Ära Merkel: Europas Presse blickt zurück
Wenige Tage vor der Wahl zum Deutschen Bundestag ist das Rennen offen, doch eines steht fest: Nach dem Urnengang wird erstmals nach 16 Jahren nicht mehr Angela Merkel die Bundesrepublik als Regierungschefin führen. In den Kommentarspalten der europäischen Medien mischen sich Lob und Tadel für die scheidende Kanzlerin.
Merkels EU-Politik weiterführen
Dnevnik erhofft sich auch unter Merkels Nachfolger eine starke und integrierende deutsche Rolle in Europa:
„Neben der Verhinderung einer unwiderruflichen Spaltung der EU - Merkels oberste Priorität und größte Leistung - wird Deutschland die gefährlichsten Bedrohungen bekämpfen müssen, denen die EU in den kommenden Jahren ausgesetzt sein wird, allen voran die Verletzung der Rechtsstaatlichkeit in der EU. ... Die EU kann ohne gemeinsame Standards für die Unabhängigkeit der Justiz, die Achtung der gemeinsamen Werte und die Anerkennung des Europäischen Gerichtshofes als obersten Schiedsrichter nicht überleben.“
Ihre Rezepte sind nicht mehr zeitgemäß
Libération-Chefredakteur Dov Alfon hofft, dass mit der Kanzlerin auch ihr Regierungsstil abtritt:
„Ihr Nachfolger dürfte versucht sein, ihren Governance-Ansatz zu übernehmen: Veränderungen vermeiden, auf Krisen erst reagieren, wenn sie eingetreten sind, solide auftreten, aber die großen Industriellen schonen. ... Doch die Grenzen dieser Formel sind bereits sichtbar. Deutschland war noch nie so reich, und kein großes Industrieland hatte je so eine hohe Wachstumsrate. Und doch hinkt das Land in allen wichtigen Bereichen des herannahenden Zeitalters hinterher: Digitales, Klima, öffentliche Verkehrsmittel, Energiewende. Gelingt dem neuen Kanzler - oder der neuen Kanzlerin - die Meisterleistung, den Rückstand aufzuholen, den Angela Merkel hat wachsen lassen, könnte er noch länger im Amt bleiben als sie.“
Späte Abkehr von der Austerität
In Kathimerini zieht der griechische Ex-Premier Alexis Tsipras Bilanz über Merkels Kanzlerschaft:
„Während der Finanzkrise plädierte Angela Merkel für eine starke Währungsunion als treibende Kraft der EU. Sie beruhte auf neoliberaler Sparpolitik zu Lasten der wirtschaftlich schwächeren Mitgliedstaaten. ... Diese EU ebnete den Weg für die Grexit- und Brexit-Befürworter und natürlich für den Aufstieg der extremen Rechten. ... Als Merkel sich dann vehement für eine menschlichere Bewältigung der Flüchtlingskrise oder die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Nordmazedonien und Albanien einsetzte, war dies die EU, mit der sie sich konfrontiert sah. Ihre Unterstützung für das Konjunkturprogramm 'Next Generation EU' ist deshalb eine positive Wendung und ein äußerst wichtiger Beitrag zu ihrem Vermächtnis.“
Diese Frau verdient den Friedensnobelpreis
In der Flüchtlingskrise 2015 hat Angela Merkel Geschichte geschrieben, lobt La Libre Belgique:
„Ihre Größe war vor allem eine moralische. ... Sie setzte auf Großzügigkeit, indem sie trotz der allgemeinen Skepsis massiv muslimische Flüchtlinge aus Syrien sowie Jesiden aufnahm, deren Eingliederung gelungen zu sein scheint. Die Medien sträubten sich, ihr Glauben zu schenken, verneigten sich später jedoch. Sie hat es gesagt, sie hat es getan, Ende der Geschichte. Und das ist viel. Denn das waren keine leeren Worte. Daher ist ihr bewundernswertes 'Wir schaffen das!' bereits wie Kennedys 'Ich bin ein Berliner' in die Geschichte eingegangen. Weit mehr als Obama hätte sie den Friedensnobelpreis verdient.“
Mit ihr wurde Deutschland zur Zentralmacht
Público analysiert durchaus beeindruckt Merkels Agieren auf dem internationalen Parkett:
„Für manche war die deutsche Kanzlerin eine effiziente Managerin der aufeinander folgenden europäischen Krisen. ... Für andere war sie eine Führungspersönlichkeit ohne Vision, die sich darauf beschränkt hat, den Status Quo pragmatisch zu verwalten, und die ihrem eigenen Land zu häufig Priorität eingeräumt hat. … Eins ist sicher: Als Merkel 2005 zum ersten Mal das Kanzleramt erobert hatte, befand sich Deutschland in einer Krise und war dabei, nach der Wiedervereinigung eine 'ganz normale Nation' zu werden. Jetzt, da sie geht, steht Deutschland im Zentrum der politischen und ökonomischen Anziehungskraft Europas und der Einfluss des Landes auf das Schicksal der EU ist größer denn je.“
Verwaltender Fels in der Brandung
Merkel steht für Stabilität, aber nicht für Innovation, meint der Kurier:
„Morgen in einer Woche steht der Nachfolger der deutschen Kanzlerin fest, und dass sich ihre Ära dem Ende zuneigt, darüber sind manche froh. ... Unabhängig davon sind die Verdienste der Kanzlerin für Deutschland und für Europa unbestritten – vor allem als verlässlicher, reflektierender Fels in der Brandung immer erratischer und egoistischer agierender Politiker rundum, von seinerzeit Trump bis heute noch Orbán. ... Ebenso offen liegend sind ihre Versäumnisse, etwa was das Fitmachen ihres Landes für die Zukunft betrifft ... Ein Farbwechsel im Kanzleramt nach 16 Jahren wäre per se kein Unglück und würde so viel nicht ändern. ... Deutschland bleibt in jedem Fall auf Kurs, auch nach der Ära Merkel.“
Merkwürdige deutsche Mischung
Rzeczpospolita blickt kritisch auf das Vermächtnis der Kanzlerin, mag aber nicht so recht auf Wandel hoffen:
„Wenn sich in den nächsten Tagen keine neue Katastrophe ereignet, werden die Sozialdemokraten und ihr Kanzlerkandidat Olaf Scholz die Bundestagswahl gewinnen, und eine künftige Regierungskoalition könnte ohne die Christdemokraten gebildet werden. Dies würde dann zu der seltenen Situation in Deutschland führen, in der eine demokratische Wahl tatsächlich zu einem grundlegenden Regierungswechsel führen würde. ... Wird es eine echte Veränderung sein? Unter Merkel ist die Politik in Deutschland zu einer merkwürdigen Mischung aus den rücksichtslosen Konzerninteressen der deutschen Finanz- und Industriewelt, Klimaradikalismus, europäischem Wertemoralismus und einer Flucht aus der militärischen Sicherheitsverantwortung geworden. Und das wird sich nicht ändern.“