Ist die EU zu träge beim Impfen?
In Europa wächst die Kritik am Tempo der Corona-Impfkampagne. So warf unter anderem Biontech-Chef Uğur Şahin der EU eine zu zögerliche Bestellung vor. Länder wie Israel, die USA oder Großbritannien sind bei der Zahl der verabreichten Impfdosen pro 100 Einwohner deutlich weiter. In der Frage, ob die EU oder eher ihre Mitglieder Schuld sind, beißt sich die Katze laut Kommentatoren in den Schwanz.
Kooperationszwang rächt sich
Dass in so vielen EU-Staaten die Impfungen vergleichsweise langsam anlaufen, liegt daran, dass die Brüsseler Bürokratie wieder einmal versagt hat, urteilt The Spectator:
„Die EU hat - wie so oft - große Ambitionen, ist dann aber heillos überfordert damit, die nötigen Maßnahmen in die Wege zu leiten. Sie schuf eine einheitliche Währung, aber nicht die Mechanismen, die erforderlich sind, damit diese funktioniert. Im aktuellen Fall hat sie ein einheitliches Vorgehen beim Thema Gesundheit beschlossen, doch es fehlen die finanziellen Mittel und das Fachwissen, um diese in der Praxis umzusetzen. Die vielleicht wichtigste Lehre ist folgende: Die EU wird von der Idee bestimmt, dass größer immer besser ist - und dass Kooperation immer besser ist als Wettbewerb. Es ist jedoch offensichtlich, dass dies bei der Entwicklung und Einführung von Impfstoffen in keinster Weise zutrifft.“
Mitglieder sollten vor der eigenen Tür kehren
Derzeit ist in Europa die gleiche widersprüchliche Haltung zu beobachten wie im Frühjahr, ärgert sich Népszava:
„Die EU-Kommission hätte es tatsächlich besser machen können: Als sie eine Entscheidung treffen musste, welche Impfstoffe sie aussucht, wusste man noch nicht, welche eigentlich wirksam sind. Allerdings ist bereits vergessen gegangen, dass die Mitgliedstaaten über die Impfstoffbeschaffung der EU gemeinsam entschieden haben, gerade weil sie die Rivalität, die im Frühjahr entstanden war, vermeiden wollten. Nun konnten sie diese nicht verhindern: In Ungarn wurde zum Beispiel mit einem [russischen] Vakzin experimentiert, das in der EU gar nicht zugelassen ist. ... Dafür, dass das Haus jetzt brennt, sind alle verantwortlich. Die Mitgliedsstaaten sollten, bevor sie Brüssel die Schuld zuweisen, den Fehler erstmal bei sich selber suchen.“
Imageschaden für Europa
Polityka rechnet mit zunehmender Kritik an Brüssel:
„Die Vorfreude auf das Ende der Pandemie erwies sich als verfrüht und die Situation in Europa ist alles andere als perfekt. Eine neue Mutation des Virus, die fast überall in der EU aufgetreten ist, verbreitet sich und hat Boris Johnson dazu gezwungen, sein Land in Quarantäne zu stecken. Einige Länder melden Probleme bei der Umsetzung ihrer Impfstrategien. ... In vielen Ländern, einschließlich Polen, hören wir immer mehr Stimmen, dass die EU für die Verzögerungen bei den Impfungen verantwortlich ist, weil sie zu wenige Präparate gekauft und diese zu langsam bereitgestellt hat. Unabhängig von der Art der Probleme mit den Impfstoffen ist die Schlussfolgerung für den Kontinent doch universell: Die massive Impfkampagne hat sich als viel schwieriger erwiesen als erwartet. “
Europa bleibt zäh und lahm
Die mangelnde Geschwindigkeit in der EU veranlasst De Morgen zu einem verzweifelten Stoßseufzer:
„Immer wieder, wenn in dieser Gesundheitskrise Nachdruck, Tempo und Tatkraft gefordert sind, scheitern die Europäische Union und ihre Wohlfahrtsstaaten. Immer wieder werden die Europäer verraten durch eine Art unbewegliche Selbstgenügsamkeit. Immer wieder denken wir, dass alles schon klappen wird, wenn wir schön unsere festgelegten bürokratischen Regeln und Verfahren befolgen. Immer wieder erweist sich das als tragische Illusion. ... Man sollte hoffen, dass aus den Fehlern gelernt und die Politik effektiver, aktiver und robuster gemacht wird. Das gelingt nicht. Unterschätzt die katastrophale Wirkung der dargebotenen administrativen Ohnmacht nicht!“
Mitgliedstaaten verstecken sich hinter Brüssel
An der mangelnden Flexibilität der EU-Behörden sind letztlich die nationalen Regierungen schuld, erinnert Politikwissenschaftler Roman Senninger in Politiken:
