Offene Grenzen: Nach Corona noch viel schöner?
Die Reisefreiheit innerhalb des Schengen-Raums ist mit dem Beginn dieser Woche größtenteils wiederhergestellt, nur vereinzelt gelten wegen der Corona-Pandemie noch Beschränkungen. Zudem markierte der 14. Juni den 35. Jahrestag der Unterzeichnung des Schengen- Abkommens. Für Journalisten der Anlass, die Reisefreiheit zu feiern und Grenzschließungen und Wiederöffnungen kritisch zu hinterfragen.
Die Schließungen waren unnötig
Ein- und Ausreisebeschränkungen sind bei einer Pandemie nur in Ausnahmefällen sinnvoll, resümiert Polityka:
„Hinter dieser irrationalen Aktion einiger Regierungen verbirgt sich die tiefe Überzeugung, das Schließen von Grenzen sei ein wirksamer Weg zur Bekämpfung einer Pandemie. ... In Polen glauben sogar viele Kritiker der Regierungspartei PiS, dass die Regierung das Richtige getan hat, als sie im März schnell die Grenz-Quarantäne eingeführt hat. Nichts könnte falscher sein. ... Nur in einem Fall macht das Schließen von Grenzen Sinn: Wenn auf der einen Seite die Beschränkungen viel milder sind als auf der anderen. In Europa betraf dies nur Grenzgebiete, in denen Menschen im Nachbarland einkauften, weil ihre Geschäfte bereits geschlossen waren. Aber solch unterschiedliche Regelungen bestanden meist nur wenige Tage. “
Mehr Absprache statt nationaler Symbolpolitik!
Auch die Neue Zürcher Zeitung stellt den Nutzen von Grenzschließungen zur Eindämmung einer Pandemie in Frage:
„Vor allem aber handelte es sich ... um eine Beruhigungspille für die Bevölkerung. Der Staat wollte signalisieren, dass er die Lage unter Kontrolle habe und dass die Bevölkerung zu Hause bleiben solle. Epidemiologisch ist der Nutzen der einschneidenden Massnahme dagegen umstritten. Sichere Inseln gibt es in einer globalisierten Welt kaum mehr. ... Die letzten Monate haben jedoch klar gezeigt, wie gross der soziale und wirtschaftliche Schaden von Grenzschliessungen ist. ... Zahlreiche Städte und Regionen in Europa sind [im Laufe der Zeit] immer enger zusammengewachsen. Im Falle einer zweiten Corona-Welle sollten die Innenministerien deshalb auf differenzierte und vor allem auf koordinierte Lösungen setzen.“
Wie wir die Reisefreiheit lieben lernten
Ein kostbares Stück Europa ist zurück, freut sich Sme:
„Die Sehnsucht nach Freiheit und Normalität hat das Coronavirus besiegt. Wiewohl es hier und da noch diverse Formulare, Tests und Quarantänen geben wird – der Schengen-Raum wird sich bald kaum mehr von dem unterscheiden, den die Europäer bis letztes Jahr kannten. Selbst eine allfällige zweite Corona-Welle würde nichts mehr an den Lockerungen ändern. Einige Monate der Schließungen mit all ihren Komplikationen dürften wohl jeden davon überzeugt haben, dass Schengen eine große Errungenschaft ist. Wir lernten sie erst dann zu schätzen, als sie nicht mehr funktionierte. Wenigstens eine positive Erkenntnis, die wir dem Virus verdanken.“
Bitte nur mit strengen Kontrollen
Spanien wird seine Grenzen in einer Woche wieder für Besucher aus dem Schengen-Raum öffnen. La Vanguardia mahnt zu großer Vorsicht:
„Trotz einiger Ansteckungsherde in Spanien liegt die große Gefahr eines neuen Aufkeimens der Pandemie in der Öffnung der Grenzen, insbesondere zu Ländern außerhalb der EU. ... Nach drei Monaten der Isolation sollte man deshalb bei der Grenzöffnung die strengsten Kontrollen für Besucher fordern, die nach Spanien kommen, sowie die effiziente Koordination zwischen den Behörden aller beteiligten Länder. Um die Bevölkerung zu beruhigen, sollte die Regierung ihre entsprechenden Pläne erklären und gegebenenfalls zur Debatte stellen. Und sie sollte ein einheitliches Gesundheitsprotokoll für alle Länder des Schengen-Raums fordern.“
Die Nagelprobe bestanden
Vor dem Hintergrund einer Volksinitiative der rechten Schweizerischen Volkspartei zur Begrenzung der Zuwanderung betont Le Temps:
„Anstatt der Integration des Kontinents einen Todesstoß zu versetzen, wie Souveränisten und Populisten hofften, hat die Corona-Krise das Bewusstsein geschärft für die Notwendigkeit, Grenzen und Freizügigkeit zu vereinbaren, beides Voraussetzung für einen leistungsstarken Binnenmarkt. … Wer sagt, dass die Abschottung seines Territoriums gegen alle Übel hilft, der irrt. Im Gegenteil: Die Pandemie hat bewiesen, dass die Freizügigkeit unter strikter Einhaltung der Verträge punktuell eingeschränkt werden kann, ohne aufgegeben zu werden. Die Belastbarkeit des Schengen-Raums liefert also den Beweis, dass dieser keine Bedrohung für die nationale Sicherheit ist. ... Und dass er es verdient, im Rahmen von Reformen verteidigt zu werden.“
Freiheit im Inneren, Abschottung nach außen
Das Schengener Abkommen war gleichzeitig die Geburtsstunde der europäischen Außengrenze, gibt die taz zu bedenken:
„Fünf Jahre nach der Unterzeichnung in Schengen schlossen die Staaten einen weiteren Vertrag: Das Schengener Durchführungsübereinkommen. ... Darin vereinbart wurden Regeln für Einreise, Ausweisung und Bewegungsfreiheit von Menschen aus anderen Staaten. Die Länder führten eine stärkere Überwachung der Außengrenzen ein, eine Zusammenarbeit von Polizei und Justiz sowie ein Informationssystem, in dem sie Daten über Visa und Grenzkontrollen sammeln. ... Schengen sollte richtig erinnert werden: als Abkommen der offenen Innen- und geschlossenen Außengrenzen. Nur so lässt sich verstehen, wie es europäische Normalität werden konnte, dass Menschen im Mittelmeer ertrinken.“