EU-Kommission: Kandidaturen stehen, wie gut passt das?
Nach einem Findungsprozess mit einigen Nebengeräuschen hat Ursula von der Leyen am Dienstag bekannt gegeben, welche 27 Personen die neue EU-Kommission bilden sollen. Nun muss das EU-Parlament die Vorschläge absegnen. Jedem Mitgliedstaat wurde ein Posten zugeteilt, doch ein Blick in die Kommentarspalten zeigt: Nicht alle sind mit "ihrem" Ressort und dem Führungsstil der wiedergewählten deutschen Chefin zufrieden.
Klare Signale nach Budapest
Dass der Ungar Olivér Várhelyi künftig nicht mehr Kommissar für EU-Erweiterung ist, sondern ihm dafür das Ressort Gesundheit und Tiergesundheit zugeteilt wurde, ist für Népszava eine klare Botschaft aus Brüssel:
„Von der Leyen hat sich augenscheinlich viele Gedanken darüber gemacht, wie sie der ungarischen Regierung klarmachen könnte, wie sehr sie die Nase von ihr schon voll hat ... Es ist auch so so gut wie sicher, dass Várhelyis Ernennung abgelehnt wird vom Europäischen Parlament, zu dem er in seiner ganzen Amtszeit als Erweiterungskommissar ein äußerst gespanntes Verhältnis hatte. ... Hätte Ungarn eine Frau nominiert, hätte von der Leyen sie wohl mit einem einflussreicheren Ressort belohnt.“
Von der Königin zur Kaiserin
Die Chefin der EU-Kommission hat ihre Macht ausgebaut, stellt Público fest:
„Von der Leyen wollte ihre Kontrolle über das Kollegium, dem sie vorsteht, verstärken, und das hat bereits ihre erste Amtszeit gekennzeichnet. Sie war bereits 'die Königin von Europa', jetzt will sie 'Kaiserin' werden. ... Die Art und Weise, wie sie die Kommission organisiert hat, erlaubt es ihr, einige Schlüsselfunktionen in den Händen von Kommissaren zu belassen, denen sie vertraut und von denen einige in die zweite Amtszeit gehen, wie der Lette Valdis Dombrovskis (Wirtschaft) oder der Slowake Maroš Šefčovič (Handel). ... Durch die Überschneidung der Zuständigkeiten, bei der die Vizepräsidenten für große Bereiche zuständig sind, deren konkrete Umsetzung jedoch in anderen Händen liegt, hat von der Leyen das letzte Wort.“
Weder Exekutive noch Legislative
Ökonom Nikitas Simos erinnert auf Skai daran, dass die Kompetenzen der EU-Kommission nicht mit denen einer Regierung auf nationaler Ebene vergleichbar sind:
„Ursula von der Leyen möchte, dass die Kommission am 1. November ihre Arbeit aufnimmt, noch vor den Wahlen in den USA, aber es besteht die Gefahr, dass sie sich um mindestens einen Monat verzögert. Es ist indes wichtig zu betonen, dass die Kommission trotz ihrer weitreichenden Befugnisse weder die legislativen noch die exekutiven Befugnisse des Europäischen Parlaments oder des Europäischen Rates der Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten beeinflusst, wo auch die unterschiedlichen politischen Kräfteverhältnisse zum Tragen kommen.“
Unterstützung für Kyjiw wird bestehen bleiben
NV glaubt, dass die Haltung der neuen EU-Kommission gegenüber der Ukraine konstruktiv bleiben wird:
„Erstens betrachtet Ursula von der Leyen die Unterstützung der Ukraine und Erfolge unseres Landes bei der Abwehr der russischen Aggression sowie auf dem Weg in die EU als eine zutiefst persönliche politische Aufgabe und einen Schlüsselbestandteil ihres eigenen politischen und historischen Erbes. ... Zweitens erwarten wir, dass alle Kandidaten bei den Anhörungen im Europäischen Parlament in Bezug auf ihre Haltung zur Ukraine gründlich geprüft werden. Drittens wurden die Kandidaten für die Schlüsselämter, die für die Ukraine in Hinblick auf die politische und sicherheitspolitische Unterstützung wichtig sind, aus den Ländern ausgewählt, die traditionell mit der Ukraine verbündet sind.“
