Droht ein neuer Einmarsch Russlands in die Ukraine?
Nachdem die Nato und die USA wegen des Aufmarschs russischer Truppen Sorgen über eine mögliche russische Winteroffensive gegen die Ukraine geäußert hatten, reagierte Russland nun mit Vorwürfen gegen Kyjiw. Dort plane man selbst eine Offensive im Donbass, so Moskauer Stimmen. Die Ukraine wies dies zurück. Kommentatoren ziehen historische Vergleiche heran und prüfen die Optionen des Westens.
Es gibt zwei Optionen, auf den Bluff zu reagieren
Nowaja Gaseta hält Russlands Aufmarsch nicht für reale Kriegsvorbereitungen, sondern für einen altbekannten Trick:
„Das Ganze ist, wie schon im Frühjahr, ein Bluff. Das ist wieder diese hybride Kriegsführung: Eine Erzwingung von Dialog. Eine Antwort auf die Sanktionen und die Projekte, die einen Verzicht auf russisches Gas und Öl ermöglichen sollen. Auf den zwischen den USA und der Ukraine geschlossenen Vertrag. Auf den Unwillen der Ukraine, die Separatisten-Gebiete in der Ostukraine zu Kreml-Bedingungen zu integrieren. ... Für die USA und Europa gibt es zwei Wege, auf diesen Bluff zu reagieren: Entweder erschrecken und den 'Dialog' beginnen. Oder zu zeigen, dass im Kriegsfall die Ukraine so viel Militärhilfe bekommt, dass ein Sieg des Kremls unmöglich wird.“
Die Vorbereitungszeit wird knapp
Man braucht rasche Klarheit darüber, wie sich der Westen im Falle eines russischen Angriffs verhalten sollte, fordert Ukrajinska Prawda:
„Die Schlüsselfrage bleibt, was der Westen im Falle einer russischen Invasion tun würde, denn dieser ist die wichtigste Abschreckung für den russischen Staatschef. ... Von der Nato ist, gerade angesichts der führenden Rolle der USA, Unterstützung zu erwarten. Natürlich sollten die Erwartungen realistisch bleiben. Wir sind ja kein Nato-Mitglied und so wird es auch keinen kollektiven physischen Schutz unserer Grenzen wie in den baltischen Staaten geben. Jedenfalls bleibt immer weniger Zeit, um gemeinsame Aktionen vorzubereiten.“
Wie bei Georgien und der Krim
Einen gefährlichen Strategiewechsel im Kreml fürchtet Russland-Expertin Anna Zafesova in La Stampa:
„Noch bis vor wenigen Monaten wählte Moskau ganz rational die Option, den Konflikt auf der Ebene der Propaganda zu halten, aber nicht in die Realität ausufern zu lassen. Was also hat sich an der Nutzen-Risiko-Abwägung geändert? Die Antwort liegt im Kreml, für den die Risiken mit sinkenden Zustimmungswerten, der verheerenden Pandemie-Lage und der Inflation gestiegen sind. Trotz der gewaltsamen Unterdrückung Andersdenkender wünschen sich zu viele in Russland - insbesondere auch innerhalb der Putin-Nomenklatura - einen Wechsel an der Spitze. Ein Krieg zur Rückeroberung ehemaliger sowjetischer Gebiete hat die sinkende Popularität des Führers bisher immer aufgefangen: Das war 2008 mit Georgien und 2014 mit der Krim der Fall.“
Mehr Europa ist nötig
Die EU hat Teile Osteuropas nicht konsequent genug an sich gebunden, schreibt Ta Nea:
„Putin testet die Reflexe Europas, indem er Truppen an der Grenze zur Ukraine stationiert oder Extremisten auf dem Balkan anstachelt. Europa reagiert. ... Die EU hat Putin gewarnt, dass es Sanktionen geben wird, wenn er erneut die territoriale Integrität eines anderen Landes verletzt, aber sie hätte den Brand verhindern können, anstatt ihn löschen zu müssen. Beim EU-Beitrittsprozess mehrerer Balkanländer zum Beispiel gab es unverzeihliche Verzögerungen. Politiker hätten die europäischen Ideale über die Interessen ihrer Industrien stellen können. Auf jeden Fall hat sich wieder einmal gezeigt, dass wir mehr Europa und ein besseres Europa brauchen. Dafür müssen wir kämpfen und dabei nicht vergessen, dass die europäische Souveränität nicht mit der nationalen Souveränität konkurriert. Sie ergänzt sie.“
