Europa und die Krise an der griechischen Grenze

Seit über einer Woche gehen die griechische Polizei und paramilitärische Einheiten an der Grenze zur Türkei mit Tränengas und Wasserwerfern gegen Flüchtlinge und Migranten vor. Nach der Öffnung der Grenzen durch die Türkei hoffen Tausende Menschen, nach Europa zu gelangen. Europäische Pressestimmen fordern nun vernünftige Strategien sowohl von Brüssel als auch auf nationaler Ebene.

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Times of Malta (MT) /

EU so planlos wie 2015

Dass die EU-Kommissarin für Inneres, Ylva Johansson, bei einem Besuch in Malta vor zwei Wochen keine konkreten Maßnahmen im Gepäck hatte, alarmiert The Times of Malta:

„Obwohl sie anerkannte, dass die Umverteilung [von Flüchtlingen] zwischen Staaten 'ein wichtiger Bestandteil des europäischen Ansatzes für Migrations- und Asylpolitik' sei, hatte sie keine konkreten Vorschläge zu unterbreiten. Johannsson ist die zuständige EU-Kommissarin in einer Situation, in der politische Ereignisse, die sich auf die Migration im zentralen und östlichen Mittelmeer auswirken, auf globaler Ebene unkontrolliert eskalieren. Für einen Frontstaat wie Malta ist es ein großer Anlass zur Sorge, wenn es Europa offenbar erneut an Plänen, Mechanismen oder dem politischem Wille zum Handeln fehlt.“

Dromos tis Aristeras (GR) /

Die Türkei macht Thrakien zur politischen Grauzone

Die Grenzregion Thrakien wird von Ankara gezielt destabilisiert, warnt die Wochenzeitung Dromos tis Aristeras:

„Die Βesiedlung mit Bevölkerungsgruppen aus dem Nahen Osten und die Umwandlung des Gebiets in eine Zone, in der Armeen, NGOs, Geheimdienste, paramilitärische Gruppen, Frontex und andere tätig sind, weist auf eine turbulente Zukunft hin. ... Was gerade abläuft, ist in Handbüchern zur Destabilisierung ganzer Regionen zu finden. Die Situation ähnelt dem Vorlauf der Balkankrise im Kosovo. Erdoğans Bewegungen folgen demselben Muster wie die, die seine Intervention in Syrien vorbereitet haben, mit den dort vertriebenen Bevölkerungsgruppen als Waffen und Alibi.“

Berlingske (DK) /

Einen kühlen Kopf behalten

In Dänemark fordern zwei rechtspopulistische Oppositionsparteien von der rot-grünen Regierung, die Grenze zu Deutschland sofort für Asylsuchende zu schließen. Berlingske hält davon wenig:

„Vielleicht ist es ja die Komplexität des Problems, die Politiker in Panik und Populismus verfallen lässt. Aber das ist das Letzte, was wir jetzt brauchen. Es ist daher lobenswert, dass die Regierung einen kühlen Kopf behält und darauf fokussiert, wie Dänemark bestmöglich zur Sicherung der EU-Außengrenzen beitragen kann. ... Zudem muss man betonen, dass die Flüchtlinge bislang nicht in Europa angekommen sind. [Die Behauptung], die EU sei seit der Krise von 2015 untätig gewesen, ist schlicht falsch. Die EU-Außengrenzen sind in den letzten Jahren beträchtlich gestärkt worden, was sich jetzt nicht zuletzt in Griechenland zeigt. Am Ziel sind wir freilich noch nicht.“

Mediapart (FR) /

Ganz Europa versagt kläglich

Die gesamte EU macht sich zum Komplizen illegaler Praktiken Griechenlands, schimpft Uno-Menschenrechtsexpertin Agnès Callamard im Gespräch mit Mediapart:

„Die verwendete Pushback-Methode [bei der Migranten an der Grenze zurückgedrängt werden] ist von der Genfer Konvention und von Menschenrechtskonventionen untersagt. Griechenland ist in Bezug auf das internationale Recht in einer absolut rechtsfreien Situation, da - rufen wir dies in Erinnerung - es sich nicht in einem bewaffneten Konflikt befindet und die Umstände den ausgerufenen Notstand nicht rechtfertigen. ... Griechenland bricht internationales Recht, ich mache aber auch der europäischen Zuwanderungspolitik Vorwürfe. Man kann nicht Griechenland kritisieren, ohne die Gesamtheit der europäischen Staaten zu kritisieren, die ebenfalls Verantwortung tragen.“

