Orbán ruft in Kyjiw zu Waffenstillstand auf
Erstmals seit mehr als zehn Jahren hat der ungarische Premier und derzeitige EU-Ratspräsident Viktor Orbán die Ukraine besucht. Er schlug Präsident Wolodymyr Selenskyj eine schnelle Waffenruhe als Grundlage für Friedensverhandlungen vor. Kyjiw fordert bislang den Abzug russischer Truppen als ersten Schritt. Selenskyj solle über eine andere Reihenfolge nachdenken, erklärte Orbán. Kommentatoren sehen dahinter Berechnung.
Er ist seiner Zeit voraus
Die Linie des ungarischen Premiers hat sich in der Vergangenheit oft genug durchgesetzt, meint der Tages-Anzeiger:
„Als erfahrener Demagoge spürt Orban gesellschaftliche Stimmungen. Und er hat ein ziemlich gutes Gefühl dafür, wann eine bestimmte politische Linie in der Bevölkerung auf Widerstand trifft. ... Inzwischen hat sich der politische Konsens in Europa deutlich auf ihn zubewegt, weil der Druck durch die Wähler es erzwungen hat. Orbans Parolen wären nicht so erfolgreich, wenn es nicht bei vielen Menschen ein politisches Unbehagen gäbe, das sich ausnutzen liesse. ... Man sollte darum nicht überrascht sein: Was Viktor Orban heute sagt und fordert, was alle anderen empört von sich weisen, ist oft genug morgen oder übermorgen genau das, was die Europäer tun.“
Bewusste Verdrehung von Ursache und Wirkung
Orbán weiß zu gut, dass der Krieg noch nicht entschieden ist, kritisiert Magyar Narancs genau dieses Kalkül:
„Denn ob die Ukraine gegen Russland Widerstand leisten kann, ob sie ihre verlorenen Gebiete zurückbekommen oder, wenn auch ohne diese, die Sicherheit und den Wohlstand ihrer Bürger garantieren kann, hängt nicht von den Kapazitäten der Ukraine ab, sondern davon, wie viel Hilfe sie dazu erhält. ... Ob sie genug Hilfe erhält. Das ist noch nicht entschieden – es ist gerade die wichtigste Frage des Krieges, deren Beantwortung Orbán mit seinen Mitteln zu beeinflussen versucht. Es ist nicht die weise Vorsicht, die ihn dazu bringt, ein Urteil über die unvermeidliche Niederlage der Ukraine auszusprechen, sondern umgekehrt: Er hat eine Prophezeiung gesucht, um seine eigene Politik zu rechtfertigen.“
Ungarns Premier spielt erneut Russland in die Hände
NV erklärt, wie der Kreml Orbáns Vorschlag ausnutzen könnte:
„Putin und seine Leute werden eine Welle von Narrativen verbreiten, dass nicht nur Russland der Ukraine 'Frieden' angeboten hätte, sondern auch die 'EU-Anführer'. Hinter dieser Definition wird sich natürlich die voluminöse Figur des ungarischen Ministerpräsidenten Orbán verbergen. Der Sinn dieser Angebote – den Widerstand gegen den Banditen, Mörder und Vergewaltiger [Russland] zu beenden – wird dabei für viele nebensächlich bleiben. ... Es scheint, dass Viktor Orbán erneut seine Funktion als 'Trojanisches Pferd' Europas erfüllt und dem Kreml bei der Durchführung einer speziellen Informationsoperation gegen die Ukraine geholfen hat.“
Er vertritt nicht die EU, sondern sich selbst
Ungarns Premier möchte aus der politischen Sackgasse herauskommen, meint hvg:
„[Obwohl Ungarns EU-Ratspräsidentschaft der Anlass für den Besuch war,] hat der ungarische Regierungschef nicht im Dienste der EU-27 gehandelt, sondern viel eher in seinem eigenen Interesse. Trotz der Stärkung der rechten Parteien bei den EU-Wahlen hat Giorgia Meloni die Aufnahme von Fidesz in die EKR nicht zugelassen. Einer der Gründe dafür war mit Sicherheit ihre Beziehung zu Russland. ... Und nicht mehr nur in Rom wird die außenpolitische Richtlinie von Fidesz als Risiko gesehen, sondern auch [der RN von] Marine Le Pen, [der] am Sonntag in der ersten Runde der vorgezogenen Wahlen in Frankreich einen triumphalen Sieg errungen hat, erwartet angeblich eine Kehrtwende von Orbán.“
Eine weitere gescheiterte Mission
Radio Kommersant FM sieht Orbáns Bemühungen in einer Reihe ad acta gelegter Friedensinitiativen:
„In letzter Zeit hat es nicht wenig Friedenspläne gegeben. Sie alle werden aktiv diskutiert, aber am Ende bewegt sich nichts, es gibt nur Gerede und Informationsrauschen. ... Selenskyj verspricht, bis Herbst einen neuen Plan auszuarbeiten und einen weiteren Gipfel abzuhalten, aber Kompromisse mit Russland sind dabei nicht vorgesehen. ... Und die Friedensvorschläge des Kremls kommen eher einem Ultimatum gleich. Selenskyj und der Westen haben sie sofort abgelehnt, selbst Donald Trump hat zugestimmt, dass Derartiges nicht machbar ist. So wie es aussieht, ist Viktor Orbáns Mission gescheitert. Das militärische Szenario bleibt das einzig mögliche, zumindest bis Herbst.“
