Europa rückt nach rechts: Was heißt das?
Das amtliche Endergebnis der Wahl zum Europäischen Parlament steht noch nicht ganz fest, aber die Tendenz ist klar: Liberale, Grüne und Sozialdemokraten verlieren deutlich, Konservative, Rechtspopulisten und Rechtsextreme legen kräftig zu. Damit verschieben sich die Kräfteverhältnisse in Straßburg offensichtlich nach rechts. Wie signifikant diese Veränderung tatsächlich ist und was sie bedeutet, diskutiert Europas Presse kontrovers.
Größte Zäsur seit Fall der Berliner Mauer
Von einer Zeitenwende spricht Hürriyet:
„Das war nicht die Richtung, die für den europäischen Kontinent in der neuen Ära nach dem Fall der Berliner Mauer und dem Ende des Kalten Krieges vorgegeben schien. ... Damals herrschte die Meinung vor, dass Werte wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte den gesamten Kontinent durchdrungen hätten und dass sich durch sie eine liberale, auf Pluralismus und Toleranz basierende europäische Ordnung auf dem Kontinent dauerhaft etabliert habe. Alle glaubten, dass sich die Geschichte nun in diese Richtung bewegen und nie wieder umkehren würde. Seit den Wahlen vom 9. Juni ist die optimistische Stimmung bei denjenigen, die sich für das europäische Projekt einsetzen, von Fragezeichen und Sorgen abgelöst worden.“
Rumänisches Anti-Rechts-Bündnis ist selbst illiberal
Aus Sicht der rumänischen Redaktion der Deutschen Welle hat das Vorgehen der Regierungsparteien PSD und PNL, bei der Europawahl mit einer gemeinsamen Liste anzutreten, kein Lob verdient, auch wenn wohl auch dadurch rechtspopulistische Kräfte zurückgebunden wurden:
„Es hat sich bereits gezeigt, dass das Arrangement aus PSD und PNL die Rolle der Opposition vernichtet hat, die Macht im Zaum zu halten. PSD und PNL haben die Kontrolle über die Justiz übernommen, sie haben es geschafft, reichweitenstarke Medien zu kaufen, sie steuern im Eiltempo auf ein illiberales Regime zu. ... PNL und PSD haben die Philosophie von Viktor Orbán übernommen, der vor zehn Jahren in [siebenbürgischen] Tușnad erklärte, dass 'Demokratie nicht unbedingt liberal sein muss'. Aber dieser Weg führt früher oder später in den Abgrund.“
AfD im Europaparlament isoliert
Trotz Platz zwei in Deutschland und 15 Abgeordneten wird der Einfluss der rechtspopulistischen AfD nach ihrem Rauswurf aus ID im neuen Europaparlament wohl beschränkt bleiben, rechnet Club Z vor:
„Für die Gründung einer Fraktion werden mindestens 23 Abgeordnete aus mindestens 7 Ländern benötigt. Es ist unwahrscheinlich, dass es aus so vielen Ländern willige Abgeordnete geben wird. ... Zu den Deutschen werden sicherlich weder Viktor Orbáns Fidesz noch die niederländische PVV von Geert Wilders stoßen. Und die Abgeordneten der bulgarischen [Nationalisten] Wasraschdane allein reichen nicht aus.“
Politik regiert an Sorgen der Menschen vorbei
Das eher schwache Ergebnis der sozialliberalen Regierungskoalition zeigt für Mladina, dass Sloweniens führende Politiker kein Gespür für die wahren Nöte der Menschen haben:
„Die aktuelle slowenische Regierungskoalition hat bis zu den nächsten Parlamentswahlen noch genügend Zeit, um endlich die Gesellschaft zu verstehen. Sie hat Zeit, aber in den vergangenen zwei Jahren hat sie immer noch nicht gezeigt, dass sie genug Menschlichkeit und Einfühlungsvermögen besitzt, um weise auf das zu reagieren, was die Menschen wirklich stört. Die Menschen bedrücken kleine Dinge wie Rechnungen und Preise: Mieten, Urlaub, die Preise in ihrer Lieblingsbar. Regierungen, Parlamentarier und Minister sind über solche Banalitäten des Lebens sehr gern erhaben. Aber das ist das wahre Leben.“