„Wer Einsicht in das EU-System hat, erkennt klar, dass es die nationalen Politiker sind, die die Verantwortung tragen müssten. Zum einen haben sie die EU-Strategie [aus dem Juni 2020] zum Einkauf von Impfstoffen und der Planung der Impfungen nicht revidiert, obwohl sie dazu die Möglichkeit gehabt hätten. Zum anderen sind es die nationalen Politiker, die der EU-Kommission den Rahmen setzen. Das jetzige System sorgt dafür, dass die Kommission zielgerichtet, aber unflexibel agiert. Die Bürger haben daher keinen echten Grund, die Kommission zur Verantwortung für ihre Arbeit zu ziehen. Die nationalen Politiker dürfen sich nicht hinter der Kommission verstecken, sondern sollten damit beginnen, auf die Kritik zu reagieren.“
Briten sind alleine schneller
Der schnellere und effizientere Umgang mit den Corona-Impfungen ist für Club Z ein frühes Anzeichen dafür, dass das Vereinigte Königreich ohne die EU besser aufgestellt ist:
„Die apokalyptischen Vorhersagen vom Chaos in Großbritannien nach dem Brexit haben sich noch nicht bewahrheitet, dafür ist Großbritannien in den ersten Tagen des neuen Jahres das am weitesten fortgeschrittene Land in Europa bei der Entwicklung und Verabreichung von Impfstoffen gegen das Coronavirus. Zwei Impfstoffe werden bereits verwendet - der deutsch-amerikanische von Pfizer-Biontech und der heimische Impfstoff, der von der Universität Oxford und dem britisch-schwedischen Pharmakonzern AstraZeneca entwickelt wurde. Die Zahl der geimpften Personen hat bereits die Million überschritten. In der EU ist man noch lange nicht soweit.“
Ausreichend gibt es hier nur Propaganda
Auch in Russland, wo man sich mit dem ersten entwickelten Corona-Impfstoff schmückte, kommt die Impf-Kampagne nur zäh in Gang. Echo Moskwy sieht eine Propaganda-Blase platzen:
„Die Gesundheitsbehörde hat konstatiert, dass der Impfstoff nicht in der geplanten Menge hergestellt wurde. ... Eine Impfung hat den Sinn, Menschen zu schützen. Bei uns besteht der Sinn jedoch darin, die Bevölkerung mit Rekordzahlen zu betören - ob diese der Wahrheit entsprechen, ist dabei unwichtig. Deshalb verheddert man sich jetzt in den eigenen Lügengeschichten. Tatsache ist, dass die Produktionskapazitäten nicht ausreichen. Und schlimmer noch: Man kann nicht garantieren, dass alle Fabriken konstant hohe Qualität liefern.“
Impf-Nationalismus wäre verheerend gewesen
Le Monde lobt die Impf-Politik der EU:
„Um einen Impfstoffwettlauf zwischen den Mitgliedstaaten zu vermeiden, der noch verheerendere Folgen gehabt hätte als die Masken-Knappheit im Frühjahr, wurde die Lieferung von Impfstoffen an die 27 Mitgliedstaaten von der EU-Kommission zentralisiert. Sie verteilte dann die Dosen im Verhältnis zur Bevölkerungszahl der einzelnen Länder. ... Man kann sich die Ungleichheit und die Auswirkungen auf die Preise, die ein unregulierter Wettbewerb zwischen den Mitgliedstaaten gehabt hätte, leicht vorstellen. Dies ist zweifellos, zusammen mit dem massiven Konjunkturprogramm zur Unterstützung der Volkswirtschaften, die positivste Entscheidung, die die EU im Jahr 2020 getroffen hat.“
Tschechien sollte Deutschland dankbar sein
Tschechiens Premier Babiš hat das gemeinsame europäische Vorgehen beim Kauf von Impfdosen kritisiert. Lidové noviny widerspricht der Kritik:
„Kein Jahr nach dem Auftreten von Covid-19 ist es ein Wunder, dass wir überhaupt schon impfen können. Wir profitieren davon, dass andere Regierungen Milliarden Dollar dafür eingesetzt haben. Deutschland hätte auch für sich allein handeln und sich mehr Impfstoff besorgen können. Bei uns gehört es zum guten Ton, Angela Merkel alles Mögliche vorzuwerfen. Aber wenn Tschechien in Europa etwas gelungen ist, dann immer dank deutscher Unterstützung. Nur wenigen bei uns scheint klar zu sein, welches Glück wir haben, dass der mächtigste Staat des Kontinents den kleineren beisteht. Hätte Deutschland nur an sich gedacht und nicht im Namen der EU gehandelt, blieben uns nur Reste des Impfstoffs - und die auch noch für teureres Geld.“
Unrealistische Versprechen schaden nur
Delfi kritisiert illusorische Aussagen über das Impftempo:
„Die Regierungen müssen zwischen klaren Aussagen über die Impfdosen und über die Impftermine oder Propaganda wählen. Aber Propaganda wirkt nicht mehr. Sie wirkt nur in einem Manöverkrieg. … Doch dieser Krieg ist ein Stellungskrieg. In 70 Tagen sitzen wir seit einem Jahr in den Schützengräben. Wie wir aus der Geschichte des Ersten Weltkriegs wissen, demoralisiert so ein Stellungskrieg sowohl die Armee als auch die Gesellschaft. ... Die Impfungen sind die Panzer dieses Kriegs. Sie können die Front der Pandemie brechen und uns aus den Gräben befreien. Es wird besser, wenn die Armee genau weiß, welche Divisionen und Bataillons und wie viele Soldaten wann dieses neue Kampfmittel bekommen. ... Oder eben nicht bekommen. Die Fata Morgana zerstört den Kampfgeist.“