Cyprus Mail (CY) /

Jedes Land würde handeln wie Griechenland

Dass Griechenland sich solcher Kritik von außen nicht beugen darf, fordert hingegen Cyprus Mail:

„Griechenland wurde wegen der gewaltsamen Zusammenstöße zwischen Migranten und seinen Sicherheitskräften kritisiert, aber hätte ein anderer EU-Mitgliedstaat anders gehandelt? Hätten Ungarn, Österreich oder Polen 10.000 oder 20.000 an ihren Grenzen versammelte Migranten aufgenommen? Österreichs Ministerpräsident Sebastian Kurz hat gesagt, dass seine Regierung die Grenzen des Landes verstärkt hat, so dass es keine Wiederholung des Massenzustroms von Flüchtlingen und Migranten im Jahr 2015 geben werde. ... Schwer zu sagen, was geschieht, aber Griechenland sollte in seiner Position standhaft bleiben, ungeachtet der Kritik internationaler Organisationen wie der Uno und des Europarates.“

Der Standard (AT) /

Sündenbock Erdoğan

Den türkischen Präsidenten für seine Grenzöffnung nur zu verurteilen, ist zu einfach, findet Der Standard:

„Der Vorwurf, dass Erdoğan die EU erpresse, ist fehl am Platz. Bei aller Kritik an der Form steckt hinter seiner Aktion ein legitimes Interesse: Die Türkei braucht mehr Hilfe, um mit den Flüchtlingsmassen - knapp vier Millionen im Land, viele weitere jenseits der Grenze zu Syrien - zurande zu kommen. Es ist ja nicht so, dass dieser Zustrom allein mit Erdoğans Politik im Kriegsgebiet zu erklären ist. ... Die EU hat ein vitales Interesse daran, dass diese Menschen gut versorgt sind, statt sich unkontrolliert nach Europa aufzumachen. Verantwortungsvolle Politik muss deshalb die Verständigung suchen, in Gestalt eines erneuerten Flüchtlingsdeals mit der Türkei.“

Yeni Şafak (TR) /

Die Flüchtlinge sind auch euer Problem!

Europa darf nicht länger die Augen vor den Tragödien im Nahen Osten verschließen, wird Yeni Şafak noch deutlicher:

„Wir appellieren an die Bürger, die Europas und Amerikas, die noch ein Herz haben! Wie viele Menschen werden Ihre Staaten durch Söldner und Technologien, die sie auf Erfolg testen, noch heimatlos und zukunftslos zurücklassen? Fragen Sie sich das zuerst selbst und dann Ihren Staat. Die Welt kann nicht so weitergehen. ... Jeder staatenlose Jugendliche, jedes Kind, dem die Zukunft gestohlen wird, ist auch eine Gefahr für das Leben Ihrer Kinder. Stellen Sie sich endlich dieser Tatsache! Während Sie die Türkei mit dem Druck des Kessels alleine lassen und von 'Menschenrechten' und 'Flüchtlingsrechten' reden, ist es nicht mehr möglich, Ihre ach so humanitäre Maske unbeschädigt vor Ihr Gesicht zu halten! “

Seznam Zprávy (CZ) /

Unsere Kinder werden den Zynismus nicht verstehen

So notwendig die Abschottung Europas scheint, so hart wird die Geschichte dafür über die Europäer richten, heißt es bei Seznam Zprávy:

„Wenn sich ein großer Teil der Europäer für Menschlichkeit nicht interessiert und bereit ist, Extremisten zu wählen, die die schlimmsten Motive der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts verkörpern, bleibt nur, dies zynisch zu akzeptieren und sich danach zu richten. ... Der pragmatische neue Zugang zur Migrationsfrage wird logischerweise auch die Apathie gegenüber dem Leid der Kriegsflüchtlinge verstärken. Das ist der Preis dafür, dass Extremisten und Populisten ihre Munition genommen wird. Die Geschichte freilich wird uns dafür nicht loben. Und unseren Kindern werden wir das nur schwer erklären können.“

