Ukraine: Go für Angriffe mit westlichen Waffen

Immer mehr Nato-Staaten geben der Ukraine mehr Freiheit beim Einsatz westlicher Waffen. Lieferungen aus Polen, Kanada und Finnland sind schon länger nicht mehr an Konditionen geknüpft. Die USA hoben ihre Vorgabe, keine Angriffe mit US-Waffen auf Russlands Territorium zu gestatten, für die Region rund um Charkiw vergangene Woche auf. Deutschland schloss sich daraufhin an. Was bedeutet das für den weiteren Verlauf des Krieges?

Alle Zitate öffnen/schließen
De Volkskrant (NL) /

Europa vor blutigem Sommer

De Volkskrant hält es für eine kluge Entscheidung, dass Kyjiw Russland angreifen darf:

„Die Ukraine muss die Möglichkeit haben, sich zu verteidigen, nicht nur um die Bürger von Charkiw zu schützen, sondern auch, um einen weiteren russischen Vormarsch zu stoppen. Russland darf im Interesse der europäischen Sicherheit nicht für seine Aggression belohnt werden. Es ist klug, dass die USA den Einsatz ihrer Waffen an Bedingungen geknüpft haben. ... Auf diese Weise bleibt die Eskalation einigermaßen begrenzt, weil die Waffen zur Selbstverteidigung eingesetzt werden. Bei aller Unsicherheit steht leider eine Sache fest: Europa steht ein aufreibender und blutiger Sommer bevor.“

La Vanguardia (ES) /

Moskau könnte Freigaben als Kriegseintritt deuten

La Vanguardia kommentiert:

„Die Ukrainer kämpfen für ihr Land und ihre Freiheit und müssen weiterhin von ihren westlichen Verbündeten unterstützt werden. Nach dem Völkerrecht hat die Ukraine das Recht, sich gegen russische Angriffe zu verteidigen, und sie wird nun in der Lage sein, mit Angriffen auf russisches Hoheitsgebiet zu reagieren. Die Erlaubnis für die Ukraine, ihre Waffen gegen Ziele auf feindlichem Boden einzusetzen, ist eine nationale Entscheidung der einzelnen Nato-Staaten. Diese Tatsache 'macht die Verbündeten nicht zu einem Teil des Konflikts', so Stoltenberg. Das Problem ist, dass die andere Seite dies möglicherweise nicht so sieht.“

Handelsblatt (DE) /

Schlecht für Scholz' Glaubwürdigkeit

Das Handelsblatt sieht den deutschen Kanzler in der Klemme:

„Der Kanzler hat zwar die richtige Entscheidung getroffen - aber dürfte einen hohen Preis dafür zahlen. Denn just in dem Moment, in dem er sich im Europawahlkampf als Friedenskanzler präsentiert, muss er einen Schritt gehen, durch den der Ukrainekrieg eine neue Qualität bekommt. Damit liefert er Populisten eine Steilvorlage und gerät beim Thema Waffenlieferungen neu unter Druck. Scholz hat sich verzockt. Zwar handelt er bei der Frage des Einsatzes westlicher Waffen auf russischem Boden prinzipientreu, steht aber dennoch als prinzipienlos da.“

Olexander Kotschetkow (UA) /

Vor allem diplomatischer Druck

Solange die Ukraine von westlichen Waffenlieferungen abhängig ist, wird sie nicht frei agieren können, schreibt Blogger Olexander Kotschetkow auf Facebook:

„Westliche Waffen frei einsetzen zu dürfen, ist eine gute Sache. Es handelt sich dabei in vieler Hinsicht dennoch lediglich um diplomatischen Druck auf den Aggressor. Denn die Erlaubnis, das Territorium des Möchtegern-Imperiums anzugreifen, bedeutet nichts, wenn es nichts gibt, womit man angreifen kann. Deshalb werden unsere Partner in jedem Fall die Kontrolle über diesen sensiblen Prozess behalten. Bis wir anfangen, das meiste von dem, was wir für unsere Sicherheit brauchen, selbst zu produzieren.“

RFI România (RO) /

Nicht auf die Rhetorik des Kremls hereinfallen

RFI România findet Putins Drohungen, Atomwaffen einzusetzen, unglaubwürdig:

„Die deutsche Bild-Zeitung, die sich in den letzten Jahren als gute Quelle für Russlands Aktivitäten erwiesen hat und unter anderem genau über die Vorbereitung der Invasion im Februar 2022 berichtet hat, schreibt jetzt, dass die ukrainische Armee schon mindestens einmal das von Deutschland erhaltene Patriot-System verwendet hat, um russische Ziele zu treffen, von denen aus die Ukraine angegriffen wird. Die Reaktionen aus Washington und Berlin seien wütend gewesen. ... Aber sollten die Berichte stimmen, zeigt das auch etwas anderes: nämlich, dass Russland, das bereits von westlichen Waffen getroffen wurde, trotz der Rhetorik von Wladimir Putin nicht reagiert hat.“

Latvijas Avīze (LV) /

Entscheidend für den Sieg

Für die Ukraine geht es um eines von drei zentralen strategischen Zielen, erläutert Latvijas Avīze:

„Erstens muss die westliche Militärindustrie schneller produzieren und entwickeln. ... Zweitens sollten Hilfsfunktionen (Versorgung, Krankenhäuser, Reparaturen) von westlichen Kontingenten übernommen werden. ... Drittens sollten mit Ausnahme von Atomwaffen alle westlichen Waffen auf russischem Territorium eingesetzt werden dürfen. Dazu gehören auch von Flugzeugen abgefeuerte Raketen, die Ziele in einer Entfernung von bis zu 2.000 Kilometern treffen können. ... Wenn die Russen sehen, dass ihr gesamtes europäisches Territorium angegriffen wird und sie täglich militärische und wirtschaftliche Objekte im Wert von Hunderten Millionen oder sogar Milliarden Dollar verlieren, wird die russische Elite erkennen, dass etwas getan werden muss, um diesen Krieg zu beenden.“

Naftemporiki (GR) /

Auf Messers Schneide

Naftemporiki ist besorgt:

„Wenn westliche Waffen für Angriffe außerhalb der Ukraine eingesetzt werden, erhalten die Länder, die sie schicken, den Status von Kriegsteilnehmern. Das heißt, dass für das Land, gegen das die Waffen gerichtet sind, militärische Aktionen gegen sie legitimiert sind. Bisher hat Moskau keine militärischen Aktionen gegen sie durchgeführt, weil es eine stillschweigende Vereinbarung gab, dass die Waffen nicht auf russischem Territorium eingesetzt würden. Wenn sich etwas ändert oder wenn Putin das Risiko einer Niederlage sieht, könnte er Vergeltung üben und die westlichen Staaten in einen Krieg hineinziehen. Wir befinden uns also auf Messers Schneide. Und das Schlimmste ist, dass niemand öffentlich von Frieden spricht. Nicht einmal von einem schmerzhaften Kompromiss.“

Postimees (EE) /

Die roten Linien sind absurd

Postimees fordert ein Ende des Zauderns:

„Russland hätte den Krieg in der Ukraine wahrscheinlich längst verloren, wenn der Westen nicht seine 'roten Linien' gezogen hätte. Eine nach der anderen wurden diese Beschränkungen aufgehoben, allerdings auf Kosten verlorener Zeit und des Lebens der ukrainischen Verteidiger. Die Situation kann gar nicht weiter eskalieren: Russland hat die Ukraine selbst angegriffen, mit imperialistischen Ambitionen, und es hat sich selbst keine Beschränkungen auferlegt, weder beim Einsatz von Waffen, die durch internationale Konventionen verboten sind, noch beim Angriff auf zivile Infrastrukturen.“

Új Szó (SK) /

Nicht weiter einschüchtern lassen

Für Új Szó ist klar, dass Russland nur militärisch zurückgedrängt werden kann:

„Moskau drohte von Anfang an damit, dass es 'historische Konsequenzen' hätte, wenn der Westen es wagen würde, der Ukraine zu helfen. ... Zum Teil aus diesem Grund, zum Teil wegen der unterschiedlichen politischen Kultur, hat man der Ukraine die Mittel nur sehr zögerlich zur Verfügung gestellt. ... Putin kann nur mit Gewalt abgeschreckt werden. Und mit der ernsthaften Androhung kostenintensiver Militärschläge. Wenn der Westen auf Putin hört, wird dies nicht zum Ende des Kriegs führen, nur zur Kapitulation Kyjiws.“

