Klima und Soziales first: Wohin geht Bidens Reise?
Die ersten 100 Tage im Amt hat US-Präsident Joe Biden hinter sich. Während er sich zu Beginn seiner Amtszeit darauf konzentrierte, die Covid-Krise und ihre Folgen in den Griff zu bekommen, tut er sich nun durch Staatsinvestitionen und Steuererhöhungen, Klimapolitik und außenpolitische Statements hervor. Europas Medien prüfen seine Vorstöße auf Glaubwürdigkeit und Zielrichtung.
Trittbrettfahrer werden jetzt abgeschüttelt
Die Klimapolitik der USA bewegt sich weg von freiwilligen Versprechen hin zu Zöllen und Vergünstigungen. Die NZZ am Sonntag analysiert den Wandel:
„Alle internationalen Abkommen beruhten letztlich auf freiwilligen Reduktionszusagen. Das zentrale Problem des Trittbrettfahrens aber konnten sie nie lösen: Vom Klimaschutz profitieren alle Länder, egal, ob sie selbst Anstrengungen unternehmen oder nicht. … Die USA wollen die Revolution der erneuerbaren Energien anführen, weil sie sonst den strategischen Wettbewerb mit China nicht gewinnen können. … Die Klimapolitik der amerikanischen Regierung ist eher ein Konjunktur- als ein Verzichtsprogramm. … Trittbrettfahren ist in einer solchen Welt keine Option mehr, weil es mit Handelshemmnissen bestraft würde. … Klimapolitik ist jetzt strategische Machtpolitik.“
Grüner als das Land erlaubt
Bidens hehre Ziele im Kampf gegen den Klimawandel haben in den USA leider keine Mehrheit, gibt Respekt zu bedenken:
„Wir müssen die rosarote Brille abnehmen und die Rückkehr der USA auf die Szene der Klimapolitik mit Realismus betrachten. Biden redet wie ein Westeuropäer, regiert aber ein Land, in dem nur ein Viertel der Wähler Klimapolitik als wichtig ansieht. Bisher stellte der Präsident keinen systematischen Plan vor, mit dessen Hilfe er seine Ziele erreichen möchte. Er braucht dafür Gesetze. Für eine Kohlendioxidsteuer oder einen Emissionshandel haben die Demokraten aber keine ausreichende Mehrheit.“
Chinas Staatskapitalismus als Vorbild
Mit seiner Idee vom starken Staat zieht der US-Präsident auch die Lehre aus Chinas Erstarken, analysiert Le Temps:
„China hat nicht nur seinen Rückstand aufgeholt, indem es die neoliberale Globalisierungsära geschickt genutzt hat, sondern steht kurz davor, in Spitzen- und Zukunftssektoren die Führung zu übernehmen. Um auf diese Herausforderung zu reagieren, erklärt Joe Biden, 'nur die Regierung ist in der Lage, die nötigen Investitionen zu tätigen'. Der Staat ist die Lösung und nicht mehr das Problem. Der ideologische Graben dieses Jahrhunderts verläuft nicht mehr zwischen Kapitalismus und Kommunismus. Es könnte jedoch zu einem Duell zwischen zwei Arten von Staatskapitalismus kommen: einem demokratischen und einem autoritären.“
Der Schuldenberg wächst und wächst
Dass Biden das mangelnde Geld für seine Investitionen einfach drucken lässt, findet der Banker Alexander Eberan kritisch, wie er in einem Gastkommentar für die Wiener Zeitung schreibt:
„[Joe Biden will] die US-Wirtschaft mit einem massiven Infrastrukturprogramm ankurbeln und sieht darin das größte Arbeitsmarktprogramm seit dem Zweiten Weltkrieg. ... Ohne Zweifel ein ehrgeiziges Ziel, das neben großen Kraftanstrengungen vor allem eines braucht: sehr viel Geld. Geld, das aufgrund der schleppenden Konjunktur und der Corona-Pandemie ohnehin schon längst mit Volldampf aus der Druckerpresse kommt. Diese wird aufgrund solcher Ankündigungen weiter unter Hochdruck Dollar produzieren und den aktuell bei rund 100 Prozent des BIP liegenden Schuldenstand weiter anwachsen lassen.“
Eine neue Ära der Geldpolitik
Joe Biden treibt eine finanzpolitische Revolution voran, analysiert dagegen der Wirtschaftsjournalist David McWilliams auf seinem Blog:
