2015: Terror, Flucht und Eurokrise
Nicht nur der Streit über Grenzen und Stacheldraht angesichts hunderttausender Flüchtlinge hat den Kontinent in diesem Jahr erschüttert. In der Griechenlandkrise schien der Euro kurz vor dem Aus, Paris war zweimal Ziel terroristischer Attacken, rechtsradikale Parteien und Bewegungen bekamen Aufwind. Gibt es dennoch Grund zum Optimismus für 2016?
Europas annus horribilis
2015 hat die Schwächen der Europäischen Union schonungslos offengelegt, argumentiert der Politikwissenschaftler Cas Mudde auf dem Blog Open Democracy: "Verheerende Terrorattacken, Monate der Unsicherheit über die Zukunft der Eurozone, gewaltige Wahlerfolge für populistische Parteien und eine beispiellose Flüchtlingskrise - es gibt keinen Zweifel daran, dass 2015 für Europa ein annus horribilis war. Sowohl die Europäische Union selbst, als auch die liberalen Demokratien Europas wurden auf eine Weise in Frage gestellt, wie wir es noch nicht erlebt haben. Die eigentliche Frage für das kommende Jahr wird aber sein, ob es sich um ein abnormales Jahr handelte, das bald in Vergessenheit gerät, oder ob es ein Jahr der Transformation war, das die europäische Politik der kommenden Jahre prägen wird? Ganz gleich, wie die Antwort ausfällt: 2015 konnte jeder sehen, dass der europäische Kaiser keine Kleider (mehr) trug. Schlimmer noch, der Kaiser bestritt nicht einmal, dass er nackt war!"
EU übersteht 2015 überraschend gut
Die Europäische Union hat das Krisenjahr 2015 erstaunlich gut überstanden, resümiert die Wochenzeitung Kapital: "Die EU ist angeschlagen. Ihr setzen verschiedene Krisen zu, angefangen von der schon etwas weiter zurückliegenden Griechenland-Pleite und der Ukrainekrise bis hin zur aktuellen Flüchtlingskrise. Angesichts der Drohungen Großbritanniens, aus der EU austreten zu wollen, wenn sie sich nicht ändert, fühlt es sich an, als braue sich ein mächtiger Sturm zusammen. … Doch es gibt auch einen Lichtblick. Die schlimmsten Prophezeiungen für das vergangene Jahr sind nicht eingetroffen. Putin hat keine Panzer ins Baltikum geschickt, die EU ist im Zuge der Griechenlandkrise nicht auseinandergefallen und sie wird höchstwahrscheinlich noch weitere Krisen erfolgreich bewältigen. … Die Ereignisse, die die Welt aus der Balance gebracht haben, werden auch dafür sorgen, dass neue Beziehungen und Zusammenhänge entstehen. Die Welt ist im Wandel begriffen und der hat gerade erst begonnen."
Ideologischer Machtkampf geht weiter
Wir werden auch im neuen Jahr gegen die Kräfte kämpfen müssen, die auf den Zerfall Europas setzen, mahnt die liberale Tageszeitung Le Soir: "Europa startet mit einer Herausforderung unvergleichbaren Ausmaßes in das Jahr 2016. Es ist in zwei Lager gespalten, die ihre unterschiedlichen Positionen deutlich artikulieren. Wer wird den ideologischen Machtkampf in Europa gewinnen: Merkel oder Orbán, Jean-Claude Juncker oder Marine Le Pen? Zudem werden die europäischen Öffentlichkeiten in den kommenden Monaten zwar in unregelmäßigen Abständen aber dabei immer aus unmittelbarer Nähe den amerikanischen Wahlkampf miterleben, der Trump zum objektiven Partner der europäischen Orbáns macht. 2015 haben wir Unvorstellbares erlebt. … Wird 2016 das Jahr, in dem wir es besiegen werden? Und uns dabei treu bleiben?"
Bleibt Frankreich nach Terror seinen Werten treu?
Frankreich stellt sich der terroristischen Bedrohung zum Jahresende nicht mehr so tapfer entgegen wie noch Anfang 2015, kritisiert die kommunistische Tageszeitung L'Humanité: "Im Januar ist es der Republik und ihren Werten weitestgehend gelungen, der Fremdenfeindlichkeit und dem Sicherheitswahn standzuhalten. Im November wurde der an sich legitime Ausnahmezustand zweckentfremdet, um in unserem Land eine Spirale des Misstrauens zu aktivieren und der Rückkehr der Willkür den Boden zu bereiten. Durch den so gefährlichen wie ineffizienten Vorschlag, in Frankreich geborenen Terrorbeschuldigten mit doppelter Staatsangehörigkeit den Pass zu entziehen, wurde die Identitätsdebatte angeheizt - damit man vorgeben konnte, etwas gegen die Terrorbedrohung zu tun. Durch dieses Abgleiten ist ein völlig neues Klima entstanden und die öffentliche Debatte ist nach rechts abgedriftet. Vor diesem Hintergrund wird klar, wie wichtig es ist, die [von der Regierung geplante] Verankerung des Ausnahmezustands in der Verfassung abzulehnen."