Corriere della Sera (IT) /

Moskau gerät dadurch nicht ins Fadenkreuz

Man sollte den Vorschlag realistisch betrachten, mahnt Corriere della Sera:

„Es muss klargestellt werden, dass es nicht darum geht, Russland 'in Grund und Boden' zu schlagen. Niemand käme je auf die Idee, Moskau ins Fadenkreuz zu nehmen, und niemand würde dies wollen. Es geht darum, den Ukrainern die Möglichkeit zu geben, die Vorposten - wie die Luftwaffenstützpunkte entlang der Grenze - anzugreifen, die Putin einen zunehmenden Vorteil verschaffen. Das ist ein grünes Licht, um das Selenskij bei jeder seiner Reisen gebeten und das er nie erhalten hat. Sicherlich werden sie die Angriffe nicht ausführen können, indem sie das Schwert der Drohnen ‘Made in Ukraine' zücken.“

De Morgen (BE) /

Wir brauchen Nerven aus Stahl

Belgien liefert im Rahmen eines Sicherheitsabkommens mit der Ukraine nun auch F-16-Kampfflugzeuge. Das birgt Gefahren, warnt De Morgen:

„Langfristig versprechen wir in dem Sicherheitsabkommen, die Ukraine in die EU und die Nato zu bringen und ihr militärisch beizustehen - auch 'im Fall einer neuen Aggression'. Je mehr militärische Zusammenarbeit es gibt, um so größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir dann nicht mehr nur von Weitem zuschauen, sondern auch mit belgischen Soldaten aktiv werden. … Unsere Gesellschaft muss damit rechnen, dass wir uns mindestens ein Jahrzehnt lang stark engagieren müssen, mit Menschen, Ressourcen und vor allem Nerven aus Stahl, um eine größere Eskalation zu verhindern.“

Jutarnji list (HR) /

Willkommen, aber kein Allheilmittel

Die Erlaubnis, militärische Ziele in Russland zu attackieren allein würde nicht ausreichen, um die Lage für die Ukraine bedeutend zu verändern, meint Jutarnji list:

„In dem Gebiet [das westliche Waffen in Russland erreichen könnten] befinden sich hunderte Militärobjekte, Treibstofflager, Waffendepots, Kommandostellen, Orte für Reparatur und logistische Unterstützung, Radarstationen, Kasernen, mindestens 15 Fliegerhorste und andere wichtige militärische Infrastruktur. ... Die Erlaubnis, dass die Ukraine westliche Waffen in Russland nutzen darf, würde wahrscheinlich die Effektivität der russischen Militäroperation in der Ukraine vermindern, aber nicht das Kräfteverhältnis verändern, solange die Ukraine nicht Probleme wie den Mangel an Munition und Soldaten löst.“

Zeit Online (DE) /

Schluss mit der Doppelmoral!

Zeit Online kritisiert die Ungleichbehandlung der Ukraine und Israels durch den Westen:

„Der Ukraine muss erlaubt werden, russische Truppen dort anzugreifen, wo sie sich zum Angriff vorbereiten. ... Die Ukraine hat sich bisher sowohl an die Absprachen mit den westlichen Unterstützern als auch an das humanitäre Völkerrecht gehalten. Über Israel kann man das nicht mehr durchweg behaupten. Die Regierung Netanjahu ignoriert seit Monaten die Mahnungen ihrer Unterstützer, die humanitäre Lage entscheidend zu verbessern. ... Israels exzessive Kriegsführung beschädigt auch die westlichen Unterstützer, die ihr zu lange zugesehen haben. Und die gleichzeitige Fesselung der Ukrainer zeigt, dass dem Westen die moralischen Maßstäbe verlorenzugehen drohen.“

Corriere della Sera (IT) /

Die rote Linie: Charkiw

Die Schlüsselrolle von Charkiw hat diese Debatte angefeuert, meint Corriere della Sera:

„Zu Beginn der Invasion drohte der ehemalige russische Präsident Medwedew, Charkiw werde die fünfte Region sein, die annektiert werde. Doch der Angriff wurde abgewehrt. Heute fürchten die Ukrainer, dass Putin sich für dieses Debakel rächen will. Die wirtschaftlichen Folgen wären gravierender als der Fall von Donezk oder Mariupol. Die Region Charkiw ist nach Kyjiw und Dnipropetrowsk die drittgrößte Quelle (6,3 Prozent) des ukrainischen BIP und verfügt über die größten Erdgasreserven des Landes … Moskaus Ziel scheint es zu sein, die Stadt unbewohnbar zu machen und die Bürger zum Verlassen zu zwingen, um eine neue Sommeroffensive vorzubereiten.“

Censor.net (UA) /

Biden hält sich wegen der Wahl zurück

Der Grund für das Zögern im Weißen Haus ist nicht die Angst vor einer Ausweitung des Kriegs, analysiert Censor.net:

„Das Weiße Haus fürchtet keine groß angelegte Aktion des Kreml als Reaktion auf die Erlaubnis, mit amerikanischen Waffen etwa auf Noworossijsk oder Sotschi zu schießen. Nein, es rechnet damit, dass Putin - seiner KGB-Gewohnheit entsprechend - versuchen würde, irgendeinen widerlichen Racheakt mit Hilfe fremder Hände zu verüben. ... Dass er etwa irgendwelchen Stellvertretern des Iran Geld geben würde, und die würden eine amerikanische Botschaft oder Militärbasis angreifen. Es würde Tote unter US-Bürgern geben. ... Und das würde sich auf die Wahl auswirken.“

Adevărul (RO) /

Ein entscheidender Schlag

Adevărul sieht ein Umdenken:

„Es ist wahrscheinlich, dass die USA in naher Zukunft dem Einsatz von Waffen zustimmen, um militärische Ziele in Russland anzugreifen, was die Ukrainer seit Langem fordern. Damit könnte die russische Armee direkt in den Kommandozentralen, Kommunikations-, Munitions- und Waffenlagern getroffen werden. ... Schon jetzt hat Russland eine halbe Million Militärs verloren, die getötet oder verwundet wurden, außerdem viel Geld aus dem Haushalt, von dem ein Drittel zur Unterstützung des Kriegs verwendet wird. … Und vieles deutet darauf hin, dass Putin den Krieg an der aktuellen Front einfrieren möchte, weil er nicht mehr die Mittel hat, ihn fortzusetzen.“

T24 (TR) /

Unüberlegter Kurs

T24 sieht eine schleichende Entwicklung in Richtung Kriegsbeteiligung Europas:

„Es sieht so aus, als ob Europa Schritt für Schritt in den Krieg hineingezogen wird. Das ist jedoch kein besonders entschlossener und wohlüberlegter Kurs. Dieses Abdriften geschieht, während Europa seine Autonomie verliert und dem zunehmenden Richtungsdruck Washingtons nachgibt, dem es seine Außenpolitik nach dem Zweiten Weltkrieg überlassen hatte. Es ist, als wäre Europa aus dem Winterschlaf erwacht und fände sich unter den Rufen 'Los, Soldat, steh auf' wieder. ... Es gibt Anzeichen, dass sich die Nato-Streitkräfte mit Militärmanövern und Übungen in Europa auf einen größeren militärischen Konflikt vorbereiten. Die baltischen Staaten werden militarisiert.“

Tages-Anzeiger (CH) /

Sieg auf dem Schlachtfeld unrealistisch

Statt grünes Licht für Angriffe auf russischem Territorium zu geben, fordert der Tages-Anzeiger einen umsetzbaren Verhandlungsvorschlag:

„Lässt sich dieser Wahnsinn nicht einfach stoppen? ... Nein. Russland hätte es in der Hand, den Krieg sofort zu beenden. Doch Wladimir Putin kann und will keine Niederlage eingestehen, darum lässt er seine Soldaten weiter kämpfen mit dem Ziel, dass das sowieso schon grösste Land der Erde noch etwas grösser wird. ... Klar ist: Wenn man will, dass der 'russische Wahnsinn' gestoppt wird, dann braucht es einen Schritt auf den Feind zu, denn ein Sieg auf dem Schlachtfeld ist unrealistisch. “