Rededuell zwischen von der Leyen und Orbán
Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen haben sich einen Schlagabtausch im Europaparlament geliefert. Ungarn hat gegenwärtig die Ratspräsidentschaft in der Europäischen Union inne. Auf Orbáns Rede, in der er grundlegende Änderungen in der Europapolitik forderte, folgten sowohl heftige Kritik als auch Applaus.
Er hat es sich überall verdorben
Der ungarische Premier hat jedes Vertrauen verspielt, meint Népszava:
„Mit harter, kontinuierlicher Arbeit hat der ungarische Regierungschef es geschafft, selbst aus den kühl zurückhaltenden, besonnenen, zimperlichen europäischen Husaren der Etikette den Straßenschläger herauszuholen. Die Europäische Volkspartei (EVP), die Fidesz jahrzehntelang in ihren Reihen hatte, hat eine ganz brutale Kampagne angefangen: Orbán wird betitelt mit 'Vom Helden zur Null' und 'Problem, nicht Lösung'. .... Er hat zwar versucht, einen europäischen Ton anzuschlagen und als Ratspräsident hat er auch konstruktive Vorschläge gemacht, doch das interessiert in Europa niemanden mehr, die Erinnerung an den ehemaligen Studentenführer und bürgerlichen Politiker hat sich verflüchtigt.“
Egoistisch und nationalistisch
Dnevnik glaubt nicht, dass eine Mehrheit der EU-Staaten Orbáns Vorgehen etwas abgewinnen kann:
„Wie auch, wenn er Lösungen befürwortet, die eine Abkehr von europäischen Werten und internationalen Konventionen darstellen. Als jemand, der gegen Grundwerte des Vertrags über die Europäische Union verstößt, wagte er es, den 27 Mitgliedstaaten Ratschläge zur Reform des Asylsystems zu geben, natürlich in einer Art und Weise, die nicht den internationalen Regeln entsprechen. Das ist typisch für Orbán und sollte keine Überraschung sein: Wenn das System geändert werden muss, soll das so geschehen, dass es nationalen Interessen und nicht den Interessen der Gemeinschaft dient.“
Die EU wurde entblößt
Die Weltwoche ist voll des Lobes für Orbán:
„Es war ein denkwürdiger Tag in Strassburg: Das Europaparlament wurde vor den Augen der Öffentlichkeit demaskiert. ... Was war so furchtbar an Orbáns Rede? Nichts. Sie war ein flammendes Bekenntnis für Europa. Einen 'Weckruf' nannte er sie, denn Europa müsse sich ändern. ... Von der Leyen und ihre rot-grün-gelb-schwarzen Hintersassen wollten nichts davon hören. Ändern wollen sie nichts. ... Dennoch wird sich die EU verändern, es wird nur noch ein wenig dauern. Aber ein erster Schritt wurde getan, als Viktor Orbán dieser EU die Maske herunterriss.“
Premier eines abgehängten Landes
Die Presse macht darauf aufmerksam, dass es Ungarn keineswegs so gut geht, wie es Orbán darstellt:
„Ungarn ist wirtschaftlich im Vergleich zu seinen Nachbarstaaten abgehängt, mangelnde staatliche Investitionen in Gesundheitswesen, Bildung und Infrastruktur zeitigen allgegenwärtige Folgen, und wer etwas aus seinem Leben machen möchte, ohne sich der Fidesz zu unterwerfen, sucht das Weite. Da kann der Ministerpräsident, wie er es auch am Mittwoch im Plenarsaal des Europaparlaments in Straßburg getan hat, noch so selbstsicher tönen, wie toll es Ungarn doch gehe: die EU-Statistiken zeigen, wie sehr sein Land abgesandelt ist.“
Showdown zur beidseitigen Imagepolitur
Diese Konfrontation nutzte beiden Kontrahenten, analysiert De Standaard:
„Die Beziehung zwischen von der Leyen und Orbán war schon länger angespannt. Er stimmte im Juni als einziger gegen eine zweite Amtszeit für die Deutsche als Kommissionsvorsitzende. ... Nach Orbáns Ansicht führt die EU unter von der Leyen eine Kriegspolitik. Ihre Konfrontation kommt beiden gelegen. Orbán kann über die von ihm kontrollierten Medien zeigen, dass er weiter gegen 'Brüssel' kämpft. Und von der Leyen weiß, dass ihr ihre Haltung bei den pro-europäischen Fraktionen gut Punkte einbringt. Sie bekam jetzt bereits eine stehende Ovation.“
