Ist die Demokratie schwächer oder stärker geworden?
Nach einem turbulenten Jahr 2022 erörtert Europas Presse, wie es weltweit um die Demokratie bestellt ist. Kommentatoren wiegen ab zwischen Wahlsiegen der extremen Rechten, Protesten gegen Autokraten und neuer europäischer und transatlantischer Einigkeit.
Kein gutes Jahr für Autokraten
2022 wird als Jahr in Erinnerung bleiben, in dem sich zuvor aufstrebende autokratische Regime und Personen als angreifbar entpuppten, resümiert Financial Times:
„Wladimir Putin ist nicht der einzige 'starke Mann', der heute schwächer aussieht als vor einem Jahr. Das Gleiche gilt für Chinas Präsident Xi und Ex-US-Präsident Trump. Die Null-Covid-Politik des Ersteren endete mit einer Schmach. Die Behauptung moderner Vertreter des alten chinesischen Despotismus, kompetenter zu regieren als die angeblich chaotischen Demokratien, hat jegliche Glaubwürdigkeit verloren. Irans Despoten werden von ihrer Jugend angegriffen. Trumps Kandidaten bei den US-Midterms wurden weitgehend abgelehnt.“
Die demokratische Welt zeigt Kampfgeist
Historiker Andrej Subow lobt in The Moscow Times den Westen für seinen Widerstandswillen:
„Dieses Jahr hat gezeigt, dass die Demokratien und die freie Welt sich selbst und ihre Werte verteidigen können. Dass der Westen kein Klappergreis oder perverser Drogensüchtiger ist, sondern aus vielen hundert Millionen mutiger und aufopferungsvoller Frauen und Männer besteht, die bereit sind, für die Bewahrung der ihnen am Herzen liegenden Werte von Freiheit und Würde Entbehrungen zu ertragen und dem leidenden ukrainischen Volk beizustehen. Die fähig sind, gemeinsam mit den Ukrainern die Aggression des Bösen zu stoppen. ... Die demokratische Welt hat nicht nur standgehalten, sie hat sich in beispielloser Weise geeint.“
EU wird von Soft-Power zur Hard-Power
In der rumänischen Wochenzeitung Revista 22 heißt es:
„Die größte Überraschung war die Einigkeit, die die Europäer angesichts der russischen Militäraggression gegen die Ukraine und der Energieaggression gegen den gesamten Kontinent zeigten. Die Amerikaner und Briten mögen die ersten Impulse gegeben haben, aber die entschlossene Haltung der Europäer wurde weder von den Vereinigten Staaten noch vom britischen Königreich vorangetrieben, sondern von der Einsicht, dass eine solche Barbarei in der unmittelbaren Nachbarschaft nicht länger geduldet werden konnte. Europa scheint jetzt in der Lage zu sein, von einer Soft-Power mit begrenzter globaler Reichweite zu einer Hard-Power zu werden, die man mit Respekt behandeln muss.“
Es hätte noch ganz anders kommen können
Russland und China hätten 2022 auch die Oberhand gewinnen können, analysiert der Politologe Michał Lubina in Polityka:
„Wenn der Westen Kyjiw nur moralisch unterstützt hätte, wäre das ein Schlag für die Ordnung nach dem Kalten Krieg gewesen, vielleicht der Todesstoß. Dies hätte nicht nur die USA geschwächt und die aufstrebenden Mächte gestärkt, sondern auch China ermutigt, in Ostasien noch selbstbewusster aufzutreten und vielleicht sogar in Taiwan einzufallen. ... Doch zu Chinas Überraschung wurde Russland in der Ukraine gestoppt. Peking war überrascht von der Inkompetenz des russischen Militärs, das seit Jahrzehnten die chinesischen Streitkräfte ausbildet, vom Widerstand der Ukrainer und vor allem von der Solidarität des Westens.“
Freiheit muss gepflegt werden
Widersprüchliche Entwicklungen erkennt NRC Handelsblad:
„Das Jahr 2022 wird nicht zu einer Explosion des demokratischen Liberalismus führen, aber es enthielt Hoffnungszeichen. In vielen Ländern erkennen Bürger, dass ihr Leben und ihre Freiheit auf dem Spiel stehen, und dass ihre Stimme es wert ist, gehört zu werden. Nicht nur an Orten, wo Freiheiten schon vor langer Zeit entfernt wurden, sondern auch in Demokratien, die vor kurzem noch als robust angesehen wurden. Siehe die Wahlen in Schweden oder Italien. ... Freiheit muss gepflegt werden, jeden Tag. Vor allem an Orten, an denen man sie bis vor kurzem als selbstverständlich ansah.“
Auch die EU schwächelt
Für El País hingegen straucheln selbst diejenigen, die als Garanten der Freiheit gelten:
„Die Liste der Staatsoberhäupter, die im Jahr 2022 das Recht auf freie Meinungsäußerung mit Füßen getreten haben, ist lang. Der iranische Ayatollah Ali Khamenei, der saudische Prinz Bin Salman und der russische Präsident Wladimir Putin sind nur einige Beispiele. ... Die französisch-iranische Künstlerin Marjane Satrapi sagte neulich, heute sei der Garant der Freiheit Europa. ... Aber wie wir im Qatargate-Skandal gesehen haben, schwächelt auch dieses Vorbild. ... Brüssel muss sich der Situation stellen. ... Indem es die bestraft, die bestechen, und die, die sich bestechen lassen. Und indem es angesichts des Vormarsches der Tyrannen Effizienz beweist.“