Was ändert sich nach der Bundestagswahl in Europa?
Nach der Bundestagswahl laufen die ersten Sondierungsgespräche zwischen möglichen Regierungsparteien. Wer Kanzler wird, bleibt weiter offen. Dennoch lesen Kommentatoren schon Entwicklungen heraus, die diese Wahl für ihr Land und Europa mit sich bringen könnte. Die Mehrheit rechnet nicht mit allzu großen Verschiebungen - nicht alle bewerten das positiv.
Geschwächtes Deutschland
Mit einer Drei-Parteien-Koalition wird Deutschland an Einfluss verlieren, meint LB.ua:
„Jedes Drei-Parteien-Kabinett wäre eine deutlich schwächere Regierung als Merkels Zwei-Parteien-Regierung. Denn so muss der neue Kanzler viel mehr um Positionen verhandeln. Die FDP und die Grünen sind entschiedene Gegner von Nord Stream 2. ... Aber wie wird sich diese Entschlossenheit in einem Bündnis mit der SPD auswirken, wo jedem neuen Kanzler klar ist, dass jederzeit einer der Partner die Koalition verlassen könnte? ... Bei diesem Kräfteverhältnis in Deutschland wird es lange keinen starken Kanzler geben. So ändert sich die Rolle Deutschlands auf der europäischen und der globalen Bühne. Kompromissfähigkeit ist nun nicht mehr nur eine Frage des guten Stils, sondern eine dringende Notwendigkeit, um Macht und Stabilität zumindest vorübergehend zu behalten.“
Nicht das geringste Großmachtsstreben
Mangelnde geopolitische Ambitionen attestiert Corriere della Sera den beiden stärksten Parteien, SPD und CDU - die damit allerdings in Europa nicht alleine sind:
„Darin spiegelt sich die Vorstellung wider, dass Europa politisch nicht wachsen muss. Es kann so bleiben, wie es ist, halbgar. Die Anzeichen für diesen Mangel an Ehrgeiz sind nicht nur in Deutschland zu finden, denn auch uns Italienern, den Franzosen, den Spaniern und den Niederländern fehlt das, was man früher einmal den Willen zur Macht genannt hätte. Wir sind nicht bereit, die Kosten zu tragen für eine echte Autonomie und die Fähigkeit, unseren Einfluss in der Welt geltend zu machen. Wir glauben immer noch, dass wir eine Wahl haben, und haben uns dafür entschieden, nicht den Preis für den Versuch zu zahlen, eine Großmacht zu sein.“
Dämpfer für Macrons Strategie
Macron verliert mit Merkel eine wichtige Verbündete und muss sich auf Gegenwind einstellen, glaubt The Daily Telegraph:
„Präsident Macron teilt Angela Merkels Vorliebe, Geschäfte mit Russland und China zu machen und dabei Bedenken hinsichtlich der Menschenrechtslage zu ignorieren, die sowohl die FDP als auch die Grünen anbrachten. Schon im Frühjahr musste die Macron-Merkel-Achse diesem Druck nachgeben, als sie ein Investitionsabkommen mit China ohne entsprechende Menschrechtsklauseln und den Dialog mit dem Kreml wieder aufnehmen wollte. Ohne Angela Merkel an der Spitze in Berlin wird Macrons Vision einer 'strategischen Unabhängigkeit' Europas von den USA und der US-geführten Nato eine Fata Morgana bleiben.“
Türkei weit unten auf der Agenda
Wie künftig Deutschlands Politik gegenüber der Türkei aussehen wird, überlegt Yetkin Report:
„Es werden keine radikalen Veränderungen in der Türkei-Politik erwartet, da diese in Deutschland keine hohe Priorität hat. ... Doch auch im unteren Bereich der Tagesordnung wird ein möglicher Wandel vor allem davon abhängen, mit wem die SPD eine Koalition bilden wird. ... Und davon, welche Partei das Außenministerium bekommt. Deutschlands Sozialdemokraten lag immer mehr an einer Annäherung der Türkei an Europa, und sie haben sich von Ausländerfeindlichkeit immer ferngehalten. Auch bei der Frage der doppelten Staatsbürgerschaft ist die SPD offen. Wenn erst eine Koalition gebildet ist und sich alles etwas beruhigt, werden wir das sehen.“
Grüne Außenministerin - kein Problem für Russland
