Steckt die westliche Demokratie in der Krise?
Nach dem Wahlsieg Donald Trumps herrscht große Unsicherheit darüber, wohin der künftige Präsident die USA führen wird. Kommentatoren werten den Erfolg Trumps und anderer Populisten als Folge neoliberaler Entwicklungen und machen zudem die Schwäche der politischen Linken dafür verantwortlich.
Resignation macht sich breit
Viele Osteuropäer leiden zunehmen unter den neoliberalen Entwicklungen, urteilt Delo:
„Gut 25 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs gibt es immer mehr Menschen, nicht nur im ehemaligen Ostblock, die vom Westen tief enttäuscht sind. Viele, dies gilt wiederum nicht nur für die Menschen im Osten, fühlen sich als Europäer zweiter Klasse. Die jahrzehntelang versprochenen Standards - Demokratie, Rechtsstaat und Achtung der Menschenrechte - haben keine Bedeutung mehr. Sie sind vom brutalen Neoliberalismus, den mit ihm verbundenen politischen Eliten, Korruption und dem sinkenden Lebensstandard des Großteils der Bevölkerung überfahren worden. Die ehemalige Begeisterung für Europa gibt es nicht einmal mehr in den Mitgliedstaaten, denen es noch gut geht. Überall siegt die Resignation, die immer ein idealer Nährboden für populistische und nationalistische Tendenzen ist.“
Die Linke ignorierte soziale Fragen
Bei der Suche nach den Lehren aus Trumps Wahlsieg muss sich vor allem die Sozialdemokratie ein paar wichtigen Fragen stellen, analysiert Der Spiegel:
„Sie muss sich fragen, warum Menschen, deren Anwalt sie immer sein wollte, zur Rechten überliefen. Trump errang seine höchste Zustimmung bei Leuten mit geringer Bildung. Viele seiner Wähler sind Verlierer der wirtschaftlichen Entwicklung oder halten sich dafür. Es ist ein Trend, der nicht nur die USA beherrscht, man kennt ihn aus Frankreich, England oder Mecklenburg- Vorpommern. ... Auch in Deutschland gibt es viele, die sich von der politischen Linken vergessen, wenn nicht gar verraten fühlen - sei es durch die Agenda 2010, durch die mitgetragene Rettung der Banken oder den apathischen Umgang mit jener Entwicklung, wonach die Herkunft immer stärker über die Lebenschancen entscheidet. Weil die politische Linke die soziale Frage lange links liegen ließ, suchen immer mehr Wähler ihr Glück bei der Rechten.“
Fakten spielen keine Rolle mehr
Die Kampagnen zur Abstimmung über den Brexit, zum Flüchtlings-Referendum in Ungarn und zur Präsidentschaftswahl in den USA waren allesamt Ausdruck des sogenannten postfaktischen Zeitalters, analysiert der Politologe Dániel Mikecz in hvg:
„Ein Präsidentschaftskandidat, der mit Lügen gewinnt, eine Abstimmung über eine EU-Austritt, der nicht im Geringsten durchdacht ist, und ein Referendum [in Ungarn], bei dem wiederum vollkommen unklar ist, worüber eigentlich abgestimmt wird. Diese Ereignisse markieren eine surreale Wende in der westlichen Öffentlichkeit. ... In allen drei Fällen war die Unwissenheit der Wähler ausschlaggebend. Die Ergebnisse zeigen, dass vor allem diejenigen für Trump und den Brexit gestimmt haben, deren Bildungsgrad niedrig ist. Bei beiden Volksentscheiden wurden wirtschaftliche und statistische Fakten fast vollständig ausgeblendet. Im Gegensatz zu Emotionen spielen Fakten offenbar eine immer geringere Rolle in der Öffentlichkeit.“
Demokratie im eigenen Umfeld stärken
Mit dem Wehklagen nach dem Sieg von Trump muss nun Schluss sein, findet Dagens Nyheter:
„Wenn du die oberflächliche Kritik an Politikern leid bist, hör auf zu jammern und engagiere dich stattdessen in einer Partei. Wenn dich Hass und Drohungen im Netz deprimieren, halte dagegen und ermuntere diejenigen, die für etwas anderes stehen. Teile, kommentiere und like ihre Posts. Wenn viele so handeln, wird das Wirkung zeigen und ein wahrhaftigeres Bild von dem vermitteln, wofür die meisten Schweden stehen. ... Was in der Populisten-Propaganda als eine kleine, weltfremde Machtelite beschrieben wird, ist in Wirklichkeit die überwältigende Mehrheit der schwedischen Bürger. ... Es gilt, mit Kraft und ganzem Herzen die Rhetorik [der Populisten] zurückzuweisen, für grundlegende Werte aufzustehen und eine Politik anzubieten, die Schweden stärker macht.“