Warum die Deutschen jetzt Flüchtlingen helfen
Die Deutschen haben 2015 mit ihrer offenen Haltung in der Flüchtlingspolitik die Welt und sich selbst überrascht, meint der öffentlich-rechtliche Deutschlandfunk und sucht nach den Motiven dafür: "Das Wir-Gefühl einer kosmopolitischen Gesellschaft, das sich [während der Fußball-WM] 2006 noch als jugendliche Sommerlaune artikuliert hatte, wurde im Sommer 2015 zum ethischen Manifest eines gereiften Bürgertums. Die Hilfs- und Willkommensbewegung dieses Jahres hat sich dadurch ausgezeichnet, dass sie nicht auf bestimmte Milieus oder politisch abgrenzbare Kreise beschränkt blieb. Der Impuls, anzupacken, zu helfen, ein freundliches Gesicht zu zeigen, reichte weit über Kirchengemeinden, Hilfsorganisationen und Menschenrechtsgruppen hinaus. ... Dass die Deutschen in ihrer Mehrheit in diesem Jahr so bemerkenswert anders [als noch in den 1990er Jahren] auf die Flüchtlingskrise reagiert haben, dürfte nicht zuletzt Ausdruck eines nicht oft ausgesprochenen, aber wohl doch tief verinnerlichten Gefühls dafür sein, im Laufe der Nachkriegsgeschichte sehr viel Glück gehabt zu haben."
Streit um Flüchtlingsquoten war überflüssig
Mit dem Streit zwischen Ost- und Westeuropa in der Flüchtlingskrise ist in diesem Jahr viel wertvolle Zeit verloren worden, resümiert die liberale Tageszeitung Sme: "Osteuropa hatte in der Flüchtlingsfrage durchaus in vielerlei Hinsicht Recht, aber es hat seine Ansichten schlecht kommuniziert. Die Umverteilung der Flüchtlinge per Quote funktioniert nicht. Logisch dagegen war zum Jahresende die allgemeine Unterstützung der EU für einen europäischen Grenzschutz. Der wird gebraucht, um Schengen zu erhalten. Deutschland und andere EU-Länder haben in diesem Punkt unter dem Druck der Realität ihre Haltung geändert. Schade nur, dass Europa zuvor Monate verlor mit dem überflüssigen Streit über die Quoten. Die extremen Ansichten von [Ungarns Premier] Viktor Orbán, [dem slowakischen Premier] Robert Fico und [dem tschechischen Präsidenten] Miloš Zeman, die sich überhaupt nicht um die Menschen scherten, die Hilfe brauchten, stießen zurecht auf Unverständnis in Westeuropa."
Die Renaissance des Stacheldrahts
Kaum ein Thema hat 2015 die Gemüter so sehr erhitzt, wie der Zaun, der mitten in Europa errichtet wird, meint die liberale Tageszeitung Jutarnji list: "Stacheldraht durchzieht unsere Täler und Wiesen und zerteilt einen Teil der Welt, der sich als frei bezeichnet. ... Hätte Stacheldraht im Jahr 1989 den gleichen Zweck erfüllt wie jetzt, wären der junge Kommunist [und heutige ungarische Premier] Orbán und der slowenische Jugendliche [und jetzige Premier Sloweniens] Cerar hinter dem Draht geblieben. Sie hätten auf der anderen Seite gestanden, auf die 'technische Barriere' geblickt, die sie von den Wundern des Westens getrennt hätte und irgendeine antipathische Phrase gestammelt. ... Zum Glück wussten die Menschen im Europa von 1989 genau, wofür Stacheldraht gut ist: um in Ohio Rinder einzuzäunen. Es wäre schön, wenn es auch heute so wäre."