Kathimerini (GR) /

Das nationale Interesse schützen

Der griechische Staat tut, was er tun muss, erklärt die regierungsnahe Kathimerini:

„Niemand will Familien verjagen und Kinder, die ihr Zuhause verloren haben und nach einer besseren Zukunft suchen. Niemand. Die Aufgabe eines Staates ist es jedoch, das nationale Interesse zu verteidigen, manchmal um jeden Preis. Außerdem stehen wir keiner einfachen humanitären Krise gegenüber, sondern einem mächtigen und rücksichtslosen Staat, der beschlossen hat, diese armen Menschen als Waffe zu benutzen, um Griechenland und Europa zu erpressen. … Für uns hat eine Zeit schwerer, unvorhersehbarer und asymmetrischer Bedrohungen begonnen. Um mit ihnen fertig zu werden, brauchen wir einen Staat, der professionell und - manchmal - hart handelt.“

Lost in EUrope (DE) /

Nun ist die EU auf Linie von Orbán und Salvini

Orbán und Salvini dürften angesichts der Bilder von der griechisch-türkischen Grenze jubeln, meint Eric Bonse auf seinem Blog Lost in EUrope:

„Schwer bewaffnete Grenzen, vor denen Flüchtlinge mit Wasserwerfern und Tränengas zurückgedrängt werden. Und die EU-Spitze feiert das sogar noch mit einem Besuch vor Ort ... Vor allem Salvini darf sich bestätigt fühlen. Als er italienische Häfen für Hilfsboote sperrte, wurde er noch von Brüssel ermahnt. Nun macht Griechenland dasselbe, nur in viel größerem Maßstab. Und die EU-Kommission schweigt. Selbst auf mehrfache Nachfragen wollten sich von der Leyens Sprecher am Dienstag nicht zu der Frage äußern, ob kollektive 'Push-Backs' und die Aussetzung des Aslyrechts in Griechenland mit dem EU-Recht vereinbar seien. ... [E]s ist nicht nachvollziehbar, dass die EU-Kommission als 'Hüterin der Verträge' wegschaut oder Tage für eine Reaktion braucht.“

El Periódico de Catalunya (ES) /

Europas historischer Betrug

Die EU verspielt an der türkisch-griechischen Grenze jegliche moralische Glaubwürdigkeit, kritisiert El Periódico de Catalunya:

„Einer der großen Taschenspielertricks der Geschichte war es, dass dieses Europa, das sich zuvor tausend Arten ausgedacht hatte, sich innerhalb des Kontinents untereinander zu töten, und das den Rassismus, Chauvinismus, Kolonialismus und Völkermord erfand, sich nach Zweitem Weltkrieg und Holocaust zum Garanten der internationalen Menschenrechte aufschwang. Doch es war nur ein Betrug - wie sich jetzt herausstellt, wo das Problem nicht mehr innerhalb der eigenen Grenzen liegt, sondern in einem fernen Land. Das Europa der hochtrabenden Prinzipien ist zu einem schlichten Händler-Club verkommen und hat für die Flüchtlinge nur noch den Schild und das Mitleid von der Leyens übrig. Und nachher schauen wir dann verächtlich auf Donald Trump herab.“

Wiener Zeitung (AT) /

Die EU muss mit Assad verhandeln

Die EU sollte eine langfristige Lösung in Syrien anstreben, erläutert der freie Nahost-Reporter Markus Schauta in der Wiener Zeitung:

„Wenn europäische Politiker fordern, den Druck auf Bashar al-Assad und Wladimir Putin zu erhöhen, ... wird das Putin nicht beeindrucken. Weitere Sanktionen gegen Syrien würden in erster Linie die ... Bevölkerung treffen ... Assad hat den Krieg mit Hilfe Russlands gewonnen. Die einzige Möglichkeit, jetzt noch auf die Regierung in Damaskus einzuwirken, läuft über den Wiederaufbau, bei dem die EU ihre Hilfe an Bedingungen knüpfen kann. Vielleicht können ein Ende der Folter, ein paar Reformen und die Föderalisierung des Landes erreicht werden ... Es sind überschaubare Ergebnisse, aber zurzeit der einzige Weg, um ein Ende der syrischen Katastrophe einzuleiten. Doch dazu müsste die EU erst einmal direkte Gespräche mit der Regierung in Damaskus aufnehmen.“

