Syrien: Wie umgehen mit den neuen Machthabern?

Das Assad-Regime ist Geschichte, doch die HTS, die es gestürzt hat, ist eine islamistische Miliz, die zwar rechtsstaatliche Garantien verspricht, aber von vielen westlichen Staaten als Terrororganisation eingestuft wird. Diese Woche hat sich der UNO-Sondergesandte für Syrien Geir Pedersen in Damaskus mit den neuen Machthabern getroffen und sich für die Aufhebung von Sanktionen gegen Syrien und die HTS ausgesprochen. Europas Presse ist gespalten.

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Frankfurter Rundschau (DE) /

Hilfe statt Strafe

Was die EU tun und lassen sollte, weiß die Frankfurter Rundschau:

„Natürlich wäre es absurd, wenn die EU ihre Sanktionen gegen das Assad-Regime nach dem Sturz des Diktators gegen das zerstörte Syrien aufrechterhalten würde. ... Darüber hinaus wäre es hilfreich, wenn die Verantwortlichen in den EU-Hauptstädten sich gemeinsam auf Ziele ihrer künftigen Syrien-Politik verständigen würden. Dabei sollten sich einige weniger auf die Fragen konzentrieren, wie die nach Europa Geflüchteten auf schnellstem Weg wieder in ihr Herkunftsland geschickt werden können. Vielmehr sollten sie sich dafür einsetzen, dass das bürgerkriegsgeplagte Land wieder lebenswert wird und die Geflüchteten freiwillig zurückkehren.“

T24 (TR) /

Mit Islamisten ist keine Demokratie zu machen

T24 zeigt sich skeptisch, was die Versprechen der HTS betrifft:

„Wir würden gerne 'extreme Beispiele' wie Afghanistan und den Iran beiseite lassen, aber wir dürfen nicht vergessen, dass die HTS aus Al-Kaida hervorgegangen ist und ihre Kraft aus einer ähnlichen Ideologie bezieht, wenn auch mit anderen politischen Zielen. Zudem wissen wir [in der Türkei] aus eigener Erfahrung, dass dort, wo eine politische Bewegung mit islamistischer Ideologie an der Macht ist, selbst die Umsetzung grundlegender Menschenrechte zu Problemen führen kann. Schon 22 Jahre lang haben wir dies getestet und festgestellt, dass Demokratie unter islamistischer Herrschaft nicht möglich ist.“

Sabah (TR) /

Zu viele Akteure mischen mit

Einige Länder der Region könnten ein erfolgreiches Syrien als Bedrohung für die eigene Zukunft ansehen, schreibt Sabah:

„Abgesehen von den politischen Bedenken sind einige Länder der Ansicht, dass ein instabiles und schwaches Syrien mehr in ihrem Interesse wäre. ... Wenn man bedenkt, dass dieser Bürgerkrieg seit 13 Jahren andauert, regionale und nichtregionale Akteure in diesen Krieg verwickelt sind und es schwierig ist, die Zukunftsperspektiven unterschiedlicher religiöser und ethnischer Schichten zu vereinheitlichen, wird es schwer, ein demokratisches System und stabile Struktur von heute auf morgen aufzubauen.“

Kleine Zeitung (AT) /

Mit Erdoğan arbeiten, aber wachsam bleiben

Die Türkei hat bei der Umgestaltung von Syrien mehr als nur ein Wörtchen mitzureden, meint die Kleine Zeitung:

„Das mag den Europäern, die schon viele Sträuße mit Erdoğan ausgefochten haben, vielleicht nicht gefallen, doch darauf kann angewandte Realpolitik zumeist wenig Rücksicht nehmen. So gesehen ist es richtig und wichtig, dass EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen rasch nach Ankara gereist ist, um bei einem Gespräch mit Erdoğan die Lage zu sondieren. Wichtig ist aber auch, dass die Europäer nicht vor der neuen Macht der Türkei einknicken und wegsehen, wenn es um das Schicksal der Kurden geht: Erdoğans Angst vor einem kurdischen Autonomiegebiet in Syrien könnte nämlich schon bald in einem blutigen Krieg mit vielen zivilen Opfern münden.“

The Irish Times (IE) /

Maximale Unterstützung bitte

Sowohl aus Verantwortung als auch Eigeninteresse kann es für The Irish Times nur einen Ansatz geben:

„Der Sturz des syrischen Assad-Regimes ist ein ermutigendes Bekenntnis zur Freiheit. ... Das Land, das nun vor der Mammutaufgabe steht, eine neue politische und rechtliche Ordnung zu schaffen, seine Regionen zu stabilisieren, humanitäre Hilfe zu organisieren und mit dem Wiederaufbau zu beginnen, verdient maximale internationale Unterstützung. ... Die EU und ihre Mitglieder tragen außerdem echte diplomatische Verantwortung. Sie wären potenziell die Hauptnutznießer der Stabilität, die sich aus einem friedlichen, florierenden und wiederaufgebauten Syrien ergibt, oder aber die Verlierer, wenn das Land in ein von regionalen Mächten geschürtes Chaos zurückfallen sollte.“