Echter Krieg wäre schlecht für Putins Rating
Kommentator Matwej Ganopolski warnt auf Echo Moskwy, dass sich Putin um Kopf und Kragen bringt, wenn er weiter eskaliert:
„Wie der vereinte Westen reagieren könnte, stelle ich mir besser gar nicht erst vor. Aber es wird gerechtfertigt sein, denn Putin greift sinnlos an, einfach um Gebiet zu erobern (so wirkt es), und das ist global gefährlich und zieht entsprechende Antworten nach sich. Weitere unangenehme Nuancen für ihn: ... Begräbnisse und ein sinnloser Krieg sind schlecht fürs Rating. Russische Soldaten sind kein Kanonenfutter - meinen zumindest ihre Eltern. Kurzum, so ein neuer kleiner Krieg kann paradoxerweise für Russland zum Verlust des Donbass und der Krim führen. Heutzutage ist es von der Stabilität zum Chaos nur ein Schritt.“
Kalte Zeiten stehen an
Das Klima zwischen dem Westen und Russland wird rauer, analysiert Helsingin Sanomat:
„Der Westen sollte sich davor hüten, Putin als geschickten und gerissenen Schachgroßmeister zu sehen, dem alles gelingt. Das ist er natürlich nicht. ... Er schafft es ja nicht einmal, seine Bürger dazu zu bringen, den von ihm angepriesenen Impfstoff gegen das Coronavirus zu nehmen. … Dennoch darf die Lage nicht unterschätzt werden. Russland ist unzufrieden mit der derzeitigen Sicherheitsordnung in Europa und versucht, sie zu ändern. Seine Führung ist der Ansicht, dass der Westen einen Krieg gegen russische Interessen begonnen hat und dass dies Russlands Handeln rechtfertigt. … Russland strebt nun eine Verhärtung der Fronten an. Vor uns liegen kalte Zeiten.“
Zugang zum Asowschen Meer in Gefahr
Eine russische Winteroffensive ist unwahrscheinlich, liest man bei Adevărul:
„Die Verlegung der Truppen ist ein langsamer Prozess, der im April 2021 begonnen hat und von den russischen Behörden nicht verheimlicht wird. Das ist untypisch: Bei den Militäraktionen in der Ukraine (2014) und Georgien (2008) setzte Moskau auf strategische Überraschungen. Die mittel- und langfristige Bedrohung ist viel realer: ... Russland könnte die [südukrainischen] Regionen Saporischschja und Cherson besetzen und dort einen Landkorridor schaffen, der Lugansk und Donezk mit der Halbinsel Krim verbindet und damit gleichzeitig den Zugang der Ukraine zum Asowschen Meer abschneidet.“
Belarus als Brückenkopf russischer Aggression
Russland muss sich auch im Donbass auf mehr Widerstand gefasst machen, analysiert Stanislaw Schelichowskyj von der beim ukrainischen Außenministerium angesiedelten Diplomatischen Akademie in lb.ua:
„Die Reaktion der westlichen Länder auf das Vorgehen des Kremls und des Lukaschenka-Regimes hat gezeigt, dass die zivilisierte Welt bereit ist, unseren Staat gegen die russische Aggression zu verteidigen. Außerdem wird US-Präsident Biden noch vor Jahresende eine Videokonferenz mit Putin abhalten, in der er die Frage der Sicherheit der Ukraine ansprechen wird. ... Gleichzeitig ist sich Kyjiw darüber im Klaren, dass Belarus in Zukunft zu einem neuen Brückenkopf für die Aggression der russischen Truppen werden wird. Dieses Gebiet wird militarisiert. Die Herausforderungen nehmen zu, aber die Ukraine und der Westen sind bereit, auf diese neue alte Bedrohung zu reagieren.“