Impfstrategie: Wo hakt es?
Die Staats- und Regierungschefs der EU haben sich auf ihrem Gipfel hinter die Ziele der Kommission gestellt: Bis Ende März sollen mindestens 80 Prozent der Über-80-Jährigen sowie das Pflegepersonal geimpft werden, bis zum Ende des Sommers möglichst 70 Prozent der Gesamtbevölkerung. Nicht nur angesichts des vielerorts schleppenden Verlaufs der Impfkampagne haben Kommentatoren kritische Nachfragen.
EU hätte Milliarden besser nutzen können
Die EU hat in den vergangenen Wochen versagt, kritisiert L'Opinion:
„Zum einen beim Tempo der Zulassung der Impfstoffe. Die Europäische Arzneimittel-Agentur EMA war unter allen westlichen Institutitionen die Behörde, die für die Freigabe der Produkte von Pfizer und Moderna am längsten gebraucht und so wertvolle Wochen für den gesamten Kontinent vergeudet hat. Zum anderen bei den Verhandlungen mit den Pharmafirmen. … Wäre es nicht besser gewesen, wenn Europa sich gefragt hätte, wie viel Geld für Rettungspakete und Hilfsfonds hätte eingespart und zugunsten von schnelleren und umfassenderen Impfstofflieferungen investiert werden können? ... Andere Länder haben dafür optiert. Und kommen nun bei der Bekämpfung der Epidemie schneller voran.“
Egoismus wird sich rächen
Im Wettlauf um die Impfdosen schießt sich so mancher selbst ins Knie, warnt Financial Times:
„Wenn reiche Länder nur auf sich schauen und in ihrem Gerangel um die Sicherung von Impfstoffdosen die Armen dieser Welt ausschließen, machen sie sich nicht nur des Egoismus schuldig, sondern schaden auch sich selbst. Wenn das Virus in einem Teil der Welt unkontrolliert wüten darf, wird es mehr Menschen töten. Es wird wahrscheinlich auch schneller mutieren, möglicherweise zu Stämmen, gegen die vorhandene Impfstoffe keinen Schutz bieten. ... Sowohl die Moral als auch das Eigeninteresse schreiben daher vor, dass Impfstoffe als globales öffentliches Gut gesehen werden sollten.“
Hotels und Fluglinien werden eh selektieren
Noch keine Einigung gab es auf dem Gipfel zur Frage eines EU-weit gültigen Impfpasses. Die Presse spricht sich für ein solches Dokument aus:
„Impfgegner, Coronaleugner und EU-Skeptiker ... bedenken freilich nicht, dass es eine Dynamik geben wird, die überhaupt nichts mit der EU ... zu tun hat. Viele Fluglinien-, Hotel- und Kreuzfahrtschiffbetreiber werden ein großes Interesse daran haben, dass sie das Risiko ihrer Gäste reduzieren. ... Da sie keine Verpflichtung haben, Menschen aufzunehmen, die ein Gesundheitsrisiko darstellen, werden sie diese mit allen Mitteln fernhalten. ... Ja, es geht um Datensammeln. Doch die Daten der Impfungen werden sowieso erfasst - warum dann nicht gleich in einem elektronischen Pass. Ja, es ist ein Druck auf Menschen: Doch den gibt es bei manchen Reisen schon lange, etwa wenn jemand zu einer Safari nach Afrika aufbrechen will – wofür Tropenimpfungen notwendig sind.“
Vakzin ist das neue Öl
Radio Kommersant FM sieht die Corona-Impfstoffe als neuen dominanten Wirtschaftsfaktor und Objekt der Geopolitik:
„Dieses Jahr ist das Vakzin das neue Öl. Hat man etwas selbst entwickelt, ist das schon ein Zeichen von Supermachtstatus. Und wo es keinen Zugang zu den rettenden Ampullen gibt, sollte man umgekehrt darüber nachdenken, ob die machthabenden Politiker ihr Land richtig führen. Wie beim 'Schwarzen Gold' ist das Vakzin allein nicht genug. Für Covid-19-Impfungen muss eine spezielle Infrastruktur und komplexe Logistik für Lieferung, Lagerung und Impfprozess aufgebaut werden - also faktisch Pipelines, Raffinerien und Tankstellen. Die Analogie gilt auch auf internationaler Ebene: Die Herstellerländer kämpfen um neue Märkte und festigen Freundschaftsbeziehungen mit Hilfe von Ampullen-Lieferungen.“