Russischer Einfluss kümmert doch nicht so viele
Verslo žinios kritisiert die hohe Wahlenthaltung in Litauen:
„Der Aufstieg der radikalen Rechten ist besorgniserregend sowohl für proeuropäische Politiker als auch für Gesellschaften, die europäische Werte hochhalten. Russische Tentakel versuchen, immer tiefer in das europäische Bewusstsein einzudringen – es ist kein Geheimnis, dass eine große Zahl europäischer Radikaler von russischem Geld lebt. Passive, gleichgültige Wähler sind für sie eine wahre Wohltat. Es ist erstaunlich, dass fast zwei Drittel der litauischen Bürger, die das Recht (und die Pflicht) haben zu wählen, sich darüber keine Gedanken gemacht haben.“
Rumänien: Starke Mitte dank kluger Taktik
In Rumänien hat das vielkritisierte Wahlbündnis der Regierungsparteien PSD und PNL dazu beigetragen, dass die rechtspopulistische AUR hinter ihren Erwartungen blieb, merkt RFI România an:
„Die Zusammenlegung von Kommunal- und Europawahl, aber auch die gemeinsame Wahlliste von PSD und PNL haben mobilisiert und den pro-europäischen Parteien ein überwältigendes Votum eingebracht – 80 Prozent der Stimmen gingen an sie. ... Die Zusammenlegungen waren heftig kritisiert und Präsident Iohannis angelastet worden. Doch sie haben sich, zumindest auf europäischer Ebene, als fruchtbar erwiesen. Iohannis' Mandat als Präsident läuft am Jahresende aus, doch er hofft auf einen hohen europäischen Posten. Die Wahlergebnisse sprechen für ihn.“
Gut für die Wirtschaft, schlecht für die Demokratie
Yetkin Report kommentiert die Auswirkungen auf die Türkei:
„Zu den negativen Folgen gehört, dass politische Einstellungen wie Fremdenfeindlichkeit und Islamophobie, die früher in Europa als Randerscheinungen galten, jetzt näher an den Mainstream gerückt sind und stärkeren Einfluss auf die Mitte haben. Die EU-Beitrittsverhandlungen [mit der Türkei], die seit einem halben Jahrhundert stagnieren, werden genau so bleiben. Dies könnte die Bemühungen um die Verbesserung der demokratischen Standards in der Türkei weiter beeinträchtigen. Das Erstarken der nationalistischen Rechten in Europa könnte den Wettbewerb zwischen den EU-Staaten verstärken, wovon die Türkei wirtschaftlich profitieren könnte. Ihre Nähe zu Russland, dem Kaukasus und Zentralasien könnte neue Möglichkeiten eröffnen.“
Schock für alle Proeuropäer
Mit den Ultrarechten ist keine Krise in Europa zu bewältigen, warnt Die Presse:
„FPÖ-Sieg in Österreich, Kantersieg des Rassemblement National in Frankreich, klare rechtsnationale Mehrheiten in Italien und Ungarn, eine gestärkte AfD in Deutschland: In unterschiedlicher Intensität je Land bedeutet dies einen Schock für alle Proeuropäer, die auf gemeinsame Lösungssuche setzen. Denn mit diesen Parteien ist keine der großen Krisen gemeinsam in Europa zu bewältigen. Sie akzeptieren keine innere Solidarität in der EU – sei es gegenüber Russland, sei es bei der Bewältigung des Klimawandels, der Migration oder der heraufdämmernden Handelskriege mit China und einer USA unter Donald Trump.“
Die Mitte hält noch
Der Aufschwung der Rechten wird aufgebauscht, so The Daily Telegraph:
„Im Straßburger Parlament werden die EU-freundlichen Zentristen, die Grünen und die Sozialisten die Mehrheit der Sitze behalten, was die Chancen von Ursula von der Leyen auf eine zweite Amtszeit als Präsidentin der Europäischen Kommission erhöht. In Malta, Rumänien und Schweden haben Sozialdemokraten den größten Anteil der Stimmen erhalten, was dazu beigetragen hat, dass auch die Mitte-Links-Fraktion ihre Position als zweitgrößte Kraft im Parlament beibehalten konnte – auch wenn sie deutlich schwächer ist als in den 1990er Jahren. Während in ganz Europa von einem Aufschwung der Rechten die Rede ist, ist die Realität viel komplexer.“
EVP muss Farbe bekennen
Das Tageblatt betont:
„Die EVP trägt einen großen Teil Mitschuld an der Normalisierung der extremen Rechten und deren jetzigem Wahlerfolg. Politische Ideen der extremen Rechten wurden übernommen, die Nähe zu ihr gesucht. Das Ergebnis ist jetzt da, und statt ihren ersten Platz zu feiern, sollten die Konservativen sich schämen. Dafür, dass sie der extremen Rechten dabei geholfen haben, salonfähig zu werden. Und vor allem sollten sie sich besinnen und überlegen, auf welcher Seite der Geschichte sie stehen wollen – auf jener, die Europa voranbringt, oder auf jener, die den Nationalismus und damit das Gegenteil der europäischen Idee propagiert. ... Die Christdemokraten der EVP müssen jetzt Farbe bekennen.“
Brüsseler Arroganz brechen
Der Rechtsruck muss auch in der EU-Kommission abgebildet werden, fordert dagegen De Telegraaf:
„In Brüssel werden die ersten Konturen einer Zusammenarbeit sichtbar. Die Sozialdemokraten und die Liberalen haben verloren, backen aber keine kleineren Brötchen. Sie erhöhen sogar den Druck auf die größte Partei, die EVP: Sollte diese mit Rechtsaußen-Blöcken zusammenarbeiten, entziehen sie möglicherweise ihre Unterstützung. Es ist die bekannte Brüsseler Arroganz der Pro-Europäer, die taub sind für die demokratische Stimme ihrer Bürger. Der Ball liegt jetzt bei den Regierungen der Mitgliedsstaaten, die über die Zusammensetzung der neuen Europäischen Kommission entscheiden. Auch dieses Organ muss nach rechts rücken, einer besseren Repräsentation wegen.“
Es wird bei der Rhetorik bleiben
Die Siegerinnen der Rechtsaußen-Parteien werden ihre Vorstellungen schwer umsetzen können, glaubt New Statesman:
„Für die Neue Rechte könnte sich dieser Sieg als der einfachste Teil der Arbeit entpuppen. ... Wenn sie die Richtung der EU ändern wollen, müssen Meloni und Le Pen Brüssel frontal angreifen. ... Wie Meloni letzten Monat auf einer Konferenz in Madrid erklärte, möchten sie die weitere Integration der EU stoppen und die Rückgabe von Kompetenzen an die nationalen Parlamente erzwingen. Das ist ein gewaltiges Ziel, das sich dieser neue französisch-italienische Motor gesetzt hat. Ohne den starken wirtschaftlichen Hintergrund ihrer Länder, der es Frankreich und Deutschland überhaupt erst ermöglicht hat, die EU aufzubauen, bleibt abzuwarten, ob sie ihre Rhetorik Realität werden lassen können.“
Links fehlt die Glaubwürdigkeit
Zum Einbruch der Linken kommentiert El País:
„Die schwindende Unterstützung der Sozialdemokratie, der radikalen Linken und der Grünen zeigt, dass das Problem weder darin besteht, dass die Sozialdemokratie zu blass und angepasst, noch darin, dass die radikale Linke zu resolut war. Um bessere Zeiten anzubieten, müssen sie nicht ihr Programm anpassen, sondern ihre Glaubwürdigkeit zurückerobern. Kurz gesagt: Das Problem besteht nicht darin, dass die Menschen nicht für Gleichheit und soziale Gerechtigkeit sind, sondern dass die Bürger den linken Parteien nicht zutrauen, diese Ziele zu erreichen. Den einen nicht, weil sie zu sehr in ihrer Ideologie verhaftet, den anderen, weil sie zu sehr im System verankert sind, und allen zusammen, weil ihnen der Wind der Geschichte entgegenweht.“