Ukraine-Krise: Ruhe vor oder nach dem Sturm?
Vergangene Woche bezeichnete Russland das US-Angebot zur Ukraine-Krise als nicht zufriedenstellend. Anschließend erhöhte es seine Truppenpräsenz im Grenzgebiet weiter, so dass inzwischen ein Angriff möglich wäre. Schon zuvor hatten auch mehrere westliche Staaten ihre Militärpräsenz in Osteuropa erhöht. Kommentatoren glauben dennoch nicht an einen ausgewachsenen Krieg und diskutieren Möglichkeiten der Deeskalation.
Nicht die erste westliche Fehlinterpretation
Der Westen hat die Lage in Krisengebieten schön öfters falsch eingeschätzt, erinnert der Politologe Wolodymyr Fessenko auf 24tv.ua:
„Ich möchte Sie an einige historische Fakten erinnern. Niemand in Washington, London oder dem Westen im Allgemeinen hat die Einnahme der Krim durch Russland und den Ausbruch des Krieges im Donbass im Jahr 2014 erwartet. ... In den westlichen Hauptstädten ist es auch zu einem völligen analytischen Versagen gekommen, was die Einschätzung der Entwicklungen in Afghanistan nach dem Abzug der amerikanischen Truppen betrifft. Man erinnere sich auch an die langjährigen Geschichten mit 'westlichen Geheimdienstdaten' über Saddam Husseins Chemiewaffen oder die Anschuldigungen gegen Kyjiw wegen Waffenverkäufen nach Nahost.“
Weder große Invasion noch Kapitulation
Mit leeren Händen wird Putin nicht nach Hause gehen, prognostiziert Népszava:
„Die russischen Militärkräfte, die entlang der Grenzen der Ukraine auffahren, reichen nicht aus, um das [ganze] Land zu besetzen. ... Jedoch ist diese Militärkraft zu groß, um einfach in die Kaserne zurückzukehren. Das Ergebnis wird wohl irgendwo dazwischen liegen, wie es auch Joe Biden ungewollt erwähnte, als er meinte, dass die Antwort auf ein kleineres Eindringen freilich anders wäre als auf eine große Invasion. ... Putins Ziele sind [dennoch] eindeutig: nicht zuletzt aus seinem im vergangenen Sommer veröffentlichten Artikel über die historische Einheit von Russen und Ukrainern gehen sie klar hervor. “
Putin kann sich den Donbass ruhig ausleihen
NV schreibt:
„Jeder weiß, dass Moskau den Rückzug angetreten hat. Gleichzeitig muss es aber auch irgendwie sein Gesicht wahren. ... Was wäre gesichtswahrend? Vielleicht die Anerkennung der LDPR [die selbsterklärten Volksrepubliken Donezk und Luhansk] als unabhängige(r) Staat(en) und vielleicht sogar die Annexion dieser Gebiete. ... In Russland würden alle verstehen, dass dies eine totale Niederlage ist - man wollte die ganze Ukraine, hat aber nur zwei Stümpfe bekommen. ... Und die würden nach Putins Ende definitiv in die Ukraine zurückkehren - Russland braucht sie nicht. Das wäre gut für die Ukraine, aber warum? Die Notwendigkeit, diese Gebiete zu fördern, solange sie besetzt sind, entfällt. ... Die Gefahr einer direkten militärischen Invasion ist gebannt. Außerdem gelten die Minsker Vereinbarungen dann nicht mehr.“
Moskau hat sich verkalkuliert
Russlands aggressive Politik hat ihr Ziel in jeder Hinsicht verfehlt, meint Ilta-Sanomat:
„Seit Russland im Frühjahr 2014 illegal auf der Halbinsel Krim einmarschiert ist, sie annektiert hat und Kriegspartei in der Ostukraine geworden ist, hat Finnland Einsatzbereitschaft, Kooperationsfähigkeit und Aufklärung seiner Verteidigungskräfte konsequent weiterentwickelt. … Das aggressive Vorgehen Russlands hat seinen eigenen Zielen überhaupt nicht gedient. ... Auch die Debatte über einen Nato-Beitritt hat sich noch verstärkt. Die Sicherheitspolitik wird bei den Parlamentswahlen 2023 zum wichtigsten Thema. Russland hätte nicht erneut den Versuch unternehmen sollen, in Europa Interessensphären zu errichten.“
Kein Wunder, dass Ukraine nicht neutral sein will
Wenn Russland das Selbstbestimmungsrecht der Ukrainer anerkennen würde, sähen sich diese nicht genötigt, in der Nato Schutz zu suchen, erinnert Times of Malta:
„Eine mögliche Lösung des Konflikts wäre natürlich, dass die Ukraine erklärt, auf eine Politik der Neutralität zu setzen - so wie es Finnland bisher getan hat, das eine lange Grenze zu Russland hat. Dazu muss Russland jedoch direkt mit der Ukraine verhandeln und aufhören, das Land als Marionette des Westens zu behandeln. Nötig wären zudem Garantien Moskaus, dass Unabhängigkeit, Souveränität und das Recht auf EU-Beitritt der Ukraine immer respektiert werden. Die Ukraine will ja nur deshalb der Nato beitreten, weil das Land Russland fürchtet.“
Die Lösung liegt bereits auf dem Tisch
Der US-Diplomat und frühere Vertreter der USA bei der Nato, Edward Hunter, ist in Financial Times zuversichtlich:
„Die Einigung wird anerkennen, dass die Ukraine der Nato nicht beitreten wird, sich Länder aber weiterhin um den Natobeitritt bewerben dürfen (obwohl es keine ernsthaften Kandidaten auf der Länderliste potenzieller neuer Mitglieder gibt). Zusätzlich werden beide Seiten vertrauensbildende Maßnahmen vereinbaren. Diese liegen bereits auf dem Tisch und der Nato-Russland-Rat wurde bereits wiederbelebt. Die USA brauchen Russland auch, um Cyberangriffe und Eingriffe in die Demokratien der USA und Europas zu beenden. Moskau hat hier bereits Revil, ein großes Hacking-Netzwerk mit Sitz in Russland, schließen lassen.“
Nadelstiche statt großem Schlag
Russland wird seine Strategie den Aussagen aus den USA anpassen, spekuliert Politikwissenschaftler Jesús A. Núñez Villaverde in El Periódico de Catalunya:
„Die bisher von den USA verbreiteten Botschaften deuten darauf hin, dass nur eine massive Invasion zur Anwendung sehr harter Sanktionen führen wird. Militärische Maßnahmen von begrenztem Umfang werden andersherum also nicht auf eine ernsthafte westliche Reaktion stoßen, nicht wirtschaftlich und schon gar nicht militärisch. Daher werden Cyberangriffe, groß angelegte Desinformation, die Verstärkung von Stellungen auf der Krim und im Donbass oder sogar das Eindringen von Bodentruppen zur Wiedererlangung der Kontrolle über das Gebiet von Mariupol wahrscheinlicher, was einen Landkorridor auf russischem Gebiet nach Sewastopol sichern würde.“
Keine Zugeständnisse auf Kosten Ost-Mitteleuropas
Sme warnt eindringlich vor einer halbherzigen Reaktion auf die Aktionen des Kremls:
„Putin fordert nichts weniger als die Zone des russischen Einflusses wieder auf die Staaten auszudehnen, die - wie es sein Außenminister Lawrow sagte - nach dem Zusammenbruch des Warschauer Pakts und der UdSSR zu Waisen geworden sind. ... Angesichts dessen ist die Einheit Europas wichtiger denn je. Die Zukunft des Baltikums, der V4 und des Ostbalkans sollte nicht nur Biden, sondern vor allem den europäischen Mächten ein Anliegen sein, die jedoch eine ambivalente Haltung einnehmen. ... Wenn die Russen die Ukraine angreifen, werden die Deutschen wohl eindeutig Jein sagen. Wenn Europa nicht handelt, steht es kurz vor einer Rückkehr zu der Zeit vor 1989.“
Was ein Krieg im Nachbarland bedeuten würde
Bogusław Chrabota, Chefredakteur von Rzeczpospolita, fragt sich, wie gut Polen auf eine Invasion des Nachbarlands Ukraine vorbereitet wäre:
„Wenn ein Konflikt in der Ukraine ausbricht, wird Polen ein Grenzstaat im Krieg sein. ... Sind wir auf die möglicherweise Hunderttausende Flüchtlinge vorbereitet? Werden wir in der Lage sein, ihnen ein Dach über dem Kopf zu bieten? Werden wir in der Lage sein, sie zu ernähren und für ihre Gesundheit zu sorgen? Werden wir in der Lage sein, die mehr als 500 Kilometer lange Grenze zur Ukraine zu überwachen? Wie sind wir auf eine Rohstoffkrise vorbereitet, da ein Krieg zu Unterbrechungen bei der Versorgung mit russischem Öl, Gas und Kohle führen kann?“
Invasion wäre zum Scheitern verurteilt
Ein russischer Einmarsch in die Ukraine wäre das Ende von Putins Macht, meint 24 Chasa:
„Die Nato wird Javelin-Abwehrraketen einsetzen, für die die russischen Panzer wie aus Pappe sind. Die neuesten Stinger-Raketen schießen Kampfhubschrauber und tieffliegende Flugzeuge wie Enten ab. In den besetzen Gebieten wird sich eine starke Partisanenbewegung bilden. Früher oder später wird sich Russland zurückziehen wie aus Afghanistan. Putin wird die Macht abgeben und sich mitsamt seinen Freunden und Verwandten nach China absetzen müssen.“
Putin hat alle in der Hand
Wer in der aktuellen Situation die Zügel führt, ist für La Stampa eindeutig:
„Es gibt nur einen 'Start-Stop-Schalter' in dieser Krise. Und zwar in Moskau, im Kreml. … Wladimir Putin ist es gelungen, Kyjiw, Washington und Brüssel darauf festzunageln, auf seine Entscheidungen zu warten. Er riskiert also wenig oder gar nichts. Der Beginn eines bilateralen strategischen Dialogs mit den USA ist bereits ein Sieg. Putin ist der einzige Akteur, der freie Hand hat.“
Ende des Propagandaduells
Kommersant sieht nach dem Genfer Treffen Zeichen für Entspannung - und beruft sich auf eine inoffizielle Information aus dem State Department:
„Demnach bitten die US-Diplomaten ihre russischen Kollegen, ihre schriftliche Antwort auf die russischen Vorschläge zu Sicherheitsgarantien, die diese Woche erfolgen soll, nicht zu veröffentlichen. Bekanntlich werden ernste internationale Vereinbarungen unter Bedingungen der Vertraulichkeit erarbeitet. Deshalb spricht der Wunsch Washingtons dafür, dass die USA in der Tat auf das Finden einer beidseitig akzeptablen Lösung hinarbeiten. ... Das Treffen von Lawrow und Blinken kann man deshalb als Meilenstein betrachten, der am Übergang vom Propaganda-Duell zum 'Kampf um den Frieden' steht.“
Die Achillesferse der Ukraine
Russland könnte die Ukraine auch ohne Panzer in die Knie zwingen, meint der Publizist Oleg Popenko in Strana:
„Es braucht nur ein paar Sabotageakte, Raketen, Drohnen auf unsere praktisch unbewachten Kohlekraftwerke, und wir sind ohne Strom. Das Fehlen von Elektrizität würde unmittelbar zu einer Unterbrechung der mobilen Kommunikation und des Internets führen. Die Russen brauchen nur die Lieferung von Diesel und Benzin von Russland in die Ukraine auf dem Schienenweg zu unterbrechen, und wir sind paralysiert. … Wenn russische Schiffe eine Woche lang ukrainische Häfen blockieren würden, würde die ukrainische Wirtschaft zusammenfallen wie ein Kartenhaus.“
Donbass könnte zum Casus belli werden
Die Kommunistische Partei Russlands hat der Duma einen Appell an Putin vorgelegt, Donezk und Luhansk als unabhängig anzuerkennen. So könnte Russland der Ukraine den Krieg erklären, meint republica.ro:
„Wenn die Antwort der USA und der anderen Nato-Alliierten auf die russischen Forderungen, was die Osterweiterung der Nato angeht, Putin nicht gefällt, könnte Moskau aus der Donbass-Region einen 'Casus belli' machen (Begriff des Völkerrechts für die juristische Rechtfertigung der Auslösung eines Kriegsfalls). … Indem Moskau die Unabhängigkeit der Regionen Donezk und Luhansk anerkennt, werden sie zu internationalen Partnern der Russischen Föderation. Das würde bedeuten, dass jeder Schuss, der auf Donezk und Luhansk abgefeuert wird, ein 'Verteidigungsmotiv' für die russische Armee wäre.“
Kriegstreiber Stoltenberg
Der Publizist Juan Luis Cebrían sieht den Konflikt vorerst beigelegt, kritisiert in El País aber die Nato:
„Jetzt, da ein neuer Krieg in Osteuropa ausgeschlossen ist, bleibt die Notwendigkeit einer neuen Weltordnung, die weder auf der bipolaren Strategie des Kalten Krieges, noch auf der unbestrittenen Autorität der USA basieren sollte. ... Die Aufrechterhaltung des Weltfriedens erfordert nicht nur die Legitimität der Macht, sondern auch ihr Gleichgewicht. ... Dies ist nicht die Politik der Nato, deren Generalsekretär seit 2016 auf eine Konzentration der Streitkräfte in grenznahen Ländern drängt. Der deutsche Bundespräsident Steinmeier hat ihm deshalb einmal vorgeworfen, ein Kriegstreiber zu sein. Wer Stoltenbergs Vorstellung persönlich gehört hat, muss zugeben, dass diese Beschreibung treffend ist.“
Neutralität als Ausweg