Zeit Online (DE) /

Existenzbedrohung für die EU

Dass die EU als kaltherzig kritisiert wird, findet Zeit Online unangemessen:

„'Schämt Euch!', so lautete zusammengefasst der Vorwurf. Er ist so massiv und gleichzeitig so diffus, dass eine politische Debatte nicht möglich ist. Die aber ist höchst notwendig. Die EU hat in den vergangenen Tagen ihre legitimen Interessen wahrgenommen. Dazu gehört, dass sie massenhafte, irreguläre Migration nicht dulden darf. Lässt sie es zu, dann setzt sie ihre eigene Existenz aufs Spiel. Diese eine Lehre hat die EU aus dem Jahr 2015 zumindest gezogen. ... Europa ist deswegen keine Festung ... . Über eine halbe Million Asylanträge haben die europäischen Staaten im vergangenen Jahr angenommen, 2015 waren es 1,3 Millionen. Allein in Deutschland wurden 2019 über 165.000 Asylanträge gestellt. Kurzum: Aufnahme findet in Europa statt. Tagtäglich.“

Der Standard (AT) /

Es geht hier nicht um Grenzsicherung

Der Migrationsforscher Roland Hosner kritisiert hingegen in einem Gastkommentar in Der Standard die Darstellung, es gehe um den Grenzschutz:

„Die Darstellung, es gehe hier um den Schutz der EU-Außengrenzen ... ist eine Verdrehung der Tatsachen. Selbstredend ist es Aufgabe des Grenzschutzes, die Einreise von Personen zu prüfen und Personen ohne Einreiseerlaubnis, Aufenthaltstitel oder Asylgesuch zurückzuweisen. Wenn allerdings die große Mehrheit der Menschen, die da in der Kälte vor der griechischen Grenze ausharren, Geflüchtete aus Syrien, Afghanistan, Irak oder Iran sind, fällt dieses Argument in sich zusammen. Auch dass die Türkei zuständig wäre, ist rechtlich nicht haltbar, denn die Türkei ist kein sicherer Drittstaat - und wendet im Übrigen die Genfer Flüchtlingskonvention nicht auf diese Gruppen an.“

Jutarnji list (HR) /

Einer Großmacht unwürdig

Statt eine einheitliche Politik im Hinblick auf den Syrien-Konflikt zu betreiben, schmeißt die EU nur mit Geld um sich, schimpft Jutarnji list:

„Wann immer man die EU mit der Kritik konfrontiert, sie tue nicht genug, so wie jetzt für eine Lösung der Krise in Syrien, kommt aus Brüssel dieselbe Antwort: 'Die EU stellt am meisten finanzielle Mittel zur Verfügung.' ... Doch fragt man nach einem klaren Standpunkt, bekommt man keine Antwort. Die EU reagiert offenbar auch weiterhin nur, wenn ein Problem zu ihrem Problem wird. Jetzt, wo eine neue Flüchtlingswelle aus Syrien droht, sorgt die Situation plötzlich für große Aufregung in der EU. ... So verhält sich niemand, der ein wichtiger geopolitischer Akteur in der Welt sein möchte, vor allem nicht, wenn man enorme finanzielle und wirtschaftliche Macht besitzt.“

Avgi (GR) /

Europäer müssen Verantwortung übernehmen

Geld allein ist keine Lösung, betont Avgi:

„Athen muss Druck machen. Damit ein neues Abkommen der EU mit der Türkei geschlossen wird. Damit es eine radikale Veränderung der Dublin-Regeln gibt. Und damit die Flüchtlinge endlich gerecht auf alle europäischen Länder verteilt werden. Athen muss die Europäer mit allen Mitteln dazu drängen, ihre Verantwortung zu übernehmen. Griechenland darf nicht freiwillig die Rolle des Deiches übernehmen, als Gegenleistung für ein paar Millionen. ... Athen hat viele Möglichkeiten, Druck auszuüben. Denn Europa funktioniert nach dem Prinzip der Einstimmigkeit. Und wenn es keine Solidarität gibt, wird es keinen Konsens geben.“

Hämeen Sanomat (FI) /

Versäumnisse rächen sich

Die EU hat sich schlecht auf neue Flüchtlinge vorbereitet, klagt Hämeen Sanomat:

