Schlittert Italien in eine Regierungskrise?
Nach dem Nein im Verfassungsreferendum hat Premier Matteo Renzi sein Rücktrittsgesuch bei Präsident Mattarella eingereicht. Renzi soll bis zum Antritt einer neuen Regierung aber kommissarisch im Amt bleiben. Kommentatoren fürchten, dass Italiens Probleme nur schwer zu bewältigen sein werden und fordern Neuwahlen unter einer Bedingung.
Italiens Probleme sind kaum zu bewältigen
Nach Griechenland ist jetzt Italien der neue "kranke Mann" der EU, meint Új Szó:
„63 Regierungen hat Italien seit 1946 gehabt. Dies hat mit dem politischen System zu tun, das aufgrund der historischen Erfahrungen mit dem Faschismus unter Mussolini der Regierung enge Grenzen setzt. ... Angesichts dieser Konstruktion des Systems sind wirtschaftliche und politische Reformen kaum umsetzbar. ... Die Staatsverschuldung ist innerhalb der EU nur in Griechenland höher, die italienischen Banken müssen Kredite in Höhe von unglaublichen 360 Milliarden Euro eintreiben. ... Neben den wirtschaftlichen Problemen wird das Land auch immer wieder von Hochwassern und Erdbeben heimgesucht. ... Wir haben gesehen, mit welchen Anstrengungen die Rettung Griechenlands verbunden war. In Italien sind die Probleme so groß, dass praktisch kein finanzielles Rettungspaket helfen kann.“
Überstürzte Neuwahl vermeiden
Eine Neuwahl ist sinnvoll, aber nicht um jeden Preis, meint Corriere della Sera:
„Die Streitigkeiten der Referendumskampagne dürfen nicht fortgesetzt werden, als ob eine Parlamentswahl nur die nächste Runde im Kampf der vergangenen Monate wäre. Zwischen einer baldigen Wahl, die wünschenswert ist, und einer übereilten Wahl, die um jeden Preis verhindert werden muss, gibt es einen gewaltigen Unterschied. Erstere würde stattfinden, nachdem sich die Spannungen zwischen den Parteien gelegt hätten, das Land wieder ausgesöhnt und ein neues Wahlgesetz verabschiedet wäre, das die Vorgaben des Verfassungsgerichts befolgt und das Gleichgewicht zwischen Parlament und Senat wieder herstellt. ... Bei Letzterer würde das Land gespaltener denn je zur Wahl gehen. ... Vor allem bestünde erneut die Gefahr, dass ein Parlament zusammentreten würde, das das Ergebnis eines Wahlkampfes wäre, der von Populismus geprägt ist.“
Für Renzi ist nicht aller Tage Abend
Trotz des angekündigten Rücktritts könnte der gewiefte und junge Noch-Premier in einigen Jahren gestärkt zurückkehren, analysiert der Politologe Béla Galló auf dem Blogportal Mozgástér:
„Renzi entfloh einer reformfeindlichen Stimmung in der Gesellschaft, um das absehbare Chaos nach seinem Abgang womöglich für eine im moralischen Sinne triumphale Rückkehr zu nutzen. In Italien sind heute immer mehr seriöse Stimmen zu hören, die ernsthaft davon ausgehen, dass Renzi, der in strategischer Hinsicht als listiger Politiker gilt und noch sehr jung ist, nun auf Zeit spielt, um auf seine nächste Chance zu lauern. Die Umstände spielen ihm jedenfalls in die Karten. Zu seinem Glück kann die Opposition keine tragfähige Regierungsalternative aufbieten. Und sollte jetzt eine Expertenregierung ans Ruder kommen, müsste nicht er für die negativen Reaktionen auf schmerzhafte Reformen den Kopf hinhalten.“
Blicke richten sich auf italienische Banken
Nach dem Referendum rücken nun die schwach aufgestellten italienischen Banken in den Fokus, erwartet Hämeen Sanomat:
„Noch vor einigen Jahren hätte eine unklare politische Situation in Europas drittgrößter Wirtschaft große politische Turbulenzen verursacht. Diesmal hat die demokratische Entscheidung die Märkte nicht erschüttert. Die Reaktion war schon bekannt: Nach der Brexit-Entscheidung war zu sehen, dass Unsicherheiten nicht zwangsläufig zu Kurs- und Börsenschwankungen führen. Nach der Abstimmung ist sicher, dass sich die Blicke nun auf den Bankensektor in Italien richten, dessen Zustand als schwach beschrieben wird. Die Reformen von Ministerpräsident Renzi hätten die Kapitalisierung der Banken nach marktwirtschaftlichen Bedingungen erleichtern können, aber diese Chance ist nun verpasst.“
Helfen bringt mehr als Schwarzsehen
Vor übertriebenem Pessimismus nach dem Italien-Referendum warnt Sme:
„Gerade hat Österreich bewiesen, dass manches auch über Erwarten gut ausfallen kann. Das Szenario Italiens muss nicht so ausfallen wie das Griechenlands. Wer nach dem Brexit dachte, dass die Briten bis Ende des Jahres den Wunsch nach dem EU-Austritt offiziell anmelden, lag auch falsch. Renzi und die Sozialisten überschätzten womöglich ihre Kraft, werden aber nicht so einfach aus der Politik ausscheiden. ... Auch Mittelosteuropa kann Italien helfen. Beispielsweise damit, dass wir aufhören, über 'flexible Solidarität' zu reden und stattdessen tatsächlich helfen - mit Geld, Material und Menschen in italienischen Flüchtlingsunterkünften. Wir könnten auch ein paar Hundert Asylsuchender aufnehmen. So könnten auch wir dazu beitragen, dass aus der 'italienischen Krise' erst gar keine wird.“