Gerade Italien müsste schneller sein
Der in Mailand lebende Schriftsteller Antonio Scurati prangert in Corriere della Sera die Ineffizienz Italiens und vor allem seiner Region, der Lombardei, beim Impfen an:
„Ich verlange Antworten. Mit mir tun dies 60 Millionen Italiener und vor allem 10 Millionen Menschen in der Lombardei. Wie kommt es, dass Italien, das erste Land im Westen, das von der Pandemie heimgesucht wurde, bisher nur eine halbe Million Dosen des Impfstoffs erhalten hat? ... Und warum gibt es immer noch keinen nationalen Plan für seine Verwaltung? Herr Präsident Fontana, wie rechtfertigen Sie die Tatsache, dass die von Ihnen verwaltete Region Lombardei, eine von der Pandemie gemarterte Region, nachdem sie bei der Grippe-Impfkampagne schmählich versagt hat, auf dem Weg zu sein scheint, auch bei der Covid-Impfkampagne zu versagen?“
Zögern ist fahrlässig
Auch in Belgien wird der zähe Verlauf der Impfungen kritisiert. Die Verantwortlichen weisen die Vorwürfe zurück mit dem Argument, dass es kein Wettkampf sei. Dem aber widerspricht De Standaard:
„Natürlich ist es ein Rennen, um so schnell wie möglich so viele Menschen wie möglich zu impfen, sonst könnte man von Fahrlässigkeit sprechen. Zögern heißt: Mehr Tote und mehr Krankenhausaufnahmen, die man hätte vermeiden können. Die Sorge, dass die Komplexität unseres Landes uns auch in dieser Krise im Weg stehen kann, ist begründet. Das haben die vergangenen neun Monate bewiesen. Bei den Infektionen machen wir es zurzeit gut. Daher dürfen wir nun nicht die Dringlichkeit aus dem Auge verlieren und diese gute Ausgangsposition verspielen.“
Vorrang für die erste Dosis
Die EU-Staaten sollten angesichts knappen Impfstoffs die Strategie ändern, fordert The Irish Independent:
„Laut Angaben von Pfizer sollten zwei Dosen des Impfstoffs im Abstand von 21 Tagen verabreicht werden. Daten deuten jedoch darauf hin, dass bereits eine einzelne Dosis einen bis zu 90-prozentigen Schutz gegen einen schweren Krankheitsverlauf bieten könnte. ... Angesichts der Tatsache, dass bald eine deutlich größere Menge an Impfstoff zur Verfügung stehen wird, scheint es die bessere Option zu sein, die erste Dosis schnellstens so vielen Bedürftigen wie möglich zu verabreichen. Wenn wir Ländern wie Israel folgen, wo bereits 15 Prozent der Bevölkerung geimpft sind, könnten wir uns auf eine weitgehende Öffnung der Gesellschaft Ende Februar einstellen.“
Europa trägt keine Schuld
Da in Deutschland die Kritik an der gemeinsamen Impfstrategie der EU immer lauter wird, nimmt die taz diese in Schutz:
„Tatsächlich konnte im Herbst, als die Bestellungen erfolgt sind, niemand wissen, welcher Impfstoff als erster eine Zulassung erhalten wird. ... Zweitens war es eine richtige Entscheidung, dass ein Großteil des Impfstoffs zentral von der Europäischen Kommission geordert wurde. ... Man stelle sich nur einmal vor, welche nationalen Gefühlsaufwallungen in Warschau aufgekommen wären, wenn das reichere Deutschland dem ärmeren Polen den Impfstoff vor der Nase weggekauft hätte. ... Europa ist schon genug mit engstirnigen Nationalismen geschlagen, da brauchen wir keinen Corona-Chauvinismus.“
Ein bisschen Geduld, liebe Nörgler
Einen Impfstart noch vor Weihnachten hat vor wenigen Monaten kaum jemand für möglich gehalten, ruft Blick in Erinnerung:
„Und nun, ein paar Tage später? Gemecker an allen Ecken und Enden. ... Jede kleinste Panne wird zum Thema. Ein 'Debakel' hier, ein 'Versagen' dort. ... Kritik und Verbesserungsvorschläge sind legitim. Immerhin geht es um nichts weniger als Leben und Tod. Allerdings sind die Kantone ja gerade erst dabei, die Impfkampagnen auszurollen - viel schneller als geplant. ... Liebe Nörgler: Tausende von Menschen arbeiten täglich mit Hochdruck daran, dass wir, dass Sie, dass alle bald wieder ein Leben ohne Einschränkungen führen dürfen. Liebe Forscherinnen, Fabrikarbeiter, Logistiker: Danke dafür! Wir befinden uns hoffentlich auf der letzten Etappe dieser elenden Krise. ... Es braucht nun eine letzte Portion Geduld.“