Die Neue Zürcher Zeitung schlägt vor, die Ukrainer könnten dem historischen Beispiel der Finnen folgen:
„Sie mussten grosse territoriale Zugeständnisse machen, doch es gelang ihnen, die Russen davon zu überzeugen, ihnen anders als den später ganz ins Sowjetreich integrierten baltischen Staaten die Unabhängigkeit zuzugestehen. Im Gegenzug verpflichtete sich Finnland auf eine strikte politische Neutralität. ... Alle vom Volk gewählten ukrainischen Regierungen der vergangenen Jahre haben sehr zum Ärger Putins die Zukunft ihres Landes primär in einer stärkeren Integration mit Europa ... gesehen. Angesichts der drohenden russischen Invasion ... könnte ihr Weg dorthin vielleicht über eine klar definierte Neutralität nach finnischem Vorbild führen.“
Bitte mehr Realismus aus Brüssel und Paris
Rzeczpospolita erwartet von der französischen EU-Ratspräsidentschaft eine klare Ansage:
„In einem solchen Moment sollte der Selbsterhaltungstrieb die EU-Länder dazu veranlassen, zu erklären, dass die Interessen des Westens in der Auseinandersetzung mit Moskau von der Nato vertreten werden. Das wäre eine milde Umschreibung dafür, dass die Europäer ihr Schicksal wieder einmal in die Hände der Amerikaner legen. Doch Emmanuel Macron bringt dies nicht über die Lippen. ... Die Franzosen haben sich jahrzehntelang darauf spezialisiert, pompöse, aber unrealistische Visionen von der Zukunft der EU zu verkünden. Dies rührt von der Schwierigkeit her, zu akzeptieren, dass dieses Land, das einst eine Großmacht war, heute in einer anderen Liga spielt.“
Ein Kompromiss muss gefunden werden
Dem Westen fehlt für eine gelungene Vereinbarung derzeit eine fähige Führungsfigur, meint Delo:
„Am Ende wird auf beiden Seiten ein Kompromiss zur Nato-(Nicht-)Erweiterung gefunden werden müssen. Auch wenn dieser hinter den Kulissen zustande kommt, wie damals zwischen Moskau und Washington während der Kubakrise, als die Sowjetunion ihre Pläne zur Stationierung von Atomwaffen vor den Toren der USA aufgegeben und die Amerikaner ihre Atomwaffen nahe der sowjetischen Grenzen abgezogen haben. Während des Kalten Krieges ist es ihnen trotz scharfer Rhetorik gelungen, große Führungspolitiker zu finden, die die Welt vor einem zerstörerischen Konflikt retteten. Es ist zu befürchten, dass es an derartigen Führern, zumindest im Westen, derzeit fehlt.“
Als ob der Westen unschuldig wäre
Il Manifesto ärgert sich über die Darstellung, nur Moskau habe Schuld am Ukraine-Konflikt:
„Ist es möglich, dass die westlichen Regierungen, trotz wahrlich anderer Probleme, die Erweiterung der Nato nach Osten fordern? Mit Waffensystemen, Raketen, Truppen, Marine- und Landstützpunkten unter Einbeziehung aller 28 verbündeten Länder, rund um Russland, mit der offenkundigen Absicht, eine Reaktion zu provozieren? … Kann es sein, dass sich hinter dem Gerede vom 'ökologischen Übergang' die Produktionswiederbelebung des militärisch-industriellen Systems verbirgt? Eine Wiederbelebung, die neben anderen schädlichen Nebenwirkungen alle Länder zur Aufrüstung drängt, angefangen bei Russland und dem eigentlichen Antagonisten, China? Und suchen nicht alle nach dem Feind und wollen neue Sanktionen verhängen?“
Putins Plan bleibt im Dunkeln
Da der Westen Putins Forderung nach einem garantierten Verzicht auf jegliche Nato-Osterweiterung nicht erfüllen will, fragt sich Le Temps nach dem eigentlichen Ziel des Kreml-Chefs:
„Für Russland geht es offiziell darum, die Ergebnisse der 30 Jahre, die auf den Kalten Krieg folgten, rückgängig zu machen. Ein Ausweg ist noch sichtbar. Doch wie kommt man aus einer Sackgasse heraus, die man selbst mit so viel Hingabe geschaffen hat? Zumal es das Nordatlantikbündnis keineswegs eilig hat, sich in naher Zukunft nach Osten auszuweiten. Der Kreml kann sich jeden Augenblick als 'Sieger' eines Kriegs erklären, der nie stattgefunden hat. Er kann sich aber auch bemühen, den geringsten Vorwand zu finden, um die Armada einzusetzen, die er zusammengetrommelt hat.“