Über das Reform-Aus ist Freude angebracht
Europa sollte sich über die Ablehnung von Renzis Reform freuen, meint die Berliner Zeitung:
„Wir neigen dazu, die Dinge zu schnell in zu großen Zusammenhängen zu sehen. Die Abstimmung über Renzis Reformprojekt hat nichts mit dem Brexit und nichts mit dem Sieg Trumps in den USA zu tun. Allenfalls damit, dass Wähler manchmal die Chance nutzen, sich zu wehren. Und auch sich zu irren. Wir sollten uns freuen über die Abfuhr, die Renzis Reformvorschlag erhielt. Nicht, weil wir gegen Reformen sind, sondern, weil wir gelernt haben, dass wir Reformen von Reformen unterscheiden müssen. Renzis Versuch, eine Vollmacht zum Durchregieren als moderne Reform zu verkaufen, ist gescheitert. Jetzt kommt es darauf an, das, was getan werden muss, zu tun, ohne den Bürger für blöd zu verkaufen und seine Interventionsmöglichkeiten noch weiter einzuschränken. Die Parole muss in Italien und in Europa - gerade in Zeiten des Populismus - wieder einmal lauten: Mehr Demokratie wagen!“
Renzis Reformen hätten nichts gebracht
Mit den geplanten Reformen hätte Premier Renzi die Probleme des Landes ohnehin nicht gelöst, meint Helsingin Sanomat:
„Das Abstimmungsergebnis ist gut. Renzis Reform hätte die Macht auf gefährliche Weise konzentriert und nicht wirklich die wirtschaftlichen Probleme des Landes gelöst. Es ist nicht sinnvoll, das italienische Referendum so wie den Brexit oder Trumps Sieg als Ohrfeige der Populisten für die Elite zu sehen, zumindest nicht in diesem Ausmaß. … Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf ist niedriger als 1997. Italiens große Probleme sind zum Beispiel die hohe Arbeitslosigkeit, die mit Ramschpapieren belasteten Banken, das schwache Bildungssystem, die geringe Produktivität aufgrund fehlender Investitionen, die niedrige Beschäftigungsrate der Frauen, die starre und korrupte Verwaltung sowie zu einem gewissen Grad die Inflexibilität des Arbeitsmarkts. … Doch Renzis Reformen hätten diese Leiden nicht geheilt.“
EU verliert wichtigen Politiker
Das Ergebnis könnte für den Kontinent fatal sein, glaubt Rzeczpospolita:
„Die spektakuläre Niederlage beim Referendum über die Reform des politischen Systems in Italien ist eine existenzielle Bedrohung für die EU. Italien hat sich seit rund zehn Jahren kaum verändert. Und es versinkt geradezu in Schulden. Trotzdem wollten sechs von zehn Wähler lieber ihre Frustration darüber rauslassen, dass sich ihre Lebensbedingungen verschlechtert haben, als die notwendigen Veränderungen zu unterstützen. Sie haben für eine exotische Koalition gestimmt, die der Populist Beppe Grillo mit dem Milliardär Silvio Berlusconi sowie dem Separatisten Matteo Salvini und dem liberalen Professor Mario Monti gebildet haben. Dabei hat diese Gruppe überhaupt kein alternatives Programm zu bieten. ... Italiens Premier war hingegen einer der letzten Anführer der Gemeinschaft, der sich für ein föderales Europa eingesetzt hat. Er hatte sogar erklärt, dass er bereit ist, weitere Kompetenzen an Brüssel abzutreten.“
Technokraten müssen mal wieder Italien retten
In der aktuellen Situation bleibt Italien nach Ansicht von Le Monde wieder einmal nur ein Ausweg:
„In früheren Zeiten wäre der Sturz Renzis nur ein kleinerer Zwischenfall in der römischen Politik gewesen. Die Finanzmärkte sind erschöpft und nervös und die angeschlagenen italienischen Banken schwächen den Euro. Eine Machtübernahme durch Beppe Grillo wäre eine Katastrophe, doch so weit ist es in Italien noch nicht gekommen. Es ist allerdings nicht möglich, schnell Neuwahlen auszurufen, da ein gültiges Wahlgesetz fehlt. Italien sollte daher eine Technokraten-Regierung einsetzen, so wie nach dem Sturz Berlusconis 2011 Mario Monti und 2013 aus Mangel an einer klaren Mehrheit Enrico Letta mit den Regierungsgeschäften beauftragt wurden. Italien macht dies zwar zu oft. Es ist das Symptom eines Landes mit kranker Demokratie. Kurzfristig ist es jedoch die einzige Lösung, um einen erneuten Sprung ins Ungewisse zu verhindern.“
Renzis riskantes Spiel mit dem Referendum
Italiens Premier ist ein großes Risiko in fragilen Zeiten eingegangen, analysiert Le Point:
„Italien vereint alle Faktoren, die den Populismus gedeihen lassen: ökonomische Stagnation, Verarmung der Bevölkerung, Krise des Mittelstands, Identitätskrise, zunehmende Bedrohung der Sicherheit. So ist das Land zum idealen Nährboden für Populisten geworden, von Beppo Grillos Movimento Cinque Stelle bis zur Lega Nord. Nun ist es das Schreckgespenst des Populismus, das das Referendum vom 4. Dezember heimsucht. Daran zeigt sich, welches Risiko Renzi eingegangen ist, indem er das Referendum in ein Plebiszit über sein Handeln verwandelt hat und seinen Rücktritt im Fall eines Misserfolgs angekündigt hat. Er hat sich zum Sündenbock für das große Unbehagen der Italiener gemacht.“
Tödlicher Schlag für die EU?