Keine Innovation wie jede andere
Weniger als die Hälfte der Russen will sich laut Umfragen mit Sputnik V impfen lassen. Für den Ökonomen Alexej Sacharow wäre das normalerweise kein Grund zur Sorge, in diesem Fall aber schon, wie er in VTimes erklärt:
„Mit einer wachsenden Zahl Geimpfter wird das Vertrauen wachsen - eine solche Diffusion erleben alle Innovationen: Erst probieren wenige das neue Produkt aus, dann gibt es immer mehr Anwender. Doch in diesem Falle müsste der Staat entweder zu Zwangsimpfungen greifen oder Wege finden, den Prozess zu beschleunigen. Denn jeder verlorene Monat wird in Tausenden Leben gemessen. Das Vertrauen in den Impfstoff muss wiederhergestellt werden - vorrangig, indem die Resultate der klinischen Erprobung einer breiten Öffentlichkeit bekannt gemacht werden. Offenheit und Ehrlichkeit sind nicht die starken Seiten unseres Staates, doch jetzt sind eben diese Qualitäten gefordert.“
Aufklärung statt Zwang
Eine Impfpflicht für Pflege-Fachpersonen, wie sie Bayerns Ministerpräsident Söder vorgeschlagen hat, hält tagesschau.de für völlig falsch:
„Ausgerechnet das Pflegepersonal, das in dieser Corona-Krise die Hauptlast trägt, muss jetzt vom bayerischen Ministerpräsidenten bevormundet werden. ... All diejenigen, die in Internetforen, auf den Straßen, in Verschwörer-Blasen schon immer von einer Impfpflicht durch die Hinter- oder durch die Vordertür schwadroniert haben, werden sich bestätigt fühlen. Diejenigen, die zögern, weil sie noch nicht wissen, ob sie sich impfen lassen sollen, weil eben noch nicht klar ist und klar sein kann, ob es Langzeitfolgen gibt, werden ebenfalls abgeschreckt werden. ... [E]s ist Aufgabe von Wissenschaft und von Politik, den Menschen diese Zweifel zu nehmen. ... Davon - und nicht von Zwang und Pflicht - möchte man mehr hören.“
Nicht-EU-Nachbarn sind viel schlechter dran
Debattieren zu können, ob man sich impfen lässt oder nicht, ist ein Privileg, meint der Journalist Ovidiu Nahoi auf RFI România:
„Albanien, Bosnien, Kosovo, Montenegro, Nordmazedonien und Serbien - die zusammen ungefähr 20 Millionen Einwohner zählen - [werden] weit hinter den 27 EU-Ländern und Großbritannien zurückbleiben, wenn es darum geht, eine Massenimpfung zu erreichen. ... Die Agenturen zitieren die bittere Feststellung des nordmazedonischen Epidemiologen Dragan Danilovski, der die aktuelle Situation mit der auf der Titanic vergleicht: 'Die Reichen nehmen alle verfügbaren Rettungsboote und lassen die weniger Glücklichen zurück'. Viele der Balkanländern setzen ihre Hoffnung auf Covax [das weltweite Impfstoffprogramm der WHO] und auf Hilfsorganisationen.“
Wettlauf gegen die Mutationen
Wegen der neuen, noch ansteckenderen Virusmutationen muss es mit den Impfungen viel schneller gehen, mahnt der Kurier:
„Wie es aussieht, könnten die schlimmsten Wochen überhaupt erst vor uns liegen. ... Impfen wird ein Wettlauf gegen die Zeit. ... Das Tempo der Ansteckungen wird sich beschleunigen und das Tempo der Impfungen übersteigen. ... Die Folge wird wohl sein: Lockdown, bis genügend Leute geimpft sind, sodass die Krankenhäuser nicht überfüllt werden. ... Dass Impfstoffe bereits gefunden sind, ist das Einzige, woran man sich angesichts der neuen Entwicklung klammern kann. Bitte her damit – so rasch wie möglich.“