Nach EU-Gipfel: Neue Härte in der Migrationspolitik?

Die EU-Staaten haben beschlossen, das geltende Recht "dringend" zu überarbeiten, um abgelehnte Asylbewerber schneller abschieben zu können. Dabei sollen auch "neue Wege" gegen irreguläre Migration in Betracht gezogen werden. Unter anderem wurden in Brüssel Asylzentren in Drittstaaten diskutiert, wie sie Italien jüngst in Albanien eröffnet hat. Europas Presse ordnet ein.

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In (GR) /

Nützliche Zuwanderung wird dämonisiert

Das Webportal In kritisiert die neue Linie scharf:

„Wir leben auf einem Kontinent, dessen Bevölkerung altert, und dennoch werden Flüchtlinge und Migranten, anstatt als Lösung und Atem für die wirkliche Herausforderung der Integration behandelt zu werden, als Problem, Bedrohung und Sicherheitsfrage behandelt. ... Das Thema wird nicht ernsthaft, sondern rechtsextremistisch diskutiert: Die Menschen werden dämonisiert, 'entmenschlicht', statt Leben sprechen wir von 'Strömen'. Kam diese Rhetorik bislang von Le Pen und Orbán, macht jetzt der Sozialdemokrat Scholz angesichts der drohenden AfD Schengen zum Papierfetzen und nebenan beschwört Tusk einerseits, er sei Europäer, setzt aber andererseits das Recht, Asylanträge zu stellen, vorübergehend aus, um Belarus auszubremsen.“

hvg (HU) /

Orbán darf zufrieden sein

Die EU bewegt sich in Richtung der Strenge, wie sie der ungarische Premier einfordert, beobachtet hvg:

„Am zufriedensten muss wohl Viktor Orbán gewesen sein, denn heutzutage werden Sätze über die Wichtigkeit des Schutzes der Außengrenzen, der Beschleunigung der Abschiebung von abgelehnten Asylbewerbern und der Bearbeitung von Anträgen in Zentren in Drittländern ausgesprochen, die der ungarische Regierungschef schon seit langem wiederholt. Und man zeigte volles Verständnis für den polnischen Ministerpräsidenten Donald Tusk, der gerade plant, das Recht auf Asylverfahren für illegale Einwanderer aus Belarus und Russland auszusetzen.“

Corriere della Sera (IT) /

Politisches Ablenkungsmanöver

Das Thema Einwanderung dient vor allem dazu, den Fokus von anderen drängenden Problemen wegzubewegen, wettert Corriere della Sera:

„Wenn es sie nicht gäbe, müssten sie erfunden werden. Migranten sind die beste Ablenkungswaffe, die Politiker jeglicher Couleur im 21. Jahrhundert eingesetzt haben. Haben wir ein Geld- oder ein Glaubwürdigkeitsproblem? Sind Reformen notwendig und doch unmöglich? ... Man muss den Scheinwerfer nur auf Ausländer richten, die angeblich die Grenzen bedrängen, und schwupps hat sich die öffentliche Debatte gewendet. Um Beispiele zu finden, müssen wir gar nicht auf Trumps Märchen über angeblich Katzen und Hunde essende Haitianer sprechen oder uns an die Lügen der Brexit-Befürworter erinnern. Wir haben selber genügend Fälle. Umfragen zufolge beschäftigt die meisten Italiener nicht das Thema Einwanderung, sondern das Gesundheitswesen.“

Maaleht (EE) /

Gegenseitiges Vertrauen reicht nicht mehr aus

Migrationsexpertin Annika Murov befürchtet in Maaleht Veränderungen für den Schengen-Raum:

„Die Wiedereinführung von Grenzkontrollen spiegelt die wachsende Besorgnis der europäischen Länder über die Migration und die Bedrohung durch den Terrorismus wider. Freizügigkeit und [feste] Außengrenzen fördern das Gefühl der Einheit und Selbstbestimmung in Europa. ... Bislang haben Schengen und der Schutz der Außengrenzen weitgehend auf der Grundlage des Vertrauens funktioniert - zu Mitgliedstaaten, die die entsprechenden Grenzverfahren durchführen und miteinander kooperieren. Es ist jedoch klar, dass es schwierig wird, den Schengen-Raum in seiner derzeitigen und unveränderten Form ohne Binnengrenzen aufrechtzuerhalten.“