Was Trump und die IS-Miliz gemeinsam haben
Parallelen zwischen dem Wahlsieg von Trump und der großen Anziehungskraft, die die IS-Terrororganisation auf Tausende von junge muslimische Männer und Frauen im Westen ausübt erkennt Kolumnist Hazim Al-Amin in Al-Hayat, einer saudi-arabischen Tageszeitung mit Sitz in London:
„Sicher ist es fast unmöglich, Gemeinsamkeiten zu finden. Aber ich wage es, gedankliche Brücken herzustellen. Beide Phänomene werden von so etwas wie inneren Zusammenbrüchen begleitet. Ein Konsens, der die Gesellschaften zusammengehalten hat, ist außer Kraft gesetzt. ... Die Verachtung und Entwürdigung von Frauen wurden zur Stärke des amerikanischen Kandidaten. ... Im Falle der IS-Miliz hat die mindere Stellung der Frauen, die die Terrororganisation propagiert, es nicht verhindert, dass sich ihr westliche Frauen anschlossen, allein oder in Begleitung ihrer Männer. ... Das Unerhörte, das gesellschaftlich Geächtete wurde machbar. Das Bestialische bei der IS-Terrormiliz und ihren Anhängern. Und die Lust, Unterdrücktem freien Lauf zu lassen, bei Trumps Wählern.“
Nationalisten können sich nicht isolieren
Trump und seine europäischen Nacheiferer stehen mit ihrer Ideologie vor einem Dilemma, erkennt Večernji list:
„Das Problem der Populisten, die so souverän und gegen die Globalisierung sein wollen, liegt darin, dass sie doch miteinander reden müssen, wenn sie einmal an die Macht gekommen sind. Denn die Welt war nie mehr verbunden als heute. Die Idee einer nationalistischen Internationalen ist ein Widerspruch in sich. ... Das globale System ermöglicht es kaum, international irgendetwas ohne die Führung der USA zu erreichen. Obama wies einst darauf hin, dass es keine globale Konferenz gäbe, auf der ohne die USA über ein Problem diskutiert würde, geschweige denn Beschlüsse gefasst und implementiert werden könnten. So scheint die Rückbesinnung der USA auf sich selbst - unter Trumps Motto, Amerika wieder groß zu machen -, unmöglich. Denn dies würde auf der internationalen Bühne ein Vakuum schaffen, das nur allzu leicht ins Chaos führen würde.“
Demokratie lässt sich nicht vereinfachen
Der post-faktischen Politik von Trump und europäischen Populisten muss ein umfassender Wandel der politischen Kultur entgegen gesetzt werden, mahnt der Philosoph Daniel Innerarity in El País:
„Die besten Entscheidungen werden nicht mit Desinformation (Brexit) und Verdrehung der Wirklichkeit (Trump) getroffen. Und eine passive Konsumentenhaltung der Bürger, deren Bedürfnisse sofort befriedigt werden und die jeglicher Verantwortung entbunden sind, macht es auch nicht besser. ... Die Einbeziehung der Gesellschaft in die Regierung muss mehr sein als die Teilnahme an Wahlen oder der Meinungsaustausch im Netz ... Wir brauchen eine umfassendere, differenzierte politische Kultur. Wenn sich alles nur um Positionen und Gegenpositionen dreht und komplizierte Sachverhalte sofort auf Desinteresse und Ablehnung stoßen, geht das nicht. Warum gelten Sachlichkeit und Verantwortung in der Politik so wenig? Nur eine komplexe Demokratie ist eine komplette Demokratie.“
Albtraum für Liberale ist wahr geworden
Liberale in den USA stehen vor vier schwer erträglichen Jahren, schreibt Karikaturenzeichner Tom Toles in der Washington Post:
„Man könnte sagen, dass es kein besseres Ergebnis hätte geben können, um den Liberalismus in den Vereinigten Staaten zu zerstören und zu demoralisieren, soweit das Auge sehen kann. Da habt ihr's, so sieht das Worst-Case-Szenario für Liberale aus - und es wird mindestens vier Jahre bestehen bleiben. Wie sich das anfühlt? Schlimmer als ihr euch das vorstellen könnt. Ich habe nicht wenige Erwachsene weinen gesehen, und das wiederholt. Wenn ihr also darauf gehofft hattet, schadenfroh sein zu können, dann habt ihr jetzt die Gelegenheit, das voll auszukosten. Die Regierung des Landes ist nun gänzlich in eurer Hand.“