Radio Kommersant FM glaubt nicht, dass die Beziehungen zwischen Berlin und Moskau leiden werden:
„Beide Seiten sind zu einer strategischen Zusammenarbeit verdammt - ohne besondere Liebe, aber auch ohne die Wahrscheinlichkeit einer ernsthaften Konfrontation. Selbst wenn, wie prophezeit wird, die Grünen-Chefin Baerbock Außenministerin wird, werden all ihre Reden von einer notwendigen Verschärfung der Sanktionen und einem So-gut-wie-Stopp der Inbetriebnahme von Nord Stream 2 zwar die Meinung einer wichtigen, aber eben nur einer Partei der Koalition sein. Den Grünen opponieren wird da weniger der Kreml als der neue Kanzler - egal ob das Scholz oder Laschet sein wird.“
Unsichere Zeiten
Právo traut den Sondierungen über eine Ampel- oder eine Jamaika-Koalition nicht über den Weg:
„Wäre am Ende nicht die Wiederholung der großen Koalition die Lösung, auch wenn die jetzt nicht sehr wahrscheinlich erscheint? Schon vor vier Jahren sah es nach Jamaika aus, bis im letzten Moment FDP-Chef Lindner ausstieg und die GroKo einziger Ausweg war. Einzig sicher zu sein scheint, dass in Deutschland unsichere Zeiten anbrechen. Das ist in einem Moment, da Europa auf eine Reihe wichtiger globaler Verschiebungen reagieren muss, nicht ideal. Zumal uns in sieben Monaten die nächste Wahl erwartet - die des Präsidenten in Frankreich.“
Zukunftweisende Fusion von Ökologie und Wirtschaft
Die Sondierungsgespräche zwischen FDP und Grünen könnten nicht nur für Deutschland wegweisend sein, hofft L'Echo:
„Analysten haben es sich nicht entgehen lassen, darin den Dialog zwischen Wasser und Feuer zu sehen, so sehr klaffen die Standpunkte der beiden Parteien auseinander. Und doch könnten genau diese beiden Kräfte ungeachtet ihrer Fassaden und oft zu exklusiven Posen Europa zeigen, wie gut politischer Umweltschutz und Geschäftswelt zusammen passen. Eine Zusammenarbeit, ohne die unsere Klimaagenda nur eine schmerzhafte und finanziell desaströse Totgeburt wäre. … Mehr als der Name des Kanzlers wird das Ergebnis dieser ersten Verhandlungen zwischen Grünen und Liberalen den wirklichen Ehrgeiz dieser neuen Nach-Merkel-Ära vorgeben. Damit hätten uns die deutschen Wähler eine schöne Lektion erteilt.“
Macron wittert Chance auf mehr Einfluss
Das enge Wahlergebnis und danach entstehende Machtvakuum in Deutschland dürfte vor allem dem französischen Präsidenten gefallen, glaubt The Spectator:
„Die Koalitionsbildung in Deutschland wird einige Zeit dauern. Merkelwird bei der nächsten Sitzung des Europäischen Rates im Oktober wahrscheinlich noch deutsche Bundeskanzlerin sein. Aber wer auch immer ihre Nachfolge antritt, wird Zeit brauchen, um die Autorität aufzubauen, die Merkel bei diesen Treffen des EU-Rates hatte. Emmanuel Macron wird zweifellos den anstehenden EU-VorsitzFrankreichs [Januar bis Juni 2022] nicht nur dafür nutzen, seine ohnehin schon guten Aussichten auf eine Wiederwahl zu stärken, sondern auch dafür, sich als führende Person im EU-Rat zu positionieren.“
Deutschland braucht jetzt Finnlands Know-how
Finnland darf sich Hoffnungen auf Exportaufträge aus Deutschland machen, glaubt Ilta-Sanomat:
„Durch den Rückzug Merkels aus der Politik verliert Finnland eine wichtige Partnerin. Der Verlust ist aber nicht unersetzlich. Wer auch immer Deutschlands nächster Bundeskanzler sein wird, Finnland muss zu ihm eine gute und funktionierende Beziehung aufbauen. Von der künftigen deutschen Regierung werden große öffentliche Investitionen unter anderem in die Digitalisierung und die Förderung des grünen Wandels erwartet. Investitionen in die Infrastruktur und den Kampf gegen den Klimawandel bieten der finnischen Exportindustrie viele Chancen. Eine Zunahme der Nachfrage ist für uns hervorragend. Es ist nicht schwierig, einem vertrauten Handelspartner finnisches Know-how anzubieten.“