Sollte es nach Renzis Rücktritt zu einer Neuwahl kommen, rechnet der italienische Autor Mario Margiocco in Jornal de Negócios mit dem Schlimmsten:
„Die eurokritische Fünf-Sterne-Bewegung und die rechtspopulistische Lega Nord sind keine Verbündeten, aber beide nähren ein Anti-System-Gefühl und fordern 'nationale Lösungen' für italienische Probleme - angefangen bei einer Rückkehr zur Lira. Wenn es eine Neuwahl gibt, könnten beide ihre Kräfte bündeln und eine neue Regierung unterstützen, die ein Referendum über den Verbleib Italiens in der EU abhalten könnte. Und ein Austritt Italiens könnte sich als ein tödlicher Schlag für das EU-Projekt herausstellen. ... Wie im Vereinigten Königreich und in den USA ist 'Veränderung' das derzeitige Zauberwort auch in Italien. Doch niemand will sich dem Wandel ernsthaft stellen. ... 'Ändert nicht nur die Verfassung, ändert alles!, forderte die Nein-Kampagne. Doch alles verändern zu wollen, ist letztlich auch nur ein Weg, alles beim Alten zu lassen.“
Ein Theater der Angstmacherei
Die ständige Ankündigung von Katastrophen ist übertriebene Schwarzmalerei - auch im Fall Italiens, findet Jutarnji list:
„Das italienische Referendum wurde als gefährlich bewertet, weil die Regierung in Rom fallen könnte. So ein Unsinn! Als ob es die erste Regierung Italiens wäre, die gestürzt wird. Ganz im Gegenteil gehört Renzi zu der Gruppe der Langlebigen im italienischen System der 'stabilen Instabilität'. 'Ja, aber wenn Renzi geht, kommt der antieuropäische Beppo Grillo!' Ach was, und sonst käme er nicht? Grillo kommt ohnehin spätestens bei der Wahl im Frühjahr 2018 an die Macht, wenn sich nicht dramatisch etwas ändert. So ist das ganze Theater ein Produkt der Angstmacher, die - nachdem die Griechen nicht die Eurozone verlassen haben, die EU nach dem Brexit nicht auseinandergefallen ist - noch schnell ein neues Panikszenario entfachen wollten, bevor sie uns mit Trumps Einzug ins Weiße Haus und der Entscheidung über das politische Schicksal Merkels angst und bange machen.“
Das Volk sehnt sich nach Sicherheit
Die linke Tageszeitung Il Fatto Quotidiano war einer der Hauptgegner der Verfassungsreform. Stefano Feltri, Vize-Direktor des Blatts, sieht in der Ablehnung der Reform einen Sieg des Volks, nicht der Anti-Politik:
„Rechnen wir die Stimmen der beiden sogenannten anti-systemischen Parteien, Movimento Cinque Stelle und Lega Nord, zusammen, kommen wir auf knapp über 40 Prozent. Der Prozentsatz des Nein zur Verfassungsreform ist aber viel höher. Das zeigt, dass sich die Ablehnung der Reform (oder die Ablehnung von Renzi) nicht mit den extremen Positionen überlagert. ... In einer immer dunkleren und ungewisseren Welt haben die Italiener entschieden, Schutz hinter den wenigen Barrieren, die noch geblieben sind, zu suchen. Barrieren, die errichtet wurden, um Werte zu verteidigen, die jetzt infrage gestellt werden. Barrieren, die von der Verfassung errichtet wurden, von Gelehrten, von jener Bürgerreligion, die den Zusammenhalt des Staats und der Gesellschaft gewährleisten. Ein weiterer Grund für die Niederlage ist, dass Renzi die Agenda des Landes seiner eigenen geopfert hat.“