Wem Nord Stream 2 nützen und wem es schaden könnte
Berlin und Washington haben ihren Streit über Nord Stream 2 beigelegt. Die USA ziehen alle Sanktionen wegen der Gaspipeline zurück. Deutschland erklärt sich im Gegenzug bereit, grüne Energieprojekte zu fördern, die die Ukraine unabhängiger von russischem Gas machen sollen. Für Europa ist das insgesamt keine gute Lösung, finden Kommentatoren.
Berlin ist sich selbst am nächsten
Deutschland hat Europa mal wieder seinen Stempel aufgedrückt, schreibt Naftemporiki:
„Ohne die Details der geopolitischen Schachzüge, die in der Region im Spiel sind, zu kennen, scheint es, dass der Westen die Ukraine endgültig Wladimir Putins 'Appetit' in Bezug auf Energie und Wirtschaftskriege ausgesetzt hat. Der große Verlierer in dieser Affäre ist allerdings die Europäische Union. Anscheinend haben für Berlin die deutschen Interessen geopolitisch und wirtschaftlich Vorrang vor Brüssel. Ähnlich wie bei den Kontroversen mit dem Verfassungsgericht zu den europäischen Förderprogrammen. Deutschland über alles.“
Gemeinsame EU-Außenpolitik auf dem Spiel
Die deutschen Grünen sollten weiterhin gemeinsam mit Osteuropa Front gegen dieses die EU spaltende Projekt machen, rät der Wirtschaftsjournalist Wolfgang Münchau in El País:
„Die von Gerhard Schröder angestoßene Pipeline ist ein Symbol der russisch-deutschen Freundschaft. Gleichzeitig ist es ein Symbol für die europäische Spaltung. Die baltischen Staaten und Polen sowie die Ukraine sehen darin einen krassen Verstoß gegen ihre Sicherheitsinteressen. ... Ich rate Polen und den Baltikumstaaten dazu, weiter mit allen rechtlichen und politischen Mitteln gegen die Pipeline aufzubegehren. Und den deutschen Grünen rate ich, die Osteuropäer zu unterstützen. Die gemeinsame EU-Außen- und Sicherheitspolitik steht auf dem Spiel.“
Nur Nein sagen reicht eben nicht
Hospodářské noviny bedauert den Fertigbau der Pipeline, kritisiert aber auch Polen und die Ukraine:
„In drei Jahrzehnten ist es Polen nicht gelungen, in Zusammenarbeit mit den Alliierten eine wesentliche Verringerung der Abhängigkeit von russischem Gas durchzusetzen, etwa durch eine gemeinsame Nord-Süd-Gasverbindung. ... Jetzt baut Warschau eine Gaspipeline aus Norwegen. ... Und in Kyjiw verhinderten unterschiedliche Interessen einflussreicher Kräfte, Zähler an den Gasleitungen an der Grenze zu Russland zu installieren, die nachweisen könnten, wie viel Gas auf dem Weg nach Westen in der Ukraine verschwindet. Wer seine Hausaufgaben nicht macht, kann nur schwer erwarten, dass er von Europa und Amerika aus der Krise befreit wird.“
Nord Stream 2 stärkt letztlich China
Kolumnist Iwan Jakowyna erörtert in NV, was sich Joe Biden bei der Vereinbarung eigentlich gedacht hat:
„Wenn man Sanktionen verhängte, Nord Stream 2 nicht zu Ende bauen ließe, dann würde Putin sich in Richtung China orientieren. Und das würde China stärken: Es hätte eine riesige Rohstoffbasis und Gebiete zur Besiedlung. ... Und so ist Nord Stream 2 in Bidens Denken wie eine Leine, die die europäische Welt mit Russland verbindet. ... Doch so eine Politik wird zu nichts führen, außer zu einer Stärkung von Wladimir Putin und seinem autoritären Regime. Und in der Folge werden die Beziehungen zwischen der Russischen Föderation und der Volksrepublik China letztlich trotzdem nicht schwächer, sondern stärker werden.“
Leitungen für Europas Energiewende
Nord Stream 2 ist eine Investition in die Zukunft, meint Der Standard:
„Es wäre ein Schildbürgerstreich gewesen, die wenigen fehlenden Kilometer des Leitungsstrangs in der Ostsee nicht mehr zu verlegen. Nun hat die Vernunft gesiegt, und das ist gut so. … Der bestehende Transitvertrag mit Russland, der Kiew zwei Milliarden Dollar Durchleitungsgebühren pro Jahr bringt, läuft 2024 aus. … Dass russisches Erdgas nach der Inbetriebnahme von Nord Stream 2 den Weg auch durch die Ukraine und Polen findet, ist im Interesse Europas: je mehr Leitungen, desto sicherer die Versorgung. Auf Gas als Ersatz für Kohle wird Europa noch länger angewiesen sein. Später könnte Nord Stream 2 für den Transport von Wasserstoff benutzt werden. Auch davon kann Europa bei der Energiewende nicht genug haben.“
Kein Grund zum Meckern
Überzogen findet die Kritik der Ukraine an der Einigung die prorussische Tageszeitung Duma:
„Das Verhalten der Ukraine macht keinen Sinn. Denn die Ukraine behält ihren Transitstatus und die Möglichkeit, Hunderte von Millionen mit dem Erdgas aus Russland zu verdienen, das ansonsten zum Feindstaat erklärt worden ist. Es macht sogar noch weniger Sinn, wenn man bedenkt, dass der Grund für den Gasstreit zwischen Moskau und Kyjiw war, dass die Ukraine das von ihr verbrauchte Erdgas nicht bezahlt hat. … Der wahre Grund für die Reaktion der Ukraine ist, dass die ukrainischen Machthaber es nicht wahrhaben wollen, dass ihre eigennützigen Versuche, Russland zu schaden, gescheitert sind.“
