ändern, ändere ich meine Einstellung.' Das soll John Maynard Keynes, der ideologische Vater der expansiven Finanzpolitik, einmal gesagt haben, um eine geänderte Meinung zu erklären. Die gleiche Offenheit sollte die dänische Regierung gegenüber den Plänen von Frankreich und Deutschland haben.“
Silberstreif am Horizont
Público sieht die Pläne als Hoffnungsschimmer für Portugal:
„Noch ist nichts gewonnen, noch ist nichts sicher und es lohnt sich, hartnäckig zu bleiben. Es gilt noch, gegen die qualvollen Nationalismen des Ostens und die zynischen Egoismen des Nordens zu gewinnen. Aber für ein Land wie Portugal, das auf eine wirtschaftliche Verwüstung blickt, die in vollem Gange ist, und an seiner Kraft zweifelt, diese zu überwinden, sind die Nachrichten aus Europa heute ein echtes, wenn auch schwaches Zeichen der Hoffnung.“
Guter Riese der Solidarität
Die EU-kritischen Parteien Lega und Fratelli d'Italia dürften es mit ihren Anfang Juni geplanten Protesten schwer haben, sollten die deutsch-französischen Wiederaufbaupläne bewilligt werden, freut sich Kolumnist Antonio Polito in Corriere della Sera:
„Wenn die deutsch-französische Initiative umgesetzt wird, wird nichts mehr so sein wie bisher. Wenn Europa kooperiert, indem es zum ersten Mal Ressourcen von einem Staat auf einen anderen überträgt und damit ein Tabu bricht, wäre für die öffentliche Meinung jede souveränistische Erhebung gegen dieses Europa schwer nachvollziehbar. Wenn sich aus den Nebeln der Pandemie die Gestalt eines neuen guten Riesen der Solidarität mit Italien abzeichnen würde, und der Riese nicht China oder Putin wäre, wie ein naiver Neuling der Außenpolitik [Außenminister Lugi Di Maio von den Cinque Stelle] hoffte, sondern Europa - wer würde dann mit Steinen nach ihm werfen wollen?“
Der Weg zur Supermacht ist frei
Von einer historischen Einigung spricht Les Echos:
„Von der EU sagt man oft, dass sie nur in der Not vorankommt. Man kritisiert ihre Spaltung. Man betont ihre Schwäche, ihre mangelnde Führungsstärke. ... Ein Grund mehr zum Jubeln, wenn sie sich endlich ein Rückgrat verleiht. Mit ihrem Ja zum Prinzip der Vergemeinschaftung von Schulden innerhalb der Union setzen Emmanuel Macron und Angela Merkel einen entscheidenden Meilenstein der europäischen Integration. Sie verleihen ihr eine Dimension, die sie noch nie hatte: die einer solidarischen Union. Einer Union, die fähig ist, Partikularinteressen zu überwinden. Die gegenüber den beiden Supermächten China und USA ihren Rang behauptet. Und die als Antwort auf die globale Detonation der Covid-Krise ein politisches Projekt vorantreibt.“
Ein kluger Schachzug
Paris und Berlin senden ein starkes Signal, freut sich Brüssel-Korrespondent Andrea Bonanni in La Repubblica:
„Und sie tun dies mit einem überraschenden Schritt, der das Spiel [wie das Pferd beim Schach] vorwärts, aber auch seitwärts treibt und die unlösbare Debatte über die Vergemeinschaftung der Schulden überspringt. ... Dabei umgeht der deutsch-französische Vorstoß nicht nur den Widerstand der egoistischeren Nordländer. Er macht auch den italienischen Souveränisten einen Strich durch die Rechnung, die sich bereits darin übten, den [Euro-Rettungsmechanismus] ESM und seine Bedingungen aufs Korn zu nehmen. Ein an Bedingungen geknüpftes Darlehen wird häufig als Eingriff in die Souveränität eines Landes aufgefasst. Eine Spende kann mit einer gewissen Konditionalität verbunden werden, ohne dass die Würde und die Autonomie des Begünstigten beeinträchtigt werden.“
Jetzt gibt es auch Geschenke
Einen Paradigmenwechsel erkennt NRC Handelsblad:
„Entscheidender Unterschied [zum vorigen Paket] ist, dass das Geld nach dem französisch-deutschen Vorschlag nicht als Kredit vergeben werden soll, sondern dass die am schwersten getroffenen Mitgliedstaaten ein Geschenk aus dem Fonds empfangen können. Die Europäische Union als Ganzes wird verantwortlich für die Rückerstattung der Kredite, Mitgliedstaaten sollen nach ihren Möglichkeiten dazu beitragen. Damit beziehen die beiden Länder deutlich Position in der Frage, auf die sich die europäische Diskussion in den vergangenen Wochen zuspitzte: Kredite oder Geschenke? ... Mit diesen Vorschlägen wird klar ein neuer Schritt gemacht in Richtung einer gemeinsamen europäischen Verschuldung.“
Solidarität im deutschen Interesse
tagesschau.de findet den Schritt mutig:
„Ein zusammenbrechender Binnenmarkt wäre auch und vor allem für Deutschland ein riesiges Problem. Wie sollten deutsche Unternehmen wieder auf die Beine kommen, wenn die europäischen Nachbarn am Boden liegen? Ohne Mittel, weiterhin deutsche Produkte zu importieren? Deshalb hatten wichtige Wirtschaftsvertreter hinter den Kulissen interveniert - gerade bei der Union. Und sich allein auf die EZB und ihre 'Bazooka' zu verlassen, funktioniert nicht mehr. Das hat erst das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Anleihenkäufen klargestellt. Nein, jetzt ist mutige Politik gefragt. Schnelle, solidarische Antworten in dieser Ausnahmesituation.“