„Im Gegensatz zur Türkei will die EU das Problem auf diplomatischem Wege lösen. ... Sie will mit Vertretern der Türkei über die Flüchtlingssituation und die Krise in Syrien reden. Leider sind ihre Instrumente aber begrenzt. Allein mit schönen Worten wird man die Türkei nicht überzeugen, zumal sich auch die USA nicht mehr in den Konflikt einmischen wollen. … Laut EU-Grundrechtecharta sind die EU-Länder verpflichtet, vor Krieg flüchtenden Asylbewerbern zu helfen. Noch immer sind aber keine gemeinsamen Zentren an der Außengrenze eingerichtet worden, in denen man sich koordiniert um die nach Europa strebenden Migranten und Flüchtlinge kümmert. Versäumnisse der Vergangenheit rächen sich in der Zukunft.“

Kathimerini (GR) /

Eine gemeinsame Front ist nötig

Griechenlands Premier Mitsotakis braucht jetzt Unterstützung, sowohl von Europa, als auch von allen Parteien im Inland, fordert Kathimerini:

„Der heute geplante Besuch in der Grenzregion Evros wird eine starke Botschaft senden, auch wenn wir derzeit mehr als nur Botschaften brauchen. ... Unsere europäischen Partner haben Griechenland in den vergangenen Jahren nicht in dem Maß unterstützt, wie es nötig gewesen wäre. ... Angesichts einer nationalen Krise dieser Größe gibt es nur einen Weg: Bildung einer einheitlichen innergriechischen Front, mit zurückhaltender Rhetorik von allen Seiten und der Vermeidung von Schuldzuweisungen; Koordination mit europäischen Spitzenpolitikern und politischen Verbündeten innerhalb der EU; eine gemeinsame Botschaft an die internationale Gemeinschaft.“

Magyar Hírlap (HU) /

EU hat ihre Zeit nicht genutzt

Die EU hat seit 2016 in der Flüchtlingspolitik nur Däumchen gedreht, schimpft die regierungsnahe Tageszeitung Magyar Hírlap:

„Mit dem EU-Türkei-Abkommen von 2016 hat Europa es geschafft, Zeit zu gewinnen, hat aber diese Zeit nicht ausgenutzt. Obwohl klar war, dass dieses Abkommen nicht für ewig gilt: der türkische Präsident Erdoğan hat mehrmals darauf hingewiesen, dass er die Tore öffnen will. Trotzdem hat die EU nicht genug für die eigene Sicherheit getan. ... Man hätte die Maßnahmen wie Grenzschutz, Flüchtlingszentren außerhalb Europas und vor allem die Hilfeleistung vor Ort, die Viktor Orbán und Sebastian Kurz immer wieder gefordert haben, schon lange ergreifen sollen.“

De Standaard (BE) /

Europas Herz ist kalt

Die EU lässt sich mit Flüchtenden nicht mehr unter Druck setzen, stellt De Standaard lakonisch fest:

„Den Flüchtlingen wurde nicht erzählt, dass die griechische Grenze geschlossen bleibt. Jetzt sitzen sie fest in einem Niemandsland, Gefangene eines zynischen Machtspiels zwischen der EU und der Türkei. Wenn Erdoğan denkt, die Ratlosigkeit der Flüchtlinge einsetzen zu können, um von Europa Unterstützung für seine Syrien-Politik zu erzwingen, dann wird er merken, dass das europäische Herz sehr kalt geworden ist. 'Wir schaffen das' ist ein Echo aus der Vergangenheit. Die Tür ist zu.“

Blog Ivo Indzhev (BG) /

Propaganda heizt Angst vor Flüchtlingen an

Die Behauptung, dass die meisten Flüchtlinge, die jetzt aus der Türkei nach Europa wollen, junge Männer seien, ist eine hässliche Lüge, schreibt Ivo Indzhev in seinem Blog:

„Es soll diejenigen in Angst und Schrecken versetzen, die glauben, dass diese Menschen nicht aus Not vor dem Krieg fliehen, sondern Teil eines hinterhältigen Plans sind, nach dem unser Kontinent von Muslimen und Dschihadisten erobert werden soll. Die Propaganda über die jungen Männer als dominierende Gruppe unter den Flüchtlingen lässt sich leicht von internationalen Studien widerlegen, die das Verhältnis zwischen Männern, Frauen und Kindern, die vor dem Krieg in Syrien fliehen, untersucht haben.“