Phileleftheros (CY) /

Vorsicht bei der Partnerwahl

Phileleftheros schreibt über Milizenführer al-Dschaulani:

„Jetzt ist er der Auserwählte des Westens und die zehn Millionen Kopfgeld bleiben ihm erspart. 'Allahu Akbar' klingt nicht mehr beängstigend, sondern wie ein Gebet (werden sie uns sagen). …Und der Westen erwartet von ihm, dass er das verwüstete Syrien demokratisiert. Verwüstet durch das vorherige Regime, vergessen wir das nicht. Aber dies ist kein Hollywood-Film, in dem die Rollen von Gut und Böse klar verteilt sind und der Zuschauer Stellung nimmt, um am Ende durch den Sieg des Guten erleichtert zu werden. ... In manchen Geschichten gibt es keine Guten.“

La Stampa (IT) /

Politik der kleinen Schritte

Die EU-Staaten handeln konstruktiv und mit vorsichtigem Optimismus, analysiert La Stampa:

„Für alle ist die territoriale Integrität Syriens ein Schlüsselelement zur Gewährleistung der Stabilität in der Region. Gegenüber der neuen Regierung in Damaskus herrscht eine vorsichtige Offenheit, die an die Erfüllung einer Reihe von Bedingungen geknüpft ist: die Wahrung der Rechte ethnischer und religiöser Minderheiten, die Verteidigung der Rechte der Frauen und der Verzicht auf persönliche Rachefeldzüge. … Spanien hat beschlossen, seine Botschaft in Damaskus wieder zu öffnen, und Deutschland hat einen Sonderkoordinator ernannt, der die Lage vor Ort überwachen soll.“

Frankfurter Allgemeine Zeitung (DE) /

Nicht schon wieder missionieren

Man sollte die siegreichen Aufständischen jetzt nicht gleich wieder mit zu viel Ansprüchen konfrontieren, mahnt die Frankfurter Allgemeine Zeitung:

„Wenn [Deutschlands Außenministerin] Baerbock eine Zusammenarbeit von einem Idealzustand abhängig macht, zu dem Frauenrechte und Minderheitenschutz gehören, dann hat das mehr mit deutschen Ansprüchen zu tun als mit der syrischen Realität. In der arabischen Welt gibt es kein einziges Land, das den Maßgaben des Grundgesetzes genügen könnte; von einer islamistischen Führung ist es am wenigsten zu erwarten. Deutschland muss lernen, dass Außenpolitik nicht Missionierung ist, sondern in erster Linie Interessenwahrung.“

Le Point (FR) /

Böses Erwachen nicht auszuschließen

Auch der Einsatz von Chemiewaffen vor elf Jahren in Syrien hat uns nicht ausreichend hellsichtig gemacht, rügt Le Point:

„Baschar al-Assad hat 2013 die tauben Ohren des Westens offenbart und sein Sturz bestätigt sie paradoxerweise. Reicht diese Gewöhnung an die Resignation so weit, dass sie unseren Scharfblick beeinträchtigt? Die Frage ist erlaubt, wenn man den Erfolg der von al-Dschaulani gestarteten Kampagne bei uns sieht, die darin besteht, uns ein Bild von 'gemäßigten' Islamisten zu verkaufen. … Es wäre lächerlich, überrascht zu sein, wenn das im Grauen endet. ... Wir erinnern uns an die Naivität einiger Kommentatoren, als Kabul 2021 wieder in die Hände der Taliban fiel, die bereits als 'inklusiv' beschrieben wurden. Nun dürfen Frauen selbst auf der Straße nicht mehr sprechen.“

eldiario.es (ES) /

Genauso wichtig nehmen wie die Ukraine

Europa sollte sich diplomatisch einbringen, glaubt eldiario.es:

„Kaja Kallas, die neue Hohe Vertreterin für EU-Außenpolitik, will sich zu Recht auf die Ukraine konzentrieren, doch der Krieg in der Ukraine wird nicht von der EU gelöst werden. Die aktuellen Ereignisse, einschließlich Assads Flucht nach Moskau, haben indes gezeigt, wie die Krisen im Nahen Osten, in Afrika und in Osteuropa miteinander verbunden sind. Das weiß Kallas nur zu gut. Es wird nicht einfach sein, Irans nuklearen Wettlauf zu stoppen und die Sicherheit am Golf zu festigen, aber es könnte mehr Spielraum für Positives geben als angenommen. Die Vorteile wären Deeskalation im Nahen Osten, Nichtverbreitung von Kernwaffen, Brückenschlag zu Trump und Eindämmung Russlands. ... Europa könnte eine entscheidende Rolle dabei spielen.“