Friedensforderung hat keine Substanz
La Repubblica kritisiert Orbáns Auftreten:
„Bei den Gesprächen legte er die Notwendigkeit einer raschen Aufnahme von Verhandlungen auf den Tisch. Nur schade, dass die Regierung in Budapest seit Beginn der russischen Aggression ihre Nähe zum Kreml nicht verheimlicht und systematisch alle Maßnahmen der EU gegen Moskau boykottiert hat. Zudem organisiert Orbán diese Mission zur gleichen Zeit, in der er eine neue, eindeutig pro-russische Fraktion im Europäischen Parlament aufbaut. Die Antwort des ukrainischen Führers, ein gerechter Frieden sei gefragt, ließ keine Zweifel daran, dass der Vorschlag Orbáns gelinde gesagt fadenscheinig ist.“
Ungarn als Vermittler nicht verwerfen
Orbáns singuläre Stellung im europäischen Gefüge macht ihn als Vermittler trotz allem interessant, findet Telegraf:
„Orbán kam nicht mit geheimen Botschaften von Putin, Trump oder von sonst irgendjemandem. Orbán möchte für sich einen Platz als einer der Vermittler bei künftigen Verhandlungen aushandeln. Die Position eines Vermittlers wäre für ihn aus zwei Gründen äußerst wichtig. Erstens hat er ernsthafte interne Probleme mit der Opposition. ... Und zweitens hat er Probleme mit der EU. Die Position des Mediators würde helfen, beide Probleme zu lösen. ... Ein so unikales Land nicht in Verhandlungen einzubeziehen, wäre ein großer Fehler. Man sollte es unbedingt versuchen. ... Und da ist es wichtig, es nicht zu billig zu machen.“
Trendwende unwahrscheinlich
Trotz des Besuchs erwartet der hvg-Journalist András Németh im hvg-Podcast Fülke keine pro-ukrainische Politik von Viktor Orbán:
„Er hat sich in solchem Maße auf den russischen Standpunkt festgelegt, dass es sehr schwierig wäre, da herauszukommen. ... Wenn man sich diejenigen ansieht, die seine neue Parlamentsfraktion bilden – Andrej Babiš aus Tschechien, Herbert Kickl aus Österreich – dann sieht man Politiker, die überhaupt nicht pro-ukrainisch sind. ... Ich wäre sehr überrascht, wenn Viktor Orbán seine Politik gegenüber der Ukraine radikal ändern würde.“
Kyjiw kommt um Budapest nicht herum
Der regierungsnahen Magyar Nemzet zufolge hat sich nicht Orbáns Position geändert, sondern die der Ukraine:
„Ungarn macht weiterhin keinen Hehl daraus, dass es die Sanktionen gegen Moskau nicht für zielführend hält. Es lässt weiterhin weder Waffenlieferungen durch in die Ukraine, noch entsendet es Soldaten. ... Es ist nicht Ungarns Standpunkt, der sich geändert hat, sondern vielleicht Kyjiws. Wir erwarten nicht wenig von der Ukraine, deren EU-Beitrittsbedingungen – als ungarischer diplomatischer Erfolg – eine Garantie für den Schutz nationaler Minderheiten umfassen. Unser Land wird die Einhaltung dieser gründlich verfolgen. ... Aber langfristig erwartet Kyjiw viel mehr von Europa. Es muss jedoch einsehen, dass auch wir ein Teil davon sind.“
Reden ist besser als nichts
Aktuálně.cz gibt den Ukrainern folgenden Rat:
„Sie sollten mit Orbán sprechen und ihm sagen: Okay, Sie verstehen nicht, dass die Ukraine das Recht hat, sich zu verteidigen, und dass das für uns wichtig ist. Stellen Sie sich also zumindest nicht in die Quere und hindern Sie andere nicht daran, den Ukrainern zu helfen. So wie es der polnische Premier Donald Tusk beim Treffen der vier Premiers von Visegrád in Prag tat. Laut einer Quelle aus Orbáns Delegation schrien Tusk und Orbán sich gegenseitig so sehr über die Ukraine an, dass man es durch mehrere Türen hören konnte. Das ist besser, als überhaupt nicht mit dem ungarischen Premier zu sprechen.“
Europas Trump
La Libre Belgique analysiert das Auftreten des ungarischen Premiers:
„Es genügt ein Blick auf das Video, das am Montag auf X veröffentlicht wurde, um das Image zu erkennen, das Orbán sich geben will: Mit einer Sonnenbrille im Gesicht und wehendem Haar inszeniert er sich, wie er zu Rockmusik in ein Militärflugzeug steigt. ... 'Es ist Zeit, Europa wieder groß zu machen!', kommentiert er und zitiert den Slogan der ungarischen Ratspräsidentschaft, angelehnt an Donald Trumps 'Make America Great Again'. Es gibt keine Illusionen: Viktor Orbán lässt sich von einem Mann inspirieren, der Kyjiw und ganz Europa fallen lassen will, wenn er wieder Präsident der Vereinigten Staaten wird. Der Herrscher von Budapest wünscht sich die Rückkehr des Republikaners.“