To Vima (GR) /

Flüchtende haben ein Recht auf Schutz

Es ist an der Zeit, dass Europa seine Verantwortung übernimmt, findet To Vima:

„Flüchtlinge sind Menschen und haben Rechte. Das gilt auch für die griechische Seite. Wir können sie nicht als Eindringlinge und als Bedrohung behandeln. Das Völkerrecht besagt eindeutig, dass die Menschen das Recht haben, die Länder sicher zu erreichen, in denen sie humanitären Schutz suchen. ... Die griechische Seite sollte nicht mit Brutalität auf Erdoğans Zynismus antworten. Stattdessen besteht jetzt die Gelegenheit, Europa an seine Verantwortung zu erinnern. Die Aufgabe unseres Landes ist es nicht, der Hüter der Festung Europa zu sein. “

tagesschau.de (DE) /

Erdoğan den Joker aus der Hand nehmen

Die Istanbul-Korrespondentin der ARD, Karin Senz, wirft Europa auf tagesschau.de Scheinheiligkeit vor:

„Militärisch will man der Türkei ... auf keinen Fall zur Seite springen. Sie habe die Misere ja schließlich selbst angezettelt. Hat sie. Aber Erdoğans Ziel lässt sich diesmal nicht nur auf mehr Macht und Einfluss reduzieren. Er versucht, seinem Land auch noch mehr Flüchtlinge vom Leib zu halten. Der Weg ist zu verurteilen. Aber auch Europa versucht sich mit unwürdigen Mitteln die Flüchtlinge vom Leib zu halten. Man kauft sich frei und gibt der Türkei eine Milliarde nach der anderen. ... Eine Lösung ist nicht in Sicht, aber ein erster Schritt muss jetzt kommen. Die Länder Europas müssen der Türkei Flüchtlinge abnehmen. Damit nehmen sie Erdoğan den Joker aus der Hand - und noch viel wichtiger: Sie würden das erste Mal seit 2015 wieder Menschlichkeit zeigen, wie es ihnen würdig wäre.“

Berlingske (DK) /

Das Chaos darf nicht siegen

Die EU muss an ihren Grenzen Recht und Ordnung herstellen, fordert Berlingske:

„Die Entwicklung zeigt, dass es eine riskante Strategie ist, die Lösung des Asyldrucks an Europas Grenzen an andere Länder zu delegieren. So wird man leicht Opfer eines Erpressungsversuchs, und wir können nicht damit rechnen, dass die Rechte der Flüchtlinge respektiert werden. Absprachen mit Drittstaaten wie der Türkei dürfen auf jeden Fall niemals allein für sich stehen. Wenn wir jetzt sehen, wie Tausende von Menschen die Grenze nach Griechenland bedrängen, werden wir daran erinnert, wie wichtig eine effektive Bewachung der EU-Außengrenzen ist. Als Gemeinschaft müssen wir dafür sorgen, dass nicht Chaos und das Recht des Stärkeren herrschen. ... Von europäischer Seite müssen wir außerdem mehr Druck auf Russland ausüben, um die Kriegshandlungen in Syrien zu dämpfen. “

Ria Nowosti (RU) /

Neue Russland-Sanktionen sind unwahrscheinlich

Ria Nowosti glaubt nicht, dass Erdoğan mit der Öffnung der Grenzen die EU zu energischen Schritten gegen Russland zwingen kann:

„Hypothetisch kann man ein Szenario betrachten, in dem eine durch die Flüchtlingsmenge an ihren Grenzen und eine Wiederholung der 'Migrationskrise' von 2015 eingeschüchterte EU beschließt, mit wirtschaftlichen Methoden auf Russland einzuwirken. Aber dieses Szenario passt nicht zu den (relativ jungen) historischen Erfahrungen und der geopolitischen Logik von Berlin und Paris. Alle Sanktionen, die die EU gegen Russland verhängen kann, ohne sich selbst ernsthaft zu schaden, sind schon eingeführt. Alles, was darüber hinausgeht, sind für Ausnahmesituationen reservierte Maßnahmen. Der 'Schutz türkischer Interessen in Syrien' ist kaum etwas, für das Berlin oder Paris derart schmerzhafte Schritte für sie selbst ergreifen werden.“