Bitte kein FDP-Finanzminister
Die Koalitionsverhandlungen werden auch über die Zukunft des Euro-Stabilitätspaktes mitbestimmen, schreibt La Repubblica:
„Die Bundestagswahl wird unsere Zukunft mehr beeinflussen als die italienische Wahl, wann immer sie stattfinden wird. Vor allem, wenn in Berlin eine Regierung mit den Liberalen als Zünglein an der Waage gebildet wird - und mit ihrem Vorsitzenden Christian Lindner als Finanzminister. ... In diesem Fall wird der Druck Deutschlands, so schnell wie möglich zur fiskalischen (und monetären) Sparsamkeit zurückzukehren, sehr stark werden. Für Italien würde die Vor-Covid-Version des Stabilitäts- und Wachstumspakts Instabilität, Wachstumsrückgang und eine immer weiter wachsende Verschuldung bedeuten.“
Athen hält den Atem an
Eine Ampelkoalition in Deutschland könnte für Griechenland gute und schlechte Folgen haben, findet Kathimerini:
„Die Grünen beanspruchen bereits das Außenministerium, eine Entwicklung, die für unser Land aufgrund der harten Haltung der Partei gegenüber der Türkei und ihres Vorschlags einer großzügigen Geste gegenüber Athen, was die Reparationen angeht, eher positiv sein wird. Andererseits wäre die Ernennung des FDP-Chefs Christian Lindner, eines Verfechters der Fiskalorthodoxie, zum Finanzminister eine schlechte Nachricht für Griechenland und Europa in einer Zeit, in der Entspannung eine Voraussetzung für die Erholung von der Pandemie ist.“
Jamaika käme dem Norden entgegen
Jyllands-Posten ist gespannt darauf, welche Farben Deutschlands erste Drei-Parteien-Koalition tragen wird:
„Eine Schlüsselrolle kommt dabei der liberalen FDP zu. Die Partei hat unter dem charismatischen Christian Lindner ein gutes Wahlergebnis eingefahren und war, historisch gesehen, ohne Probleme Juniorpartner sowohl in einer sozialdemokratischen wie auch in einer bürgerlichen Regierung. Wenn es in letztgenannte Richtung geht, könnte Lindner der neue Finanzminister werden. Darüber wären nicht zuletzt die nordeuropäischen Länder froh, die in der EU eine Art Sparerbund bilden. Das gilt auch für Kopenhagen.“
Schwache AfD gut für Polen
Polityka widmet sich den Wahlverlierern:
„Neben den Christdemokraten sind das sicherlich die postkommunistische Linke (am Rande der Fünf-Prozent-Hürde) und die AfD [mit 10,3 Prozent], die von einigen als rechtsextrem, von anderen als nationalkonservativ bezeichnet wird. Die AfD, die vor vier Jahren viele Wähler gewann, die sich über die Aufnahme einer großen Zahl von Flüchtlingen in Deutschland empörten, geht aus dieser Wahl geschwächt hervor. ... Deutschland zeigt sich widerstandsfähiger gegen den Rechtspopulismus als die meisten anderen Länder Europas. Das ist eine gute Nachricht für Polen, denn die AfD als Pro-Putin- und Anti-EU-Partei findet hier nur bei den Unterstützern der rechten Konfederacja-Partei Zustimmung, und der ganze Kontinent braucht ein starkes Deutschland in einer starken EU.“
Berlin und Paris mit sich selbst beschäftigt
Monatelange Koalitionsverhandlungen sind nicht gerade das, was Europa jetzt braucht, schreibt La Razón:
„Die Lage bereitet den EU-Partnern zwar keine größeren Sorgen, zumal sie jede Regierungskoalition unter Einbezug der Populisten am linken oder rechten Rand ausschließen können. Aber es ist auch keine besonders wünschenswerte Situation, wenn man bedenkt, dass auch Frankreich gerade in einen komplizierten Wahlprozess eintaucht. Das bedeutet, dass beide Lokomotiven der EU mit ihren eigenen Problemen beschäftigt sein werden. Und das zu einer Zeit, in der man dringend ein einheitliches Handeln erreichen sollte, um die wirtschaftlichen, sozialen und finanziellen Probleme anzugehen, die aus der Coronavirus-Pandemie resultieren.“