444 (HU) /

2024 könnte das Jahr der Wende sein

444.hu geht davon aus, dass die aktuellen Entscheidungen einen Einschnitt markieren:

„Die aufnahmefreundliche Willkommenskultur ist längst in der Versenkung verschwunden, Europa zeigt Härte und eine Wende in der Migrationspolitik ist nicht mehr nur eine Forderung der radikalen Rechten, sondern in einer Reihe von Ländern zum Slogan von Politikern geworden, die als zentristisch gelten und in Entscheidungspositionen sind. ... Es ist möglich, dass 2024 das Jahr sein wird, das die Nachwelt mit einer Wende in der Migrationspolitik und der Verschließung Europas verbinden wird.“

Tygodnik Powszechny (PL) /

Verschiedene Werte im Konflikt

Es geht in dieser Debatte nicht um Links und Rechts, so Tygodnik Powszechny:

„Eine der restriktivsten Asylpolitiken der EU wurde von den Linken geschaffen, von den dänischen Sozialdemokraten. Finnland hat die Möglichkeit der Aussetzung des Asylrechts – als Reaktion auf Russlands Einsatz von Migranten als Mittel der hybriden Kriegsführung – mit einem Bündnis von rechts bis links beschlossen. Die jüngst vorgestellte Migrationsstrategie der polnischen Regierung kann auch als Versuch eines Austarierens von Werten gesehen werden. Denn es gilt nicht allein, den Migranten im Wald [an der belarusisch-polnischen Grenze] zu helfen. Es geht auch darum, die Sicherheit des Staates und seiner einzelnen Bürgerinnen und Bürger zu schützen.“

El Periódico de Catalunya (ES) /

Europas Feinde kommen nicht von außen

El Periódico de Catalunya analysiert:

„Der italienische Vorschlag wird wenig lösen, denn abgesehen von Albanien und vielleicht dem Kosovo wird es keine Länder geben, die illegale Gefangenenlager wie Guantánamo unterhalten wollen. ... Ein Rahmen für die legale Einreise von Migranten nach Europa, mit geordneten Anträgen in ihren Herkunftsländern und mit Quoten, die den Menschenhandel großteils verhindern, wäre wohl effektiver. Ohne Einwanderer gibt es keine Renten und keinen Sozialstaat. Der Diskurs wird von radikalen Bewegungen manipuliert, die nur an die Macht wollen, und der Rest der Parteien ist nicht in der Lage, humanere und wirksamere Vorschläge zu machen. Die Feinde Europas sind nicht diejenigen, die von außen kommen, sondern es sind die, die hier im Innern Angst und Chaos verbreiten.“

Neue Zürcher Zeitung (CH) /

Mehrere Tabus gebrochen

Die Neue Zürcher Zeitung begrüßt, dass in die europäische Asylpolitik Bewegung gekommen ist:

„Es war in migrationspolitischer Hinsicht ein aussergewöhnlicher EU-Gipfel, der am Freitag zu Ende ging. Die 27 Staats- und Regierungschefs haben in den letzten Tagen mehrere Tabus fallen gelassen, die vor kurzem noch weitherum sakrosankt schienen. ... Es gibt also eine neue Dynamik in der europäischen Migrationspolitik. Doch führt sie auch wirklich zu den innovativen Lösungen, die am Gipfel pausenlos beschworen wurden? Dass einzelne Staaten oder Staatengruppen jetzt mit Rückführungsabkommen und der Auslagerung der Verfahren experimentieren, ist ... zu begrüssen.“

Večernji list (HR) /

Wer macht eigentlich die EU-Politik?

