Wie wählt Europa?
Noch bis Sonntag entscheiden die EU-Bürger darüber, welche 720 Abgeordneten sie in den nächsten fünf Jahren im Europaparlament vertreten sollen. Für die Parteien der Rechtsaußen-Fraktionen ID (Identität und Demokratie) und EKR (Europäische Konservative und Reformer) werden starke Zugewinne erwartet. Kommentatoren beleuchten, welches politische Gesicht die EU nach dem Urnengang bekommen könnte.
Weiterer Wilders-Triumph verhindert
Erste Prognosen deuten in den Niederlanden ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen dem rot-grünen Bündnis von PvdA und GroenLinks sowie der radikal-rechten PVV von Geert Wilders an. De Volkskrant stellt fest:
„Für Wilders wird sich das Ergebnis wie ein leichter Rückschlag anfühlen nach seinem unerwartet großen Erfolg im November. Andererseits wurde er nicht für die Koalitionsverhandlungen abgestraft, in denen er in den vergangenen Monaten große Zugeständnisse machte und auch auf das Amt des Regierungschefs verzichten musste. ... PvdA und GroenLinks führten vor allem mit dem Ziel Wahlkampf, den weiteren Sieg einer radikal-rechten Partei zu verhindern. Das ist offenbar gelungen.“
Die neue Schamlosigkeit
La Vanguardia blickt mit Sorge auf den Wahlkampf in Italien:
„Die europäischen Regierungen sprechen so wenig wie möglich über die Auffanglager für Migranten. Nicht so Giorgia Meloni, die am Mittwoch den [neuen italienischen] Lagerkomplex an Albaniens Küste vorstellte. ... Sie nannte ihn ein Vorbild für die übrigen EU-Länder. ... Das Ganze kommt nur vier Tage vor der Europawahl. ... Die Premierministerin handelt unverfroren und schamlos. Das ist das neue Europa, das uns erwartet. Es mag die Wahlen gewinnen, aber es hat wenig mit dem Europa zu tun, das sich Mitte des vergangenen Jahrhunderts zusammenschloss.“
Destabilisierung wahrscheinlich
G4Media.ro sagt den Rechtsaußen-Parteien einen begrenzten, aber signifikanten Einfluss im neuen Parlament voraus:
„Die Idee, die Rechtsaußen-Parteien in der EU zu vereinen, ist ein alter Traum, der von Farage, Le Pen und Wilders vor mehr als 20 Jahren entwickelt wurde. Doch ihr Traum hat sich nie verwirklicht. Diese Parteien sind nicht nur von Natur aus unvereinbar miteinander - man denke nur an ihre unterschiedlichen Positionen zu Russland -, ihr eigener nationalistischer Ansatz hindert sie auch an einer grenzüberschreitenden Zusammenarbeit. ... Doch auch wenn die Rechtsextremen nicht die politische Kontrolle über das EU-Projekt erlangen werden, so werden sie doch aufgrund ihrer Rekordanzahl an Sitzen einen potenziell destabilisierenden politischen Einfluss gewinnen.“
Stimmenfang im rechten Becken ist gefährlich
Wie Ursula von der Leyen versucht, Kommissionspräsidentin bleiben zu können, sieht Rzeczpospolita kritisch:
„Von der Leyen, die sich nicht sicher ist, ob proeuropäische Gruppen ihre Wahl für eine zweite Amtszeit sichern können, glaubt, dass sie durch die Übernahme von Parolen der extremen Rechten deren Ausbreitung stoppen kann. Dies ist jedoch eine riskante Strategie, da der Populismus in den EU-Staaten nicht nur in Bezug auf [das Thema Migration] zunimmt. In Spanien ist der Erfolg der postfranquistischen Vox eine Reaktion auf Kataloniens Abspaltungsversuche, während die AfD vor allem wegen der Kosten für die Umsetzung von Umweltvorschriften gedeiht.“
UK könnte von Chaos profitieren
The New European schwant nichts Gutes für die EU:
„Zwei Wochen nach seinem Amtsantritt im Juli wird Keir Starmer den Vorsitz bei der halbjährlich stattfindenden Versammlung der Europäischen Politischen Gemeinschaft (EPG) übernehmen müssen. ... Es wird die perfekte Bühne sein, um eine neue Ära der Zusammenarbeit mit der EU einzuläuten. Starmer wird aber direkt mit zwei Problemen konfrontiert sein: Durch das Chaos nach den EU-Wahlen kann es Monate dauern, bis eine neue Kommission, einschließlich des Präsidiums, bestätigt ist. Und die Marke EU? Mit Meloni, die das Sagen hat, Le Pen sprungbereit sowie Macron und Scholz, die ins Trudeln geraten, wird die EU nicht gerade attraktiv dastehen. Großbritannien könnte als Leuchtturm der Stabilität und Mäßigung gesehen werden. Welche Ironie.“