Ukraine wird viel verletzlicher
Dass Nord Stream 2 für die Ukraine sehr wohl ein Problem darstellt, erklärt Contributors:
„Das Problem ist, dass das Gas, anstatt dass die Ukraine für seinen Transit Geld erhält, nun zu einem günstig verhandelten Preis in der Ukraine verbleiben soll. Wenn das Gas nicht geliefert wird, wird dies die Industrie empfindlich treffen und die Versorgung von Haushalten gefährden. … Die zunehmende Energieabhängigkeit der Ukraine von Russland macht Kyjiw viel anfälliger für eine politische Kontrolle durch den Kreml. Hinzu kommt, dass mit der allgemeinen Akzeptanz der Besetzung der Krim, der Festlegung neuer Seegrenzen und der Neuaufteilung des Festlandsockels im Schwarzen Meer die Hoffnungen der Ukraine, von den ihr zustehenden Erdgasreserven zu profitieren, zunichte gemacht werden.“
Die USA mussten nachgeben
Energie-Experte Alexander Frolow sagt in Iswestija, dass Washington keine andere Wahl blieb, als sich mit der Pipeline anzufreunden:
„Die USA hätten die EU nur zu einem Verzicht zwingen können, wenn sie dabei eine Linie überschritten hätten, hinter der ein vollumfänglicher Handelskonflikt begonnen hätte. Dieser hätte jedoch eine Stärkung der Rolle Chinas auf dem Kontinent zur Folge gehabt. Das konnten die USA aus wirtschaftlichen Überlegungen nicht zulassen. ... Zudem hätte ein weiteres Ausüben von Druck auf die europäischen Partner kontraproduktiv in Form eines Autoritätsverlusts enden können: Was tun, wenn man mächtig Druck macht, aber dieser Druck ignoriert wird? Vielleicht ist man dann gar nicht so allmächtig wie allgemein angenommen?“
Kyjiw guckt in die Röhre
Der Kompromiss von Washington geht klar zu Lasten der Ukraine, stellt die taz fest:
„Denn während Deutschland und Russland Konkretes bekommen, nämlich Nord Stream 2, gibt es für die Ukraine nur Versprechungen. Was aber passiert, wenn sich die politische Großwetterlage in zehn Jahren ändert und die Akteure die Versprechen Richtung Kiew dann in einem anderen Licht sehen? In der Ukraine beobachtet man genau, wie schnell sich die USA ihrer lästigen Bündnispartner und Ortskräfte in Afghanistan entledigen. ... Und so braucht man sich nicht zu wundern, dass China für die Ukraine immer wichtiger wird.“
Verantwortung gegenüber Osteuropa ernst nehmen
Jetzt steht Deutschland gegenüber den Regierungen in Kyjiw, Warschau, Tallinn und Riga in der Pflicht, meint Die Presse:
„Sie hatten und haben gute Argumente für ihre Position, nicht zuletzt die Erpressbarkeit Europas durch eine Kreml-Führung, die nach Belieben den Gashahn zudrehen kann. … Es wird nun an Deutschland liegen, mit seiner Verantwortung gegenüber den osteuropäischen Staaten sorgsam umzugehen, auf die eingebauten Sicherheitsklauseln - insbesondere für die Ukraine - zu pochen und sie bei Bedarf auch zur Anwendung zu bringen.“
Deutschland ist für Biden enorm wichtig
Dies ist nicht das erste Mal, dass Biden gegenüber Berlin zu Zugeständnissen bereit ist, bilanziert Corriere della Sera:
„Biden bemühte sich sofort um eine engere Zusammenarbeit. Im Juli 2020 hatte Trump den Abzug von 12.000 von insgesamt 36.000 US-Militärs aus deutschen Stützpunkten angeordnet. Doch im Februar 2021 widerrief Biden den Auftrag: Das Kontingent soll nicht angetastet werden. Den Vorwurf an Berlin, zu wenig für die militärische Verteidigung auszugeben, hat der Präsident auf die lange Bank geschoben. Stattdessen hat er versucht, zu neuen Prioritäten eine Achse mit Merkel zu bilden: Klimawandel, wirtschaftlicher Aufschwung und die Bekämpfung des chinesischen Expansionismus.“
Baustein für die grüne Energie-Zukunft
Dass Berlin so beharrlich war, schreibt Wsgljad den deutschen Ambitionen zur Energiewende zu:
„Deutschland betrachtet Nord Stream 2 in erster Linie vom Blickpunkt der erneuerbaren Energien. ... In der Übergangsphase muss Gas die wegfallenden Kapazitäten von Atom- und Kohlekraftwerken ersetzen. Perspektivisch möchte man die Gasleitung für den Wasserstoff-Transport nutzten. ... Aber zur Verwirklichung ihrer ambitionierten Energiepläne brauchen Deutschland und die EU die USA als Partner. Der Übergang zu neuen Energiequellen muss global sein oder wenigstens den Großteil der Weltwirtschaft erfassen. Sonst besteht das Risiko, die wirtschaftliche Konkurrenz gegenüber denjenigen zu verlieren, die bei den traditionellen Kohlenwasserstoffen bleiben.“