Frankreich: Alle gegen den RN?
Aus der ersten Runde der französischen Parlamentswahlen war das Bündnis des rechtspopulistischen Rassemblement National (RN) als stärkste Kraft hervorgegangen. Vor den Stichwahlen am Sonntag zogen das zweitplatzierte Linksbündnis Nouveau Front Populaire (NFP) sowie das drittplatzierte Macron-Lager über 200 Kandidaten zurück, um die Chancen des jeweils anderen gegen den RN zu erhöhen.
Mitte-Wähler lassen sich nicht einfach nach links schieben
Dass die "republikanische Front" gegen den RN diesmal funktioniert, bezweifelt der Politikanalyst Valentin Naumescu bei Contributors:
„Der zweite Wahlgang wird traditionell zwischen der Mitte und den Extremen entschieden und nicht zwischen zwei Extremen. Doch die Mitte liegt derzeit auf Platz drei und vier. Möglicherweise folgen die traditionellen Mitte-Wähler den Empfehlungen ihrer Parteien nicht, für radikale Linke zu stimmen. ... Sie können nicht einfach arithmetisch von einer Seite zur anderen geschoben werden. ... In den 2000er Jahren für republikanische Kandidaten (Mitte-Rechts) und Sozialisten (Mitte-Links) zu stimmen, um den Extremismus des Front National zu verhindern, war das eine. Heute für den NFP (im Kern der kommunistische Block) zu stimmen, ist etwas völlig anderes.“
RN ist ein makroökonomisches Risiko
Les Echos warnt vor den Folgen eines rechten Triumphs:
„Würden wir eine Konfrontation mit den EU-Institutionen und der Zentralbank erleben, die zu einer allgemeinen Krise der Eurozone führt? ... Nicht auszuschließen. Es ist ein großes makroökonomisches Risiko. Ein weiteres mögliches Szenario wäre die 'Melonisierung' des RN: eine fast vollständige Abkehr von seinem Wirtschaftsprogramm, um sich auf ideologische Positionen zu konzentrieren. … [Doch] Meloni hat sich auf die Seite der Ukraine gestellt, während der RN sogar von Russland finanziert wurde. ... Zum anderen erhält Italien sehr hohe EU-Gelder, was potenziellen Reibungen mit Brüssel Grenzen setzt. ... Würde der RN Frankreich regieren, wäre das Risiko immens, dass sich Putins Schatten über Europa ausbreitet und die EU handlungsunfähig wird.“
Zwist im republikanischen Lager hilft Le Pen
Laut Krytyka Polityczna schadet Macrons bisheriger Kurs aktuell dem Aufbau einer Front gegen den RN:
„Die Wahlstrategie der Macronisten bestand von Anfang an darin, das Linksbündnis zu dämonisieren und die Wähler davon zu überzeugen, dass es genauso schlimm sei wie die Partei von Le Pen. ... Der Effekt solcher Aktionen war eine teilweise Demobilisierung der linken Wählerschaft, eine leichte Stärkung der Mitte sowie eine weitere Schwächung der republikanischen Front, also der traditionellen Allianz der demokratischen Parteien gegen die radikale Rechte. Aus diesem Grund ist es schwierig, die Dreierduelle zu entscheiden, an denen in der Regel neben dem RN-Kandidaten auch NFP-Politiker und Macronisten oder Republikaner beteiligt sind.“
Mélenchon verprellt die moderaten Rechten
Jornal de Notícias sieht das Problem beim Aufbau einer Anti-RN-Front eher auf der linken Seite:
„In dieser republikanischen Front gibt es viele Wähler der Mitte und der gemäßigten Rechten, die eher versucht sein könnten, für die extreme Rechte zu stimmen als für die linke Koalition. Mélenchon, der Führer von La France Insoumise (LFI), dominiert derzeit die Linke, was den Konservativen nicht gefällt. Angesichts einer Wahl zwischen Mélenchon und Le Pen ziehen sie es daher vor, ihre Kandidaten nicht zurückzuziehen. Der drittplatzierte Präsident Macron rief zu einer 'breiten und eindeutig demokratischen und republikanischen Union' auf. Es stimmt aber auch, dass Mélenchon mit seiner destruktiven Opposition die gemäßigteren Wähler verprellt hat.“
Front bilden durch Dialog und Programm
Damit Frankreich wieder regierbar wird, braucht es mehr als eine Brandmauer gegen den RN, betont das Wirtschaftsblatt Les Echos:
„Um eine Wählerschaft zu mobilisieren, die der wiederholten Aufrufe zur Bildung einer republikanischen Front überdrüssig ist, müssen auch Perspektiven vorgebracht werden – durch die Eröffnung eines Dialogs zwischen Politikern 'von der sozialdemokratischen, ökologischen und kommunistischen Linken bis zur liberalen und konservativen Rechten', wie [Ex-Premier] Edouard Philippe rät. Hervorbringen kann diese jedoch nicht Emmanuel Macron. ... Will er den von ihm ersehnten Zusammenschluss begünstigen, muss der Präsident anfangen, hinter den Regierungsparteien zurückzutreten, die er seit 2017 in den Hintergrund zu drängen versucht.“