Pest oder Cholera im neuen Parlament
Ein Versuch von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen die italienische Regierungschefin Giorgia Meloni auf ihre Seite zu ziehen, kann nach Ansicht von Expressen sinnvoll sein:
„Der Preis einer Isolierung Melonis könnte sein, dass sich die rechten Kräfte im EU-Parlament konsolidieren und radikalisieren. Wenn die europäische Mitte stattdessen Pragmatismus über Purismus stellt, besteht die Chance, die gemäßigte Rechte von der Radikalen zu spalten. ... Dies ist nicht die schönste Stunde Europas, sondern eine Zeit, in der die Pest gegen Cholera antritt. Aber wenn die europäische Politik aufgrund zu vieler roter Linien und ideologischer Barrieren ins Stocken gerät, wissen wir, wer wahrscheinlich gewinnen wird: die Parteien der Unzufriedenheit.“
Von der Leyen spielt mit dem Feuer
Jutarnji list analysiert:
„Um ihre Chancen zu vergrößern und die Abhängigkeit von der Linken zu verringern, kokettieren von der Leyen und ihre politische Gruppe mit den Konservativen und extremen Rechten, im Bewusstsein, dass solche Parteien wachsen. Von der Leyen hat die Möglichkeit einer Zusammenarbeit absichtlich nicht ausgeschlossen, da ihre Unterstützung zahlenmäßig stimmen muss, nicht nur im Parlament, sondern auch im Europäischen Rat. Aber wenn sie durch die Aufgabe von Prinzipien irgendwo zusätzliche potenzielle Stimmen bekommt, könnte sie woanders Stimmen einbüßen. Die Sozialisten und Bürgerlichen, Liberalen und Grünen wollen von der Leyen nicht unterstützen, sollte sie mit der extremen Rechten zusammenarbeiten.“
Wirrwarr wechselnder Mehrheiten verhindern
Der Unternehmer Bernard Spitz hofft in Corriere della Sera auf eine ganz große Koalition:
„Wir werden eine starke Kommission und ein Parlament brauchen, das sich auf eine Mehrheit einigen kann. Andernfalls kann die kleinste heikle Frage in einem einzelnen Land alles lähmen. ... Wenn sich eine klare Linie abzeichnen soll und nicht das Wirrwarr von Mehrheiten, die sich je nach Thema ändern, unter dem Druck der extremen Rechten, wird eine breite Koalition erforderlich sein. Diese wird unweigerlich Kompromisse zwischen ihren Teilnehmern erfordern. Man muss auf der einen Seite Extremisten, die Chaos stiften, ausschließen und sich auf der anderen Seite auf eine Zusammenarbeit vorbereiten. ... Von den Sozialdemokraten bis zur Mitte, vom rechten Flügel der EVP bis zur Fraktion von Giorgia Meloni.“
Anliegen der Wähler nicht den Populisten überlassen
Berlingske schlägt einen konstruktiven Umgang mit den Themen der rechten Parteien vor:
„Vielleicht ist es nicht die Rechtswende an sich, die wir fürchten sollten, sondern die arrogante und kraftlose Reaktion der Mitte darauf. Denn die unzufriedenen Wähler haben tatsächlich Grund zur Unzufriedenheit, und solange niemand außer der extremen Rechten auf sie hört, wird Europa stecken bleiben – und das ist katastrophal in einer Situation, in der die Großmächte uns auf jede erdenkliche Weise unter Druck setzen. ... Stattdessen sollten wir der Wende nach rechts konstruktiv begegnen. Die Parteien der extremen Rechten haben nicht die richtigen Lösungen, aber sie weisen auf die richtigen Probleme hin.“
Moskau hat schon gewählt
Putin hat auf seine Weise an den Wahlen teilgenommen, ist sich Delfi-Kolumnist Paulius Jurkevičius sicher:
„Er hat schon gewählt – geheim, er muss nur noch auf das Ergebnis warten. Er hat auf besondere Weise teilgenommen – aus der Ferne, aber er hat seinen Stimmzettel nicht per Post geschickt. Er – Wladimir Putin – wählt meist in Euro. Und manchmal gewinnt er. ... Man knüpft Beziehungen, offeriert Unterstützung und sucht nach ideologischen Anknüpfungspunkten. Putin will im neuen EU-Parlament diejenigen sehen, die in das System der sieben ideologischen Punkte passen. ... Homophobie, Impfgegnerschaft, Verherrlichung traditioneller Familienwerte, Durchsetzung 'nationaler Interessen kleiner Länder' wie im Falle Slowakei/Ungarn, Antisemitismus, Ausländerhass, Waffenruhe in der Ukraine.“