Nato-Gipfel: Steht Europa in der Schuld?
Kurz vor Beginn des Nato-Gipfels in Brüssel hat US-Präsident Trump von den Europäern erneut gefordert, die Militärausgaben zu erhöhen. Einige Kommentatoren sind der Ansicht, dass Trumps Kritik im Kern richtig ist. Andere wünschen sich eine moderne Definition von Verteidigungspolitik jenseits der Aufstockung von Wehretats.
Osteuropäer verstehen Trumps Forderung viel besser
Die westeuropäischen Länder glauben im Gegensatz zu den Osteuropäern immer noch, dass der Schutz durch die Nato etwas Selbstverständliches sei, meint Journalist Horațiu Pepine vom Rumänischen Dienst der Deutschen Welle:
„Diese Sichtweise stammt noch aus der Zeit direkt nach dem Zweiten Weltkrieg, als das Engagement der USA noch als Zivilisationsbewahrung und humane Gesinnung verstanden werden konnte. Westeuropa hat jahrzehntelang von dieser Perspektive profitiert, bis es dachte, es müsse gar nichts mehr tun. ... US-Präsident Trump hat Recht, ganz gleich, wie unerfreulich das für die politischen Führer aus dem Westen ist. Wie zu erwarten war, haben vor allem die Osteuropäer die Botschaft zuerst verstanden: Polen, Rumänien und Estland [zählen zu den Staaten, die das Zwei-Prozent-Ziel erreicht haben].“
Nicht mehr auf US-Kavallerie verlassen
Trumps Kritik an zu geringen Wehrausgaben ist berechtigt, meint der Brüssel-Korrespondent von La Stampa, Stefano Stefanini:
„Europa lebt von einer Sicherheitsrente, die von den USA garantiert wird. Dies ist ein unhaltbares Paradigma, derweil sich die USA vom Nahen Osten bis zum Pazifik auch an anderen Fronten militärisch engagieren müssen. Die 'Friedensdividende' der Zeit nach dem Kalten Krieg ist aufgebraucht. Es ist schwer zu erklären, geschweige denn zu rechtfertigen, dass Länder wie Deutschland, Italien oder die Niederlande nicht bereit sind, das auszugeben, was für eine glaubwürdige Verteidigungsfähigkeit nötig ist. Nicht weil Trump dies brutal fordert, sondern damit Europa seine Sicherheit garantieren kann. In einer Welt, in der die Bedrohungen zunehmen, sollte Europa aufhören, sich auf die US-Kavallerie zu verlassen.“
Trump legt den Finger in die Wunde
Dem nicht gerade zaghaften Umgang des US-Präsidenten mit seinen europäischen Nato-Partnern kann Le Temps auch etwas Positives abgewinnen:
„Trump zwingt die Nato-Staaten dazu, sich die unangenehmen Fragen zu stellen: selbstverständlich die nach den Bedrohungen, insbesondere mit Blick auf Terrorismus, Russland, China und Cyberattacken. Sowie die Fragen nach einer eigenständigeren europäischen Verteidigung, Industriepartnerschaften und nach gemeinsamen Programmen für Waffentechnologien. ... Die lügenhaften Vorwürfe, für die Trump bekannt ist, rufen uns in Erinnerung, was die Nato trotz ihres unbestreitbaren Beitrags zum Frieden auf dem europäischen Kontinent seit 1945 eigentlich ist: ein Bündnis Ungleicher mit einem Boss in Washington, dessen Prioritäten abhängig von der Person im Weißen Haus und den Bedürfnissen der Industrie variieren.“
Zeit für eine moderne Verteidigungspolitik
Einen grundlegenden neuen Ansatz in der Verteidigungspolitik fordert die taz:
„Es wäre ein richtiger Schritt, das Gefängnis des Zwei-Prozent-Ziels aufzubrechen. Eine moderne Verteidigungspolitik misst sich nicht nur an Panzern und Kampfflugzeugen, für deren Finanzierung zwei Prozent des Bruttoinlandprodukts der jeweiligen Länder verwendet werden. Die USA selbst zahlen ihre Verpflichtungen etwa gegenüber der Uno genauso wenig. Moderne Verteidigungspolitik würde vielmehr das erfüllen, was in der Migrationsdebatte so vehement eingefordert wird. Es hieße, Geld dort zu investieren, wo Krieg, Verfolgung oder Not die Menschen vertreiben. Angesichts der Fluchtbewegungen, der sterbenden Menschen im Mittelmeer und des Aufschwungs für rechts außen ist es Zeit für eine moderne Definition von Verteidigungspolitik.“
Gipfel entscheidend für Sicherheit in Europa
Der Tageszeitung Lietuvos žinios machen Trumps Aussagen große Sorgen:
„Der Westen war schockiert, als Trump während des G7-Gipfels die Krim als Teil Russlands beschrieb und sich für eine Wiederaufnahme Russlands in den Klub aussprach. Nun erscheinen zudem Artikel, in denen man daran zweifelt, ob es sich wirtschaftlich lohnt, Europa - also auch die baltischen Staaten - militärisch zu schützen, und gefordert wird, keine US-Soldaten mehr hierher zu schicken. Sollten solche Vorschläge realisiert werden, bleiben von der Nato nur Trümmer. Für die Sicherheit unseres Landes gab es wohl seit 2004, als Litauen der EU und der Nato beitrat, keine entscheidenderen Tage mehr. Wird die Nato sich auf dem Gipfel stark oder innerlich geschwächt präsentieren? Wie verhalten sich die USA? Davon kann die künftige Politik Putins in unserer Region abhängen.“
Trump macht sich zum Handlanger Putins
Die Republikaner sehen ungerührt dabei zu, wie der US-Präsident die westliche Allianz untergräbt, empört sich The New York Times:
„Indem Donald Trump das Fundament des Bündnisses, wenn nicht gar die Idee überhaupt eines Bündnisses torpediert, zerstört er all das Vertrauen unserer Verbündeten, das sich die USA über Jahrzehnte erarbeitet haben. Damit tanzt Trump - ob bewusst oder nicht - nach der Pfeife Wladimir Putins, der es sich zum Ziel gesetzt hat, den Westen zu spalten. ... Bei den US-Republikanern hat die Unterstützung in Fragen der nationalen Sicherheit und für demokratische Verbündete lange Tradition. Daher würde man erwarten, dass führende Republikaner im Kongress die Stimme erheben. Doch sie ziehen vor Trump ängstlich den Kopf ein und schweigen lieber, während er die Allianzen der USA untergräbt.“
Wo Deutschland die USA sehr wohl unterstützt
Trump sollte sich mit seinen Forderungen und Drohungen nicht zu weit aus dem Fenster lehnen, findet Právo:
„Das betrifft beispielsweise die Spekulationen, dass Trump den Abzug eines großen Teils der 35.000 Soldaten aus Deutschland erwäge, weil die zu teuer seien und Deutschland sich gleichgültig dazu verhalte. Die USA hatten stets ein ganz eigenes Interesse an ihrer militärischen Anwesenheit in Europa und Deutschland, die überdies den US-Operationen im Nahen Osten dient, zum Beispiel mit der Luftwaffenbasis Ramstein oder dem Militärhospitalkomplex in Landstuhl. Berlin gewährt hier Vorteile, weil es - nach einer Analyse der [US-Denkfabrik] Rand Corporation - etwa ein Drittel der Ausgaben des Pentagon für den Aufenthalt selbst deckt.“
Russland als Raison d'être
Die Existenz der Nato in Frage gestellt sieht Les Echos:
„Gewiss haben die Amerikaner die multilateralen Organisationen (Nato, Uno) stets als Werkzeugkisten betrachtet, die nützlich sind, wenn sie sie wirklich einmal brauchen. Auf dem Gipfel am 11. und 12. Juli in Brüssel wird es jedoch schwierig sein, der Existenzfrage für die Nato auszuweichen. Ist die Organisation überlebensfähig? Der Warschauer Pakt, der die Ex-UdSSR mit den früheren Volksdemokratien in Mittel- und Osteuropa verband, hat sich 1991 aufgelöst. Die Nato verdankt ihr Überleben der Aggressivität Russlands. Doch für wie lange noch?“