Demokratischer Notstand
Der Widerstand gegen den Rechtsruck formiert sich, doch bleibt der Ausgang ungewiss, befürchtet La Repubblica:
„Der demokratische Notstand geht direkt von Europa nach Frankreich. Der Sieg der extrem rechten Partei von Marine Le Pen in der ersten Runde der Parlamentswahl veranlasste die Linke und die Zentrumsdemokraten von Macron, zu einer 'republikanische Front' des Widerstands aufzurufen. ... Ziel ist es zu verhindern, dass bei der Stichwahl die EU-feindlichen und Putin-freundlichen Souveränisten eine absolute Mehrheit der Sitze erhalten. Es ist schwer zu sagen, ob das Vorhaben gelingen wird. Nach ersten Hochrechnungen erreichen die Mitte-Links-Kräfte zusammen fünfzig Prozent der Stimmen. Aber die Mechanismen der Stichwahl machen eine Vorhersage schwierig.“
Politisches und moralisches Dilemma
Frankreich befindet sich in einer Zwangslage, klagt Le Figaro:
„Bei einer Wahl mit zwei Durchgängen ist am Abend der ersten Runde noch nicht alles gesagt. Es kann noch viel passieren, und die Phase zwischen den beiden Wahlgängen wird entscheidend sein. Alles deutet jedoch darauf hin, dass der Rahmen nun feststeht: Die Polarisierung, die sich durch die schwindelerregende Zunahme der Duelle zwischen RN und LFI [La France insoumise vom Linksbündnis NFP] oder ihre Konfrontation bei einer Dreier-Stichwahl zeigt, zeichnet wie mit der Axt eine radikal neue politische Landschaft. Sie stürzt die öffentlichen Verantwortungsträger, aber auch die Wähler in die Qualen eines politischen und moralischen Dilemmas. … Es ist im wahrsten Sinne eine Tragödie, bei der das Schicksal nur schlechte Lösungen anbietet.“
Extreme Rechte schlagen, egal aus welcher Richtung
El País fordert eine breite Koalition gegen den RN:
„Der Sieg des RN nimmt die Parteien des so genannten 'republikanischen Bogens' in die Verantwortung. Entweder sie schließen sich zusammen, oder sie riskieren, dass eine extrem rechte Regierung antritt. ... Glücklicherweise scheinen sie alle Differenzen überbrücken zu wollen. Präsident Emmanuel Macron rief zu einer 'breiten, klar demokratischen und republikanischen Union' auf. ... Die Sozialistische Partei hat versprochen, die Anti-Le Pen-Stimmen zu bündeln. ... Mélenchon und andere Parteien äußerten sich ähnlich. ... Was auf dem Spiel steht, verlangt von Zentristen und gemäßigten Konservativen, ihre Differenzen auszublenden und denjenigen zu unterstützen, der die extreme Rechte schlagen kann, egal aus welcher Richtung.“
Macrons große Niederlage
Für The Spectator ist Macron am Ende:
„Nicht nur, weil er sich mit seiner rücksichtslosen Wette auf vorgezogene Neuwahlen komplett verzockt, sondern damit auch seine politische Karriere verspielt hat. Macron kam 2017 allein in das Präsidentenamt und er wird es auch allein verlassen. Die Partei, die er damals hastig und brillant zusammengeschustert hat, ist zerbrochen. Er zahlt nun die gerechte Strafe für seine Arroganz und Verachtung gegenüber Bürgern aller Schichten. Indem er 2017 behauptete, Frankreich von den Gründen zu befreien, die 'extreme Rechten' zu wählen, hat er diese letztlich nur gestärkt, ebenso wie die radikale Linke.“
Parallelen zur britischen Krise
Le Monde fühlt sich an Großbritannien im Kontext des Brexit-Votums erinnert:
„Die Feindseligkeit gegenüber der Zuwanderung, die als durch die EU-Zugehörigkeit begünstigt betrachtet wurde, war einer der mächtigsten Faktoren der britischen Stimmabgabe, ebenso wie das Gefühl der Vernachlässigung, das mit dem Staatsabbau und der Prekarisierung der Arbeit verknüpft ist. … Alles spielt sich ab, als hätten die vergangenen acht Jahre in Großbritannien in abgemilderter Form das erahnen lassen, was die Franzosen nach dem 7. Juli erwartet: ein zerrissenes Land, das am Rande eines Nervenzusammenbruchs steht und dessen internationales Ansehen Schaden genommen hat, sowie ein giftiges Kräftemessen mit der EU, eine gefährliche Instrumentalisierung der Zuwanderung und ungehaltene Versprechen, die die Wut nähren.“