Russlandskeptiker an wichtigen Schalthebeln
Die kremlnahe Iswestija sieht eine betont antirussische Grundhaltung bei den neuen Verantwortlichen für die Außen- und Sicherheitspolitik der EU:
„Der sich herausbildende 'Machtpolitikblock' wurde an Vertreter der russlandfeindlichsten Länder vergeben: Ein Litauer wurde Verteidigungskommissar und die Vizevorsitzende für Souveränität, Sicherheit und Demokratie ist eine Vertreterin Finnlands. Der Posten des Hohen Vertreters der EU für auswärtige Angelegenheiten ging an den Publikumsliebling Kaja Kallas – ehemals Ministerpräsidentin von Estland und gescheitert im Rennen um den Vorsitz des Nato-Generalsekretärs. Alle Kandidaten zeichnen sich durch eine sehr konsequente antirussische Haltung aus. Sicherlich werden sie diesen Ansatz auf allen möglichen Plattformen stolz vertreten.“
Paris muss Ambitionen hintanstellen
Frankreich zieht aufgrund mangelnden Vertrauens den Kürzeren, beobachtet Le Point:
„Vor einigen Monaten hat Emmanuel Macron anscheinend erwogen, Mario Draghi an die Spitze der EU-Kommission zu bringen, was eine großartige Nachricht gewesen wäre. … Er musste diese Idee jedoch aufgeben. Hätte Frankreich bei seinen Nachbarn, vor allem Deutschland, mehr Vertrauen und Respekt hervorgerufen, hätte das Kräfteverhältnis vielleicht anders ausgesehen. Letztendlich hat Ursula von der Leyen ihre Amtszeit verlängert – und zwar mit genug Selbstsicherheit, um den französischen Kommissar zurückzuweisen. Emmanuel Macron ernannte für diesen wichtigen Posten daraufhin seinen scheidenden, recht unscheinbaren Außenminister Stéphane Séjourné. … Das nennt man dann wohl, die eigenen Ambitionen zurückzuschrauben.“
Von der Leyens Position schwächelt
Nicht nur Frankreichs Nominierung von Stéphane Séjourné nach dem Rückzug von Thierry Breton offenbare zunehmenden Widerstand gegen die Kommissionschefin, meint Večer:
„Das bedeutet vor allem, dass die Geste Frankreichs – zusammen mit anderen Ländern, von denen keines außer Bulgarien Ursulas Wunsch berücksichtigt hat, männliche und weibliche Kandidaten zu nominieren – zeigt, dass sich Ursulas Position verschlechtert. Ja, Ursula wird für eine weitere Amtszeit Präsidentin der Europäischen Kommission sein. Allerdings wird sie eine weniger mächtige Präsidentin sein als in ihrer ersten Amtszeit. Es gibt mehrere Länder, die unwillig und nicht bereit sind, sich ihrer Herrschaftsweise anzupassen. Das sind schlechte Nachrichten für sie und die Interessen des Kapitals.“
Ausbalancierte Ämterverteilung
Club Z kommentiert die Struktur der neuen EU-Kommission:
„Deutschland hat mit von der Leyen weiterhin den Vorsitz inne. Die drei wichtigsten der sechs Exekutiv-Vizepräsidenten kommen aus den anderen drei am weitesten entwickelten Mitgliedstaaten. ... Der Süden wird mehr Einfluss in wirtschaftlichen Angelegenheiten haben. Neben Spanien [Wettbewerbspolitik] und Italien [Kohäsionspolitik] wurde die Portugiesin Maria Luís Albuquerque mit dem Ressort Finanzdienstleistungen betraut. ... Das Baltikum hat zwei der wichtigsten Posten in der neuen Kommission erhalten, das ist eine Geste an ganz Osteuropa. ... Kaja Kallas aus Estland wird die Hohe Vertreterin für Auswärtige Angelegenheiten und der Litauer Andrius Kubilius wird das neue Verteidigungsressort übernehmen.“