Berlin ist Europas einziges Machtzentrum
In dem für Europa schwierigen Jahr 2015 kristallisierte sich Deutschland als einzig entscheidende Macht heraus, resümiert die linke Tageszeitung Právo: "Frankreich sind durch die wirtschaftlichen Probleme und durch die bedrohte innere Sicherheit die Hände gebunden. Großbritanniens Verbleib in der EU ist nicht sicher. So ist Deutschland in die Rolle der einzigen Macht hineingewachsen, die sowohl in Washington, als auch in Peking und Moskau respektiert wird. Berlin weiß freilich, dass es ohne die EU nur eine Macht zweiten Grades wäre. Deshalb ist es in seinem Interesse, das Projekt der europäischen Integration um jeden Preis zu bewahren, so sehr dies auch teuer, schmerzhaft und konfliktreich ist. Über das politische Schicksal Merkels und über den Streit über die Flüchtlinge, der Europa teilt, wird aber in Syrien entschieden. Die Zusammenarbeit mit Russland, das über Syrien die europäische Sicherheit beeinflusst, ist wie ein saurer Apfel. Doch in den muss die Kanzlerin beißen."
Orbáns Rechnung ging voll auf
Den Titel "erfolgreichster Politiker 2015" hat wohl Ungarns Regierungschef Viktor Orbán verdient, bemerkt bitter die linksliberale Tageszeitung Der Standard: "Orbán hat wieder einmal sein politisches Fingerspitzengefühl bewiesen. In der globalen Flüchtlingskrise hat er bereits von Juni 2015 an mit einer massiven Kommunikationskampagne auf die Angst vor und die Abneigung gegen muslimische Flüchtlinge gesetzt. Ungarn zählte 2015 insgesamt 449.199 illegale Grenzübertritte, aber nach dem Bau von Zaunbarrieren, der Anwendung von Tränengas gegen Flüchtlingsmassen und dem zügigen Weitertransport nach Österreich und Kroatien sank ihre Zahl von 141.858 im September auf 1729 im November. … [Es] bejahen 87 Prozent der Ungarn (auch der Schriftsteller György Konrád!) den Regierungskurs ... Die Rechnung Orbáns ging auch international voll auf. Er kann sich zu Recht darauf berufen, dass die von sozialdemokratischen Politikern regierten Staaten wie die Slowakei und Tschechien und erst recht Kaczyńskis Polen ihn als Vorreiter und Vorbild feiern."
Kaczyński erweist sich als echter Polit-Stratege
Jarosław Kaczyński, Vorsitzender der nationalkonservativen Regierungspartei PiS, hat in Polen 2015 am meisten strategisches Gespür bewiesen, findet die konservative Tageszeitung Rzeczpospolita: "Als er im November 2014 den damals nahezu unbekannten Andrzej Duda zum Präsidentschaftskandidaten machte, anstatt sich selbst mit Bronisław Komorowski zu messen, dachten viele, er habe den Kampf um dieses Amt von Anfang an als aussichtslos betrachtet. Doch dann, nur einige Monate später, erwies sich dieser junge, gemäßigte und fähige Kandidat als wahrer Volltreffer. Genauso positiv entwickelte sich Beata Szydło, die als PiS-Kandidatin für das Amt der Premierministerin das erste Mal im demokratischen Polen einen Sieg errungen hat, der eine Regierungsbildung ohne Koalitionspartner ermöglichte. Kaczyński ist sich seiner Schwächen bewusst und trat deswegen in der Öffentlichkeit in die zweite Reihe. Damit hat er einen hervorragenden Sinn für Strategie bewiesen."
Das schlimmste Jahr für den Euro
Die Griechenlandkrise hat 2015 zum bittersten Jahr seit Bestehen der Eurozone werden lassen, resümiert die konservative Tageszeitung Corriere della Sera: "Am Abend des 5. Juli schien das schlimmste Kapitel der Geschichte der Eurozone geschrieben. Die Mehrheit der Griechen stimmte in einem Referendum gegen das Hilfspaket, das die EU als Gegenleistung für Reformen schnüren wollte. Hätte [Premier] Alexis Tsipras das Ergebnis respektiert, wäre der Austritt Athens aus dem Euroclub unvermeidbar gewesen. ... Politisch gesehen war 2015 somit für die Eurozone das schlimmste Jahr, in dem man den Austritt eines Mitglieds riskiert und nur knapp verhindert hat. Der Sieg, wenn man ihn als solchen bezeichnen will, ist zudem alles andere als endgültig. Denn ein Teil der Wähler in Europa leidet noch unter den Nachwirkungen der Krise und der großen Rezession und erkennt die Ergebnisse, die dank den von der EU auferlegten Reformen erzielt wurden, nicht als Erfolg an."