Trump ist der Höhepunkt eines Trends
Der Vormarsch von Populisten in der westlichen Welt ist am Ende dieses Jahres nicht mehr zu übersehen, warnt Új Szó:
„In den Niederlanden wurde in einem Referendum einer weiteren Annäherung zwischen der EU und der Ukraine eine Absage erteilt. Tatsächlich hatte der Volksentscheid die Europäische Union zur Zielscheibe, die Euroskeptiker wollten lediglich ihre Schlagkraft und ihr Mobilisierungspotenzial testen. Dann folgte der Brexit, der in der EU ein veritables Beben verursachte. ... Das ungarische Referendum war zwar ungültig, indes pflichteten 98 Prozent der beteiligten Bürger der populistischen Hetze der Regierung von Viktor Orbán gegen Flüchtlinge und Einwanderer bei. ... Der vorläufig letzte Erfolg von Demagogie und Populismus ist nun der Triumph Trumps.“
Nur ein Land hält noch dagegen
Nach dem Sieg von Donald Trump ist Deutschland das letzte moralische Vorbild für die westliche Welt, lobt Publizist Joris Luyendijk in NRC Handelsblad:
„Ein dreifaches Hurra für die deutschen Eliten. Es ist nicht so, dass es in Deutschland keine politischen Glückssucher, Scharlatane, Verschwörungstheorien verbreitende Hetzer oder Neonazis gäbe. Im Gegenteil. ... Doch den deutschen Eliten der Nachkriegszeit gelingt es immer noch, den charismatischen Irrlichtern, Zynikern und rassistischen Demagogen keine Bühne zu geben. ... Deutsche Politiker sind Teamspieler, die sich von ihrem Verantwortungsbewusstsein leiten lassen. Jahrzehntelang verachteten angelsächsische Kommentatoren und Journalisten diese Konsens-Politik: langweilig und grau. Inzwischen kennen wir die Alternativen. Wer Demokratie als Teil der Unterhaltungsindustrie behandelt, der bekommt Trump und Brexit. Das ist die Lektion des Jahres 2016.“
Die Quittung für die Ignoranz der Etablierten
Die etablierten westlichen Parteien haben den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft aufs Spiel gesetzt und müssen sich nun nicht wundern, wettert der Historiker Ernesto Galli della Loggia in Corriere della Sera:
„Sozialdemokraten wie Konservative haben den Ernst der Lage nicht nur sehr spät begriffen, sondern wussten auch nicht, wie sie reagieren sollten, als sie es im Zuge der Finanzkrise 2008 endlich kapiert haben. ... Statt nach neuer Motivation und neuen Formen des kollektiven Zusammenlebens in der Krise zu suchen, haben Rechte wie Linke de facto die Auflösung des sozialen Zusammenhalts weiter begünstigt. Sie haben sich in der Regel auf die Seite der 'Großen' geschlagen und den kulturell rückständigeren, demographisch älteren, geographisch peripheren und ärmeren Teil der Bevölkerung vernachlässigt. Sie haben die Rechte des emanzipierten Individuums über die Identität des kleinen Mannes von der Straße gestellt. ... Dabei haben sie vergessen, dass im Moment der Wahlen der Mann von der Straße rein zufällig die Mehrheit bilden kann.“
Trumps Gegner sind die wahren Fanatiker
Nach Trumps Wahlsieg den Untergang des Abendlandes zu predigen, sieht den Linken mal wieder ähnlich, schimpft Kolumnistin Melanie Phillips in The Times:
„Trumps Sieg werde Hass, rassistische Gewalt und das Ende der Demokratie bringen, wird behauptet. Doch die Opfer von Hass und rassistischen Angriffen sind die Anhänger Trumps. ... Das Ziel der Linken ist es nicht, Ignoranz und Fanatismus zu bekämpfen, sondern Macht und Kontrolle zu erlangen. Seit Jahrzehnten versuchen Liberale, jeglichen Widerstand gegen die revolutionären Versuche der Linken niederzutrampeln, die Gesellschaft nach deren Vorstellungen umzuwandeln. Der Brexit-Trump-Volksaufstand hat ihnen die erste schwere Niederlage zugefügt. Die Linken präsentieren sich selbst gerne als Gemäßigte und die wahren Gemäßigten als Extremisten. Was wir nun sehen ist die Gegenrevolution der Bürger - ein Versuch, die Politik ins wahre Zentrum der kulturellen Schwerkraft zurückzuführen.“