Zu viele Köche am Werk
Duma fürchtet, dass es in der neuen EU-Kommission nicht wenige Kompetenz-Überschneidungen gibt:
„Es wird eine Exekutiv-Vizepräsidentin für den sauberen, gerechten und wettbewerbsfähigen Übergang (Spanien) geben, aber auch einen Kommissar für Klima und sauberes Wachstum (Niederlande) sowie eine Kommissarin für Umwelt und wettbewerbsfähige Kreislaufwirtschaft (Schweden). Gleichzeitig wird es einen Exekutiv-Vizepräsidenten für Wohlstand und Industriestrategie geben (Frankreich), aber auch einen Kommissar für Wirtschaft und Produktivität (Lettland), ganz zu schweigen von den Kommissaren für Finanzen und Haushalt. Bei so vielen Verantwortlichen für die EU-Wirtschaft können wir nur hoffen, dass sich das Sprichwort 'Zu viele Köche verderben den Brei' nicht bewahrheitet.“
Riskante Mission für Séjourné
Frankreichs Außenminister Séjourné steht als künftiger Exekutiv-Vizepräsident vor einer großen Herausforderung, urteilt Le Monde:
„Die Praxis wird zeigen, ob Séjourné, der die europäische Maschinerie gut kennt, aber die Bereiche Wirtschaft und Industrie neu entdeckt, sich gegenüber erfahrenen Kommissaren wie Valdis Dombrovskis und Maroš Šefčovič behaupten und mit der spanischen Vizepräsidentin Teresa Ribera – einem politischen Schwergewicht, das für den ökologischen Wandel zuständig und als Atomkraftgegnerin bekannt ist – zusammenarbeiten kann. … Er wird sich auch von dem Bild lösen müssen, Macrons Sprachrohr zu sein. Das Vorhaben ist riskant.“
Kompetenter Kommissar mit grüner Ader
Die Ernennung des dänischen Sozialdemokraten Dan Jørgensen zum Kommissar für Energie ist laut Politiken eine gute umweltpolitische Nachricht für Europa insgesamt:
„Mit seiner Vergangenheit als Minister für Klima und Entwicklung, als international anerkannter Klima-Unterhändler und Europaparlamentarier ist Jørgensen für den Job bestens geeignet. Mit seiner Ernennung zeigt Ursula von der Leyen, dass es keine leeren Worte sind, wenn sie Dänemark immer aufs Neue als grünes Vorbild preist, insbesondere im Bereich der Windenergie. ... Außerdem demonstriert sie damit ihr Vertrauen in Jørgensens Kompetenz, wenn es darum geht, eines der umstrittensten, Europa spaltenden energiepolitischen Themen anzugehen: die Atomkraft.“
Spanisches Top-Ressort und erfreulich viele Frauen
El País sieht gleich zwei Gründe zur Freude:
„Teresa Ribera wird eine Art Superkommissarin sein, mit Einfluss auf die bedeutende europäische Industriepolitik. Sie wird die Kartellvorschriften anwenden und staatliche Beihilfen und Fusionen überwachen. Dies ist eine Schlüsselposition, die Spanien zu einem der wichtigsten Partner der EU macht. ... In ihrer neuen Amtszeit hat von der Leyen angekündigt, dass sie sich die Möglichkeit vorbehält, die Struktur der Kommission zu ändern. Und sie hat 40 Prozent Frauen an die Spitze der Kommissionen berufen. Obwohl das nicht so paritätisch ist, wie sie erhofft hatte, hat sie doch eine Verbesserung gegenüber den erbärmlichen 22 Prozent Frauenanteil erreicht, der aus den Vorschlägen der Regierungen hervorgegangen wäre.“
Geschickt zusammengestellt
Helsingin Sanomat lobt:
„Wenn die neue Kommission Ende des Jahres ihr Amt antritt, wird in der Ukraine wahrscheinlich immer noch Krieg geführt. Die Beziehungen zwischen den USA und Europa könnten im Zuge der Präsidentschaftswahlen im November schwieriger werden. Sicherheit, Gesundheit, Wirtschaft, Technologie und militärische Macht werden noch stärker miteinander verwoben sein. Die Herausforderungen sind gewaltig, aber von der Leyen hat die Aufgaben der Kommissare sehr geschickt verpackt. Fast jedes Land kann sich mit dem Gewicht seines Portfolios brüsten.“
Mehr Macht für Meloni
Die größte Gewinnerin ist Italiens Premierministerin, meint die Stuttgarter Zeitung:
„Der Postfaschistin ist es gelungen, mit Raffaele Fitto einen ihrer Gefolgsleute auf einem der einflussreichsten Posten in der Kommission zu platzieren. Er wird Vizepräsident und Kommissar für Kohäsion. Damit wäre er unter anderem für den Europäischen Sozialfonds und einen Fonds für regionale Entwicklung verantwortlich. Melonis Jubel über diese Entscheidung kennt keine Grenzen, sichert sie ihr doch zusätzlich Macht und Einfluss in Brüssel. Mit dieser Personalie hat Ursula von der Leyen allerdings einen politischen Sprengsatz in ihrer eigenen Kommission platziert. Denn viele Europaparlamentarier sind zu Recht entsetzt und haben ihren Widerstand gegen den extrem-rechten Italiener angekündigt.“
Undankbarer Aufpasser-Posten für Irland
Dass der Ire Michael McRath Justizkommissar werden soll, zeigt, wie gering Irlands Bedeutung in Brüssel geworden ist, schreibt The Irish Times:
„Man darf die beschwichtigenden, diplomatischen Töne aus Dublin getrost ignorieren – das Justizressort wollte niemand haben. Justiz bedeutet garantierte (und oft persönliche) Konflikte mit Staaten wie Ungarn und der Slowakei. ... Die Realität sieht so aus, dass Irland innerhalb eines Jahrzehnts von der Zuständigkeit für Landwirtschaft und ländliche Entwicklung (ein Drittel des EU-Haushalts) über Handel (das Kronjuwel der EU-Kompetenzen) und Finanzdienstleistungen (ohne die wichtigen Teile) zur undankbaren Aufgabe übergegangen ist, Möchtegern-Diktatoren in Europa mit einem 'Demokratieschutzschild' zu beaufsichtigen.“
Enttäuschung in Prag
Tschechiens Industrieminister Jozef Síkela wurde als Kommissar für Handel oder Energie gehandelt, erhält nun aber den Bereich Internationale Partnerschaften. Reflex notiert desillusioniert:
„Es ist enttäuschend. ... Den Kampf um ein wirklich starkes Wirtschaftsportfolio haben wir erneut verloren. Das passiert schon seit 20 Jahren, also seitdem wir Mitglied der EU sind. Dennoch geben sowohl die Regierung als auch Síkela das zugewiesene Ressort als Erfolg aus, da der tschechische Politiker viele Beamte unter sich haben und ein großes Budget verwalten wird. Aber es ist kein Sieg. Es hat sich wieder einmal gezeigt, dass unser Einfluss innerhalb der EU gering ist.“
Personal-Hickhack hat sich gelohnt
Večer freut sich, dass Slowenien nach dem Hin und Her um die Ernennung seiner Kandidatin das Ressort der EU-Erweiterung bekommen soll:
„Marta Kos wird, wenn sie die Anhörung besteht, nicht nur die Abteilung für die EU-Erweiterung auf den Westbalkan leiten, sondern auch die für die restliche östliche Nachbarschaft, die Ukraine, Moldau und Georgien. Ihr Ressort wird auch für den Wiederaufbau der Ukraine nach dem Krieg verantwortlich sein, was eine Menge Geld umfasst. Dass es trotz allem wahrscheinlich tatsächlich ein Sieg Sloweniens ist, beweist folgende Überlegung: Sollte Marta Kos die Anhörung im Parlamentsausschuss nicht bestehen, steht Slowenien das Ressort trotzdem weiterhin zur Verfügung.“