Niedergang der traditionellen Parteien
Das endende Jahr steht auch für die Erosion der traditionellen Parteien, konstatiert die liberale Tageszeitung Jornal de Notícias: "Es war ein Jahr voller einschneidender Veränderungen in ganz Europa: Während die Linksparteien, deren maximaler Wirkungsgrad sich in Griechenland zeigte, sowie die extreme Rechte, die in Frankreich ein Rekordergebnis erzielte, erstarkten, wurden wir 2015 Zeugen der Implosion der traditionellen europäischen Parteien der Mitte. Dafür gibt es viele Gründe: vom wirtschaftlichen Abschwung bis hin zu den zahlreichen Korruptionsskandalen und der Existenz immer radikalerer und globalerer Herausforderungen wie Terrorismus oder dem Druck der Migrationsströme. Aber auch das fehlende Vertrauen in die politischen Entscheidungsträger muss erwähnt werden. ... Es bleibt das Gefühl, dass neue Handlungsoptionen her müssen, die mehr Raum für die Beteiligung der Wähler schaffen."
Türkische Medien und Justiz gleichgeschaltet
Die türkische AKP-Regierung hat 2015 ihren autoritären Kurs insbesondere nach dem Sieg bei der Neuwahl am 1. November unbeirrt fortgesetzt, klagt die regierungskritische Tageszeitung Today's Zaman: "In diesem Jahr wurden die beiden zentrale Säulen Justiz und Medien von einer machthungrige Truppe torpediert, durchdrungen, manipuliert und einem großen Geschäft untergeordnet. Es waren genau die beiden Säulen betroffen, die dafür sorgten, dass die Geschichte der Türkei - trotz allem - hoffnungsvoll blieb. Nach einem rücksichtslosen und unglaublichen Umbau der institutionellen Genetik dieser beiden Säulen existiert kein Sinn mehr für Vertrauen ins Gesetz, und die öffentliche Wahrnehmung von Wahrheit ist mit den mittlerweile zahnlosen und eingeschüchterten Medien tief gestört. Die Türkei Ende 2015 ist nicht mehr in der Lage, zwischen Recht und Unrecht, Moral und Unmoral zu unterscheiden."
Große Erfolge internationaler Diplomatie
Die Diplomatie hat in diesem Jahr viele Erfolge gefeiert, ohne die verdiente Beachtung zu finden, meint der linksliberale Tages-Anzeiger und nennt als Beispiele die Krise in der Ukraine, den Atomstreit mit dem Iran und die Klimaverhandlungen in Paris: "Diplomatie besteht nicht nur aus den sprichwörtlich diplomatischen Worten, sondern hantiert immer auch mit Drohung und Belohnung - etwa mit Sanktionen gegen Russland und den Iran. In Paris wurde der Ausgleich nicht nur durch Formulierungen im Text des Abkommens erzielt, sondern durch handfeste Milliardenzahlungen an die ärmeren Länder erkauft. Gegen Jahresende strahlten die diplomatischen Erfolge beim Iran auch auf andere Konfliktherde aus: In Libyen wurde ein Friedensabkommen erzielt. Für Syrien entstand eine neue Verhandlungsgruppe, an der von Russland über die Türkei und den Iran bis zu Saudiarabien und den USA zahlreiche Staaten beteiligt sind. Die Gespräche an sich sind schon ein Fortschritt. Das Jahr hat gezeigt, wie sinnvoll es ist, miteinander zu reden."
COP21 muss historischer Wendepunkt werden
Beim Weltklimagipfel COP21 in Paris haben sich mehr als 200 Länder Mitte Dezember auf eine Begrenzung des Ausstoßes von Treibhausgasen geeinigt. Das ungewöhnlich warme Wetter in diesem Jahr sollte uns dazu ermahnen, dass die Beschlüsse auch eingehalten werden, warnt die linksliberale Tageszeitung El País: "Werden die Punkte, auf die man sich geeinigt hat, tatsächlich umgesetzt, wird COP21 zum historischen Wendepunkt der Menschheitsgeschichte. Andernfalls bleibt es eines von so vielen Gipfeltreffen, die viel Staub aufwirbeln und wenig bewirken. ... Dieses Jahr war das heißeste seit Aufzeichnung der Wetterstatistik. Und 2015 bricht den Rekord von 2014. Problematisch ist, dass auch diese Rekordmarke bald hinfällig wird, denn die Experten gehen davon aus, dass die Durchschnittstemperatur unseres Planeten 2016 erneut steigen wird. Brauchen wir noch mehr Signale dafür, dass wir endlich handeln müssen?"