Putins Werkzeug
Orbán will Europa von innen heraus zersetzen, erklärt La Repubblica:
„Der magyarische Regierungschef ist zum verlängerten Arm Putins geworden. ... Wir Europäer vergessen oft, dass die Wurzeln des Krieges in der Ukraine in den mit blauen Pro-EU-Fahnen geschmückten Demonstrationen auf dem Maidan liegen. Aber Putin erinnert sich sehr gut daran. Und er hat in Orbán das Werkzeug gefunden, um Europa gegen sich selbst aufzuwiegeln. Jahrelang hat Brüssel weggeschaut und so getan, als würde es nichts sehen. Der gestrige Zusammenstoß im Parlament zeigt jedoch, dass es sich endlich der asymmetrischen Kriegsführung bewusst geworden ist, die nicht nur im Donbas, sondern auch innerhalb unserer eigenen Grenzen stattfindet.“
Antieuropäischer Überzeugungstäter
Der Standard sieht in Orbán einen Politiker, der die EU demontieren will:
„Der Premier ist kein verirrter Rechtspopulist, der als junger Mann noch ein liberaler Freiheitskämpfer war und vehement für den Beitritt seines Landes in EU und Nato eintrat, in den freien Westen. Orbán hat sich zu einem radikal antieuropäischen Überzeugungstäter gewandelt. Sein Handeln ist nicht von Taktik bestimmt. Er hat eine strategische Mission, will die offene, liberale und vielfältige Europäische Union zerschlagen, zurück zu 'nationalen Allianzen'. Mit allen Mitteln, auch der Täuschung.“
In erster Linie die US-Wahl im Kopf
Orbán wird die scharfe Reaktion von der Leyens nicht wirklich kümmern, vermutet die Süddeutsche Zeitung:
„Was die Kommissionspräsidentin über ihn denkt, kann ihm egal sein ... Was seine 26 EU-Kolleginnen und -Kollegen von ihm halten, ist für Orbán zwar nicht ganz so irrelevant. Sie könnten, wären sie geeint, Ungarn empfindlich bestrafen. Aber sie sind nicht geeint ... . Das politisch wichtigste Datum in diesem Jahr ist für Orbán ohnehin der 5. November. An diesem Tag wird in den USA der neue Präsident gewählt, und Orbán lässt keine Gelegenheit aus, um sich politisch an Donald Trump zu ketten. Siegt Trump in Amerika, stärkt das auch Orbán und alle anderen Rechtspopulisten in Europa. Verliert Trump, verliert auch Orbán.“
Merkels schützende Hand fehlt
Orbáns Position auf der europäischen Bühne wird schwächer, findet Hospodářské noviny:
„Dort gelang ihm immer ein schmaler Grat, um seine wichtigsten Verbündeten, namentlich Deutschland, nicht zu verärgern. Unterstützung erkaufte er sich durch Kooperationen mit der deutschen Automobil- und auch mit der Rüstungsindustrie. Mittlerweile kritisieren deutsche Unternehmer, dass sie von lokalen Oligarchen aus verschiedenen Branchen in Ungarn verdrängt werden. ... Zuletzt kritisierte die deutsche Botschafterin in Budapest in einer Rede zum Tag der deutschen Einheit entgegen diplomatischer Gepflogenheiten Orbán scharf. Vorbei sind die Zeiten, in denen er bei seinen Auseinandersetzungen auf europäischer Ebene auf die Unterstützung von Bundeskanzlerin Angela Merkel zählen konnte.“
Ungarns Innenpolitik auf der falschen Bühne
Orbán wurde in Strasburg auch vom ungarischen Oppositionsführer und EU-Abgeordneten Péter Magyar hart angegangen. Ungarns Politiker sollten das Europaparlament nicht für innenpolitische Debatten nutzen, meint hvg:
„Mit den anderen ungarischen Politikern zusammen hat Orbán Schande über uns alle gebracht ... Die ungarische Politik ging nach Straßburg, weil Viktor Orbán dachte, es würde seiner verwitterten Popularität gut tun. ... Und andere ungarische [Oppositions-]Politiker sprangen bereitwillig ein, um auch selbst von dieser Kulisse zu profitieren: um zu befragen, zu belehren, zu denunzieren, zu empören, zurückzuschlagen und zu zerstören.“