Večernji list staunt:

„Neben der Ankündigung eines Gesetzes, dass die Abschiebung erleichtert, rief von der Leyen die anderen Staatschefs auf, über die Gründung von Migranten-Centern außerhalb der EU-Grenzen nachzudenken – beziehungsweise über 'Hubs' zur Rückführung, wie sie sie nannte (in Brüssel ist man immer kreativ, wenn es darum geht, mit attraktiven Namen den realen Zweck zu verschleiern). Das zeigt, dass die italienische Premierministerin die italienischen Zentren in Albanien nicht zufällig als Beispiel für den Rest der EU bezeichnete. Doch stellt sich nun die Frage, wer in diesem Moment eigentlich die EU-Politik vorgibt: Ursula von der Leyen oder ihre politische Verbündete und Freundin Giorgia Meloni?“

Phileleftheros (CY) /

Meloni zeigt den Weg

Italiens Regierung steht keineswegs allein da, klagt Phileleftheros besorgt:

„Giorgia Meloni hat sich vom rechten Rand aus zu einer Führungspersönlichkeit entwickelt, die Europa den Weg weist. Um ihre Idee, in Albanien Konzentrationslager einzurichten, in die jene geschickt werden, die Landes- und Wassergrenzen überschreiten, wird sie von fast ganz Europa beneidet. Die Niederlande verhandeln mit Uganda, um dasselbe zu tun, Finnland baut Zäune an seiner Grenze zu Russland, und Ursula von der Leyen verweist auf Italien als Beispiel, dem man folgen sollte.“

Corriere della Sera (IT) /

Rom setzt auf unscharfe Bestimmungen

Am Freitag stoppte ein italienisches Gericht die Unterbringung der ersten Migranten im Asylzentrum Shëngjin in Albanien. Meloni wird sich dadurch nicht aufhalten lassen, meint Corriere della Sera:

„Im Kern geht es um die Frage, welches die 'sicheren Drittstaaten' sind ... Der Europäische Gerichtshof hat unlängst [am 4. Oktober 2024] die Kriterien neu definiert. Ägypten und Bangladesch, aus denen die zwölf im Aufnahmezentrum Shëngjin eingelieferten Personen stammten, gehören nicht dazu, was den Verantwortlichen für die Einschiffung nach Albanien durchaus bekannt war. Die Kriterien sind jedoch auslegungsfähig und werden als solche von der Regierung Meloni mit einem Dekret neu definiert werden, das die Liste der 'sicheren' Länder willkürlich erweitert, mit dem erklärten Ziel, Ankunftsländer wie das unsere besser zu schützen.“

Jornal de Notícias (PT) /

Deutschland und Spanien setzen Zeichen

Der neue harte Kurs stößt in Europa auf bedeutsamen Widerstand, bemerkt Jornal de Notícias mit Erleichterung:

„Vor dem Hintergrund der Kriege, die immer weltumfassender werden, ist die Flucht vor Tod, Zerstörung und Hunger legitim und stellt Europa vor große Herausforderungen. Europa muss eine gemeinsame und vernünftige Politik betreiben, denn es braucht auch diese Menschen. Es ist wichtig zu erklären, dass sich nicht alle dem von von der Leyen geförderten Prozess der Legitimierung der extremen Rechten beugen. Die spanische und die deutsche Regierung zum Beispiel haben ihre Stimme in eine andere Richtung erhoben, indem sie die mangelnde Ethik und Wirksamkeit des Plans der Italienerin kritisierten und sich weigerten, an einem von Meloni organisierten Migrationsgipfel teilzunehmen.“

El País (ES) /

Menschenrechte und Demokratie verlieren

El País hingegen sucht nach echten Gegenkräften:

„Es gibt Zeichen des Widerstands, einige aus der Justiz, wie das italienische Gericht, das das Meloni-Modell in Frage gestellt hat, wie zuvor auch ein britisches das dortige Ruanda-Modell. ... Aber das sollte uns nicht über den politischen Kampf in Europa und im Westen hinwegtäuschen. Wir, die wir für Menschenrechte und Demokratie eintreten, verlieren. ... Angesichts dieser Erosion ist keine politische Gegenkraft in Sicht. ... Die deutsche Regierung ist im Endzustand. ... Ob die französische überhaupt flügge wird, ist fraglich. ... Italien und die Niederlande sind in den Händen der extremen Rechten. In Spanien halten sich die Sozialdemokraten. ... Sie sagen Dinge, die sie auf die richtige Seite der Geschichte stellen, aber ihre innere Schwäche nimmt ihnen Strahlkraft.“