Es geht nicht mehr um Freiheit und Demokratie
Die Konzeption der Nato wird sich ändern müssen, betont Außenpolitik-Experte Miguel Monjardino in Expresso:
„Die Atlantische Allianz, wie wir sie aus den letzten Jahrzehnten kennen, nähert sich ihrem Ende. ... Ein Hauptproblem ist, dass die europäischen Verbündeten 'konzeptionelle Gefangene' der Periode 1945 - 1989 geblieben sind, und sich keine Zukunft vorstellen können, die davon abweicht. ... Trump repräsentiert ein Land, das meint, dass Washington viel zu viel zahle, um das Bündnis aufrechtzuerhalten. Und viele Amerikaner - egal ob links oder rechts - stimmen mit Trump in diesem Punkt überein. Was das Weiße Haus und den US-Kongress heute interessiert, ist kein Gerede über 'Werte', 'Freiheit' und 'Demokratie', sondern die tatsächliche Einsatzbereitschaft und die militärischen Fähigkeiten der europäischen Streitkräfte.“
Trump bedeutet immer Gefahr
Warum die Nato sorgenvoll auf den anstehenden Gipfel blickt, erklärt Diena:
„Es ist klar, dass die wachsende Konfrontation zwischen der Regierung von Präsident Trump und Europa auf die Zusammenarbeit innerhalb der nordatlantischen Allianz Einfluss haben wird. Ebenso hat niemand die negative Haltung des US-Präsidenten gegenüber der Nato zum Start seiner Präsidentschaft vergessen. Auch wenn sich im Verlauf des ersten Jahres seiner Amtszeit diese Haltung offiziell geändert hat, geschah das nur aufgrund innenpolitischer Bedenken. Deshalb besteht jetzt die berechtigte Sorge, dass Trump bei erster Gelegenheit zu seiner ursprünglichen Position zurückkehrt.“
Es braucht ein Bündnis im Bündnis
Die Süddeutsche Zeitung sieht das Militärbündnis ernsthaft gefährdet und fordert eine stärkere Verantwortung Europas:
„Die Nato wird die Präsidentschaft Trumps nur dann überstehen, wenn es so etwas wie ein Bündnis im Bündnis gibt zwischen der immer noch starken politisch-militärischen Nato-Lobby in den USA sowie den Europäern und Kanadiern in der Allianz. Die entscheidende Frage wird sein, ob das Verteidigungsbündnis genügend Verteidiger findet. ... Nicht um diesem amerikanischen Präsidenten zu Diensten zu sein, müssen die Europäer jetzt einen viel stärkeren Teil der Verantwortung und der Last übernehmen, sondern um ihm einigermaßen selbstbewusst entgegentreten zu können. Wer Europa wirklich schützen will, muss die Nato retten.“
Deutschland muss militärisch mehr leisten
Vor dem Nato-Gipfel hat US-Präsident Trump Deutschland scharf angegriffen, weil es seine finanziellen Pflichten nicht erfüllt. Berlingske kann diese Kritik nachvollziehen:
„Deutschland ist das schwächste Glied der Nato, obwohl es die ökonomisch stärkste Nation der EU ist. Das alte Mantra, dass die Nato seinerzeit gegründet wurde, um Russland draußen, die USA drin und Deutschland unten zu halten, gilt nicht mehr. Die Europäer brauchen ein Deutschland, das die Last tragen kann, wenn Europa ernsthaft bedroht ist. Nicht wie jetzt, wo die Deutschen sich mit großem Eifer sicherheitspolitisch in einer verteidigungspolitischen Zusammenarbeit in der EU engagieren, wo aber der Wille, sich auch in tatsächlichen militärischen Operationen zu beweisen, kaum auf den Prüfstand kommen wird. Es ist nämlich die Nato, die in den Krieg zieht. Und hier muss Deutschland einen Beitrag leisten.“