Großbritannien: Sind die Tories noch zu retten?
Nach dem Scheitern ihrer Finanzpolitik muss die britische Premierministerin Liz Truss um ihr Amt bangen. In der Partei mehren sich die Stimmen, die ihren Rücktritt fordern. Am Mittwoch trat Innenministerin Suella Braverman zurück und äußerte scharfe Kritik an der Regierung, die wichtige Versprechen gebrochen habe. Europas Presse erörtert die schwierige Lage der Konservativen.
Zustände wie in Italien
Wahlen allein sind kein Zaubermittel, gibt Times of Malta zu bedenken:
„Es gibt in einer Demokratie keine Garantie dafür, dass die Wahl eines neuen Premiers immer die beste für das Land ist. Konservative Abgeordnete könnten durchaus zu dem Schluss kommen, dass Parteimitglieder vor wenigen Wochen die falsche Person für die Führung des Landes ausgewählt haben. ... Den Abgeordneten geht es vor allem um ihre Wiederwahl, auch um den Preis, der Glaubwürdigkeit des Landes weiteren Schaden zuzufügen. Großbritannien ähnelt mit seinen häufig wechselnden Premierministern bereits Italien – einigen Berichten zufolge sind auch Truss' Tage gezählt. Wie alle anderen europäischen Länder muss auch Großbritannien populistischen Strategien abschwören, die unbezahlbare Steuergeschenke versprechen.“
Der Preis der Verblendung
Naftemporiki schreibt:
„Der Austritt aus der EU hat den Grundstein dafür gelegt, dass die Tories bewusst die Realität ausblenden - und die Briten mit neuen Unwahrheiten weiter täuschen. Falsche Versprechungen brachten Boris Johnson an die Macht, aber Truss handelte auf ähnliche Weise. ... Auch in anderen europäischen Ländern ist der Austritt aus der EU längst ein 'Scheinriese' - selbst bei den hartgesottensten Feinden eines vereinten Europas. Marine Le Pen in Frankreich, Georgia Meloni in Italien oder Jimmie Åkesson in Schweden: Selbst rechtsextreme Politiker sind, je näher sie an die Macht kommen, immer weniger an einem Austritt aus der EU interessiert.“
Vertrauen dahin, Experiment gescheitert
Truss hat in kurzer Zeit großen Schaden angerichtet, resümiert der London-Korrespondent Jochen Wittmann im Tageblatt:
„In nur 40 Tagen Truss sind die Briten ein gutes Stück ärmer geworden. Im Königreich haben stets diejenigen Parteien Wahlen gewinnen können, denen die Bürger Wirtschaftskompetenz zutrauen. In der Vergangenheit waren das in der Regel die Konservativen. Nach dem Scheitern des Truss-Experiments ist dieses Vertrauen gründlich dahin.“
Farblos, aber verlässlich
Die Neue Zürcher Zeitung wünscht den Briten einen biederen Politik-Profi an der Spitze und hält Hunt für geeignet:
„Unter Johnson litten Verantwortlichkeit und Rechenschaftspflicht schwer, bei Truss fehlten Transparenz und die Ausrichtung auf die Bedürfnisse des Landes. Beides führte ins Chaos, beides wurde rasch durch die gut funktionierenden politischen Institutionen beendet. Die Zeit der verführerischen Visionen ist vorbei. ... Die Tories folgen nun ihrem allzeit freundlichen Mann ohne Eigenschaften, dem multifunktionalen Minister Jeremy Hunt, der das Land nach dem Truss-Sturm souverän in ruhigere Gewässer führt. Auch Hunt reisst niemanden mit. Aber man kann sich auf ihn verlassen.“
Eine Partei mit absurden Maßstäben
Hunt und die Tories passen eigentlich gar nicht zusammen, ironisiert The Guardian:
„Hunt hat sich in der Vergangenheit zweimal um den Parteivorsitz beworben. Zweimal wurde er abgelehnt. Das qualifiziert ihn offenbar nun zum Schatzkanzler. Man könnte auch sagen, sogar aus Sicht der Tory-Abgeordneten ist eine Person umso zuverlässiger, je mehr sie in der Vergangenheit von der eigenen Partei abgelehnt wurde. Eine vernünftige Regierung ist demnach das Gegenteil von dem, was die Tory-Mitglieder wollen. Das ist ein guter Bewertungsmaßstab, aufgrund dessen das Wahlvolk die logische Schlussfolgerung ziehen wird: Das Kernproblem der britischen Innenpolitik ist eine absurde konservative Partei, die sich nicht mal selbst das Regieren zutraut.“
Ein Konsenskandidat müsste her
Ilta-Sanomat sieht eigentlich nur eine Chance für die Regierungspartei:
„Ein neues Rennen um den Parteivorsitz wäre für die Partei peinlich und würde die Entscheidungsfindung verlangsamen. Auch Neuwahlen sind nicht verlockend, da sie mit ziemlicher Sicherheit eine Niederlage zur Folge hätten. Die gesichtswahrende Option wäre, wenn die Partei einen neuen Kandidaten für das Amt des Premiers finden würde, der stark genug ist, um ohne Abstimmung ernannt zu werden. Das scheint jedoch nicht sehr wahrscheinlich zu sein.“
Lächerliches Personalkarussell
The New Times sieht die Tories im führungslosen Chaos:
„Der Stimmung in der Fraktion nach zu urteilen wird nun ein Weg zum Führungswechsel gesucht, da Liz Truss die Partei offensichtlich in den Abgrund zieht. Denn über die Hälfte der Konservativen-Mitglieder, die sie bei den Wahlen im September noch favorisiert hatten, sind jetzt der Meinung, sie solle zurücktreten - und 50 bis 60 Prozent würden heute für Rishi Sunak stimmen! ... Eine Mehrheit der Parteimitglieder (63 Prozent der Befragten) ist sogar der Meinung, Boris Johnson sei der beste Truss-Nachfolger! Wobei weder das Land noch die Fraktion mit einer solchen Entscheidung einverstanden wären. ... Die Partei, die seit 2016 bereits vier Parteivorsitzende durchprobiert hat, droht zur Lachnummer zu werden.“
Sinnlose Selbstquälerei
Der neue britische Finanzminister hat die Pläne von Liz Truss direkt verworfen. Ein tödlicher Schlag, meint De Standaard:
„Es war, als wäre Hunt bei seiner Nachbarin in der Downing Street 10 mit einem Flammenwerfer aufgekreuzt und hätte alles, was er auf seinem Weg fand, verbrannt. ... Dass Truss im Amt bleiben kann, ist sinnlose Selbstquälerei geworden. Sie hat nicht mal mehr die Option, einen ihrer Getreuen zu opfern. Ihre Vorgänger Theresa May und erst recht Boris Johnson kämpften monatelang, bevor sie sich dem Unvermeidlichen ergaben. Auf Liz Truss warten nur noch Erniedrigung und Bedeutungslosigkeit. Sie ist, wie die Engländer sagen, Toast.“
Das Momentum gehört ihm
Truss kann ihren Führungsanspruch nicht wieder herstellen, meint auch die Wiener Zeitung:
„Nach nur 42 Tagen im Amt liegt die Autorität der britischen Premierministerin Liz Truss in Trümmern. ... Nach den bisherigen Erfahrungen mit diesen Jahren des organisierten Tumults ist es unwahrscheinlich, dass es noch einmal jemandem gelingt, politische Autorität zu entwickeln, der an der Entstehung und am Verlauf des Chaos' beteiligt war. Das lässt den neuen Finanzminister Hunt, der seit 2010 diversen Tory-Kabinetten angehört, immerhin mit einer Mini-Chance zurück. Er ist ab sofort die zentrale politische Autorität der britischen Regierung oder was von dieser übrig geblieben ist.“
Dieses Bauernopfer wird sie nicht retten
The Observer sieht Truss am Ende:
„Mit dem Rausschmiss [von Finanzminister Kwarteng] mag sie sich etwas mehr Zeit in Downing Street verschafft haben, aber wofür? Damit die konservativen Abgeordneten ihren Sturz organisieren können? In der fürchterlichen Pressekonferenz, die sie gab, nachdem sie ihren Schatzkanzler abserviert hatte, sank sie in der ohnehin schon niedrigen Gunst ihrer Partei noch weiter. ... Sie gab an, dass es ihr 'unglaublich leid' tun würde, Kwarteng 'verloren' zu haben – als sei er von jemand anderem als von ihr selbst geopfert worden. Sie verharrte einfach in einer Verleugnungshaltung und bestand darauf, dass die 'Mission fortbesteht', während doch alle sehen, dass die Rakete schon auf der Startrampe explodiert ist. “
Keine eiserne Lady
Auch Der Standard hält ein jähes Ende der Premierministerin für möglich:
„Ihr wird vorgeworfen, dass sie hätte wissen müssen, welche Konsequenzen ihre Politik auf den Finanzmärkten hat. Allen voran ihr größter Rivale, Ex-Finanzminister Rishi Sunak, hatte es Truss während der Kampagne um den Parteivorsitz im Sommer prophezeit: Steuersenkungen auf Pump würden inflationär wirken, die Kosten für die staatliche Schuldenaufnahme erhöhen und das britische Pfund schwächen. All das ist eingetroffen. Da ist es kein Wunder, dass bei den Tories Pläne für Truss' Fenstersturz geschmiedet werden.“
Fulminantes Eigentor
Liz Truss könnte einen Rekord aufstellen, meint Jutarnji list:
„Die britische Premierministerin ist auf dem besten Weg, die kurzlebigste Regierungschefin Großbritanniens in der Geschichte zu werden, nachdem immer mehr Stimmen aus der konservativen Partei nach ihrem Rücktritt verlangen, aus Furcht vor einem völligen Debakel bei den nächsten Parlamentswahlen. ... Die neunzehnjährige Liz Truss, die Slogans gegen Margaret Thatcher skandierte und zur Abschaffung der Monarchie aufrief, wäre wahrscheinlich stolz auf ihr heutiges Ich. ... Nicht einmal anderthalb Monate nach der Machtübernahme ist Königin Elizabeth II. nicht mehr britischer Souverän und die Konservative Partei auf dem besten Wege aus dem politischen Leben zu verschwinden. “
Zeit für Neuwahlen
The Independent fordert weitreichendere Konsequenzen:
„Die Premierministerin war auffallend unfähig, die Frage zu beantworten, weshalb Kwarteng gehen musste und sie bleiben darf, angesichts der Tatsache, dass sie bei der Ausarbeitung ihrer fehlgeschlagenen Politik 'Hand in Hand' gearbeitet haben. ... Wenn Truss Premierministerin bleiben möchte, muss sie jetzt das britische Volk richten lassen. Wenn ihre Abgeordneten sie durch einem anderen Premierminister ersetzen wollen, so muss, wer immer ihr Nachfolger ist, das ebenso tun. ... Die Zukunft des Landes sollte nicht durch Intrigen und Kehrtwenden in Westminster entschieden werden, sondern durch das Volk im Zuge von Parlamentswahlen.“