„Die MMT [Modern Monetary Theory] geht davon aus, dass wir die Makroökonomie verkehrt verstanden haben, und bestärkt uns darin, uns nicht den Kopf darüber zu zerbrechen, wo wir Geld herbekommen, sondern es einfach von den Zentralbanken drucken zu lassen. ... Joe Biden - der unwahrscheinlichste Radikale der Welt - ist zur MMT konvertiert. ... Bidens Ziel ist es, Ungleichheiten zu verkleinern und die Wirtschaft aus den Händen der Wall Street zu reißen und sie dem Mann auf der Straße zurückzugeben, indem Staatsausgaben nicht nur als Hebel zugunsten der Wirtschaft, sondern auch zugunsten von Demokratie und Fairness verwendet werden.“
Staat so aktiv wie lange nicht mehr
Die USA nähern sich einer europäischen Vorstellung vom Sozialstaat an, stellt El Periódico de Catalunya fest:
„Seine Rede vor den beiden Parlamentskammern am Mittwoch bestätigt die sozialdemokratische Wende seines Programms und begräbt das Stereotyp, dass ein Sozialstaat, wie wir ihn in Europa kennen, nicht mit dem Weißen Haus vereinbar ist. ... Sowohl die Dimensionen der vom Präsidenten aufgezählten Ziele in den Bereichen Bildung, Arbeitsrecht, Familienförderung und weiteren als auch das bereits bekannt gegebene Vorhaben der Verbesserung der Infrastrukturen jeglicher Art versetzen den Staat in eine aktive Rolle, wie man sie nicht mehr kannte, seit Ronald Reagan in den 80er Jahren formulierte 'die Regierung ist das Problem'.“
Hartes Pflaster für Wohlfahrtspolitik
Biden hat schon viel erreicht, in der Wirtschafts- und Sozialpolitik muss er aber gegen große Widerstände kämpfen, urteilt Pravda:
„Das Impfen gegen die Pandemie gelang ihm nahezu spielerisch. ... In der Wirtschaft ist es komplizierter. Die Republikaner lehnen seine Vorschläge ab. Die Europäer können darüber nur lächeln. Was in den USA Sozialismus genannt wird, wird auf dem alten Kontinent seit vielen Jahrzehnten als Standardbestandteil eines Wohlfahrtsstaates angesehen. ... Bidens Bemühungen, Kompromisse zu finden, werden wahrscheinlich nicht immer von Erfolg gekrönt sein. Es geht jedoch darum, die Stimmung in einer wackeligen amerikanischen Gesellschaft zu stabilisieren. Die Rückkehr eines weiteren Trump wäre eine Katastrophe für die Vereinigten Staaten, aber auch für uns.“
Progressive Politik verhärtet Fronten weiter
Das eingeschlagene Tempo macht Bidens Ziel, die USA innenpolitisch zu "heilen", nicht gerade leichter, meint der Kurier:
„Als gäbe es eine Checkliste abzuarbeiten, hat Joe Biden in seinen ersten 100 Tagen im Stakkato sämtliche Eckpunkte progressiver Politik abgehakt. … Der 78-Jährige, der ein politisches Leben lang als eher ideologiefreier Meister des politischen Kompromisses galt, präsentiert sich jetzt als ein Mann der politischen Überzeugungen. … Biden will aber über Parteigrenzen hinweg regieren, will auch Republikaner für seine Pläne gewinnen, etwa in der Klimapolitik. Das aber ist seit Jahrzehnten keinem US-Präsidenten mehr gelungen, zu verhärtet sind die Fronten nicht nur zwischen den politischen Parteien, sondern auch zwischen den Menschen im Land. Politische Kompromisse zu schließen, wird da nicht ausreichen.“
Gar nicht so ehrgeizig - und doch unrealistisch
Die schlechte Klimabilanz der USA von heute macht es Biden leicht, forsch und entschlossen zu klingen, zeigt Dziennik Gazeta Prawna mit einem Vergleich:
„Auf dem von ihm organisierten Klimagipfel kündigte er an, dass Amerika 2030 halb so viel Treibhausgas ausstoßen wird wie 2005. Das klingt ehrgeizig, ist es aber gar nicht. In der Praxis bedeutet dies, dass Amerika in einem Jahrzehnt das derzeitige Niveau von... Polen erreichen wird. ... Wir können von Biden aber auch nicht das Unmögliche erwarten. Das Problem ist, dass selbst das, was er versprochen hat, unrealistisch erscheint. Amerika müsste sich dafür einfach zu stark verändern.“
Mehr Mindestlohn beseitigt Ungleichheit noch nicht
Mit einem Erlass für eine schrittweise Anhebung des Mindestlohns von derzeit 10,95 auf 15 Dollar pro Stunde konnte Biden seine Kritiker von links besänftigen, schreibt Naftemporiki:
„Die Befriedigung der Forderung nach einem Mindestlohn von 15 US-Dollar pro Stunde ist ein großer Sieg für die neue und kampfkräftige Arbeiterbewegung, die in den letzten Jahren in den USA entstanden ist. ... Biden erfüllte sie und gab damit dem Druck der Linken nach, während er versuchte, die weitere Radikalisierung der Demokratischen Partei zu blockieren. Natürlich reicht eine Erhöhung des Mindestlohns allein nicht aus, um die wachsenden sozialen Ungleichheiten in den Vereinigten Staaten abzumildern, die nicht einmal von der Pandemie und den restriktiven Corona-Maßnahmen berührt zu werden schienen.“
Mit Sozialpolitik gegen Extremismus
Die Süddeutsche Zeitung spart nicht mit Lob:
„Er hat sich Roosevelt und den New Deal zum Vorbild genommen, um Amerika durch eine ehrgeizige Sozial- und Wirtschaftspolitik zu einem modernen Staat umzubauen, in dem nicht nur die Ärmsten, sondern auch und gerade die Mittelschicht gestützt wird. ... Zu einem Land, das nicht zerfällt in die wenigen, die viel Geld mit Aktien und Apps verdienen, und die vielen, die in Amazon-Lagern Kisten packen. ... Eine vernünftige Wirtschafts- und Sozialpolitik ... ist aus Bidens Sicht eine Versicherung gegen politischen Extremismus. ... Die vergangenen Jahre haben gezeigt, wie dringend notwendig es ist, die USA vor diesem Gift zu schützen.“
Nicht cool, aber integer
Auch Publizist Chams Eddine Zaougui zieht in seiner Kolumne in De Standaard bewundernd Bilanz:
„Er ist nicht cool, nicht hip, jung oder woke. Er ist nicht eloquent oder charismatisch. Aber Biden hat Jahrzehnte lange Erfahrung in der politischen Arena und mindestens genauso wichtig, Lebenserfahrung. ... [Und er hat durch sein persönliches Schicksal] Dinge gelernt, die man nicht in Harvard oder in einem Debattier-Club lernt, die aber den Blick aufs Leben bestimmen und auf das, was wirklich wichtig ist. Zugegeben, es ist voreilig, Biden einen großen Präsidenten zu nennen. Aber lassen wir ihm die Ehre zukommen, die ihm gebührt: Er ist viel mehr als ein Anti-Trump, er ist ein integrer Mann mit Mut und Verstand.“
Lehren aus Obamas Amtszeit gezogen
Trends-Tendances erklärt:
„Dass Biden so stark vorprescht, liegt daran, dass er Barack Obamas Vizepräsident war und gesehen hat, dass dieser schöne Reden gehalten, wirtschaftlich jedoch kaum etwas vollbracht hat. Es überrascht jedes Mal, wenn man es sagt: Barack Obama war eine Medienikone, was unter seiner Präsidentschaft umgesetzt wurde, war aber keineswegs überragend. Joe Biden weiß, dass er schnell handeln muss, wenn er etwas verändern will. Gleich zu Beginn seiner Amtszeit - und massiv. Und so beweist 'Sleepy Joe', dass Jugendlichkeit nicht vom Alter abhängt, sondern von der Einstellung!“
Radikaler als von vielen erwartet
Bidens Honeymoon mit den Amerikanern ist weniger glücklich, als man in Europa denkt, merkt USA-Korrespondent Federico Rampini in La Repubblica an:
„Dies zeigt eine Umfrage, die nicht der Feindseligkeit gegenüber dem Präsidenten verdächtig werden kann: Die der Washington Post, einer progressiven Zeitung, die mit der demokratischen Regierung sympathisiert. Mit Ausnahme von Donald Trump vor vier Jahren hat kein amerikanischer Präsident seit der Nachkriegszeit die symbolische Zielgerade mit einer so niedrigen Zustimmungsrate erreicht. Mit guten Noten für Impfungen und die Wirtschaft, stolpert Biden über den Migranten-Notstand an der mexikanischen Grenze. Zudem hält ein Teil des Landes ihn für radikaler als erwartet.“