Corona-Herbst: Alle Zeichen wieder auf Lockdown?
Europaweit steigen die Infektionszahlen rapide und brechen in vielen Ländern alle bisherigen Rekorde. Politiker mahnen, dass ohne mehr Disziplin der Bürger neue Lockdowns unvermeidbar sind. Genau davor warnte indes der WHO-Sonderbeauftragte für Corona, David Nabarro; Regierungen sollten die Pandemie vorzugsweise mit anderen Mitteln bekämpfen. Europas Presse skizziert ein Dilemma.
Covid-Patienten sind nicht mehr wert als andere
The Sun begrüßt die Warnungen des WHO-Sonderbeauftragten:
„Lockdowns funktionieren nicht. Sogar 'Experten' geben zu, dass damit weitere Ansteckungen schlicht hinausgezögert werden, bis wir den Deckel wieder wegnehmen und von vorne beginnen. ... Die meisten Menschen, die am Coronavirus sterben, hatten in der Regel eine überdurchschnittlich lange Lebensdauer von 82 Jahren - ein Jahr mehr als der Rest von uns erhoffen kann. Doch Tausende viel jüngere Männer und Frauen, von denen viele Familien großziehen müssen, werden unnötig an unbehandelten Erkrankungen wie Krebs, Schlaganfällen sowie Herz- und Nierenerkrankungen sterben. Was macht das Leben eines Covid-Patienten wertvoller als das dieser Patienten?“
Zögern und Zaudern macht alles nur schlimmer
Wo sich das Virus stark ausbreitet, sollten neuerliche Beschränkungen schnellstmöglich eingeführt werden, appelliert The Irish Times:
„Politiker, die vor unangenehmen Entscheidungen stehen, sind stets versucht, zu warten, bis sich die Lage verschlechtert, so dass für die gesamte Bevölkerung ersichtlich ist, dass drastische Schritte erforderlich sind. Doch wenn man es mit einer tödlichen Infektionskrankheit zu tun hat, vervielfachen Verzögerung und Unentschlossenheit nur die Größe des Problems, dem man sich letztlich ja doch stellen muss. Das wiederum bedeutet, dass die erforderlichen Maßnahmen wahrscheinlich umfassender sein und wesentlich länger in Kraft bleiben müssen.“
Ohne Damm kommt die Sintflut
Wegen der EU-weit am stärksten ansteigenden Infiziertenzahlen in Tschechien will die Regierung in Prag die Maßnahmen gegen Covid noch einmal verschärfen. Deník sieht die Lage äußert pessimistisch:
„Das Gesundheitswesen verfügt über eine bestimmte Anzahl von Betten, Ärzten und Geräten. Sobald die Zahl der Patienten, die Hilfe beim Atmen benötigen, die Grenze überschreitet, müssen die Ärzte Entscheidungen treffen. Das ist hart. Ärzte in Norditalien hat das im Frühjahr verzweifeln lassen. ... Derweil vergnügen sich bei uns Menschen trotz Sperrstunde weiter in der Nähe von Bars, erinnern an eine Prozession von Narren. Nach dem Motto: Nach uns die Sintflut. Die Sintflut kommt, wenn es uns nicht gelingt, unter Aufgabe eines Stückchens Freiheit einen Damm gegen sie zu errichten.“
Mehrheit der Bürger will strengere Regeln
Dass sich die ungarischen Bürger wirklich keine schärferen Auflagen wünschen, so wie die Regierung das kommuniziert, bezweifelt 444:
„Sogar die Umfrage, die die ungarische Regierung selbst vorgenommen hat, zeigt, dass striktere Maßnahmen eine Unterstützung in der Bevölkerung hätten. Eine Einschränkung von Veranstaltungen wird von 79 Prozent unterstützt, eine Schulschließung von 69 Prozent. … 59 Prozent der Antwortenden würden sogar eine Ausgangsbeschränkung befürworten. … Insgesamt kann man mit Blick auf die Befragung der Regierung und die Umfrage des Projekts Hope How Democracies Cope with Covid19 feststellen, dass sich die Einstellungen der Ungarn und der anderen Europäer nicht wesentlich unterscheiden.“
Das kann ja wohl nicht angehen
La Vanguardia ist fassungslos angesichts der Überforderung spanischer Behörden:
„Auf staatlicher Ebene, vor allem aber in Madrid, muss angesichts der Pandemie die Verwaltung Selbstkritik üben: die Fehler analysieren und sie korrigieren. Die Unvorhersehbarkeit und das organisatorische Chaos in der Region Madrid sind beunruhigend. Es kann nicht sein, dass die Gesundheitsbehörden in der Hauptstadt erst jetzt festgestellt haben, dass Ärzte fehlen – und nun versuchen, in halsbrecherischer Geschwindigkeit dreihundert Fachleute einzustellen, Tracer, Desinfektionsteams und Vollzugsbeamte für die Überwachung von Personen, die unter Quarantäne gestellt werden müssen. Sie haben sogar schon die Armee um Hilfe gebeten.“
Es fehlt sogar am Grippeimpfstoff
Alten und Vorerkrankten wird empfohlen, sich gegen Grippe impfen zu lassen, doch das ist in der Türkei leichter gesagt als getan, ärgert sich Sözcü:
„In unserem schönen Land gibt es keinen Impfstoff gegen Grippe- und Lungenentzündung! Was sagt der Gesundheitsminister dazu, was tut er? Impfstoffe gegen Lungenentzündung und Influenza stehen in keinem direkten Zusammenhang mit dem Coronavirus! ... Um nicht mit zwei oder drei Feinden gleichzeitig kämpfen zu müssen, sind Impfungen gegen Grippe und Lungenentzündung unbedingt erforderlich. ... Die Corona-Epidemie dauert seit mehr als sechs Monaten an. Warum konnte der ehrenwerte Gesundheitsminister bis heute keine Impfstoffe besorgen? Wusste er nicht um die Wichtigkeit dieser Impfungen? Oder ist es so schwer, sie zu besorgen? Jetzt schon stehen die Menschen Schlange.“
Fernunterricht nach wie vor kaum möglich
Die Slowakei hat sich auf einen erneuten Lockdown nicht vorbereitet, kritisiert Martin Vančo, Kommentator des Trend Magazins, in Új Szó:
„Das Analyseinstitut des Bildungsministeriums hat schockierende Zahlen veröffentlicht: Während des Lockdowns an Schulen im Frühling haben 52.000 Schüler der Grund- und Mittelschulen gar nicht am Fernunterricht teilgenommen, und weitere 218.000 Kinder konnten kein Internet nutzen, während sie zum Home-Learning gezwungen waren. ... Das Ministerium hätte schon früher mit der Vorbereitung auf den erneuten Fernunterricht anfangen können. ... Am Anfang der zweiten Welle befinden wir uns jedoch in der gleichen Situation wie zu den Zeiten der ersten Welle im März: Nur wenn die Schulen nicht geschlossen werden, haben die Schüler eine Chance auf eine entsprechende Bildung.“
Die Bürger nicht für alles verantwortlich machen
In Griechenland protestieren Schüler für kleinere Klassen und Ärzte für mehr Intensivbetten. Dabei scheint die Regierung ihre Bürger als Gegner zu betrachten, kritisiert das Webportal In.gr:
„Der ständige Verweis auf die Verantwortungslosigkeit der Bürger (zu einer Zeit, in der niemand die Verantwortung übernimmt für die spärlichen Streckenangebote und die Überlastung der öffentlichen Verkehrsmittel, die über 25 Schüler pro Klasse und die unerfüllten Versprechen zur Erhöhung der Intensivbettenzahl) und der Rückgriff auf die Polizei und repressive Praktiken strahlen diese Logik aus. ... Die Gesellschaft trägt keine Verantwortung für Rückschläge, Inkonsistenzen und Lücken in der Pandemiepolitik, wo sie schon die finanziellen und mentalen Kosten restriktiver Maßnahmen trägt. ... Besser wird es dann, wenn es einen Plan und eine Perspektive gibt - und nicht nur Drohungen mit Bestrafung.“
Ökonomische Überlegungen wiegen diesmal stärker
Anders als im Frühling glauben viele Regierungen, dass ein Lockdown - trotz ähnlicher Lage - jetzt falsch wäre, analysiert Polityka:
„Entsprechend äußern sich der deutsche Gesundheitsminister Jens Spahn und der italienische Premier Giuseppe Conte. Auch Johnson, Macron oder der spanische Regierungschef Pedro Sánchez erwägen nicht, die Wirtschaft zum zweiten Mal einzufrieren. Ihre Erklärungen widersprechen häufig den Statistiken und sogar den Stimmen von Wissenschaftlern, die einen zweiwöchigen Lockdown im Herbst als einzige wirksame Waffe gegen eine weitere Viruswelle empfehlen. Jeder auf dem Kontinent erkennt jedoch, dass dieser höchstwahrscheinlich ein Nagel im Sarg der Volkswirtschaften wäre. Ein Schlag, vor dem uns keiner schützen kann, auch nicht der größte Krisenschutzschild.“
Russland setzt auf den schwedischen Weg
Wedomosti vermutet hinter der Zurückhaltung der russischen Behörden angesichts der wieder erstarkenden Epidemie ein umstrittenes Vorbild:
„Schweden hat im Frühjahr keine Beschränkungen erlassen, wie sie in anderen Ländern Europas üblich waren. Anfangs führte das zu einem Schub bei der Sterblichkeit in den Risikogruppen - dafür ist jetzt die Zahl der Neuerkrankten in Schweden gering. Offenbar hat sich die Strategie, auf eine 'Herdenimmunität' zu setzen, doch bewährt. ... Eine verlässliche wissenschaftliche Bestätigung dafür steht noch aus - aber das schwedische Beispiel wird in diesem Kontext ständig diskutiert.“
Existenz der Gastronomie steht auf dem Spiel
Sloweniens Regierung hat unter anderem beschlossen, dass Lokale ab 22:30 Uhr schließen müssen. Dnevnik hat dafür kein Verständnis:
„Das ist eine weitere Maßnahme, die praktisch allen slowenischen Lokalinhabern, die unser Land schon während der ersten Corona-Welle völlig vergessen hat, direkten Schaden zufügen wird. ... Die Restaurants gehörten damals zu den ersten, die ihre Türen schließen mussten, und zu den wenigen, die ihre Aktivitäten ganz einstellen mussten. Als die Bars endlich wieder zu öffnen begannen, war es praktisch Sommer, und potenzielle Gäste, die die Quarantäne satt hatten, waren bereits in den Urlaub geflohen. Warum Wirtschaftsminister Zdravko Počivalšek keine großzügigen staatlichen Hilfen für Restaurants beschlossen hat, ist schwer zu sagen. Tatsache jedoch ist, dass viele Lokale ohne sie einen weiteren Schock nicht überstehen werden.“
Staat sollte helfen, nicht drohen
In Großbritannien hat die Regierung in den vergangenen Tagen die Corona-Regeln mehrfach verschärft, unter anderem wurden am Wochenende drakonische Bußgelder für Quarantäne-Verstöße verkündet. The Guardian klagt:
„Der Staat stärkt seine Macht, Misstrauen zu säen und zu bestrafen. Und versagt dabei bei seinen helfenden und schützenden Aufgaben, die eine viel bessere Reaktion auf die Pandemie wären. Die Polizei hat zahllose neue Befugnisse, aber es hat mehr als sechs Monate gedauert, bis die Regierung ärmeren Menschen, die sich isolieren müssen, halbwegs angemessene finanzielle Hilfe anbot. ... Wenn man den Menschen praktische Hilfe bietet und klare Handlungsanweisungen gibt, werden sie mit großer Wahrscheinlichkeit tun, was nötig ist. Wenn man sie mit oft unverständlichen Regeln drangsaliert, mit Geldstrafen droht und sie zum Petzen ermutigt, wenden sie sich ab.“
Mehr Tests, weniger Darwin
Auch in den Niederlanden wurden die Corona-Auflagen zuletzt wieder ausgeweitet. Dass die Bürger wenig Lust zeigen, sich daran zu halten, hat die Regierung auch sich selbst zuzuschreiben, klagt NRC Handelsblad:
„Der Appell an 'ein starkes Gefühl für die alle betreffende Notwendigkeit' kommt nur dann bei allen 17 Millionen Niederländern an, wenn der Staat selbst das Gefühl dieser Notwendigkeit ausstrahlt - indem er zum Beispiel dafür sorgt, dass es genug Menschen und Mittel gibt, um Bürger schnell auf Corona zu testen. ... Niemand will zurück zu einem 'intelligenten' Lockdown. Den kann auch die Wirtschaft nicht vertragen. ... Die Regierung sagt, dass wir alle an einem Strang ziehen müssen. Aber vorläufig ist 'neue Normalität', dass die Schwächeren drinnen bleiben müssen und die Stärkeren weiter leben können wie bisher. “
Eine Hungerrevolte wird niemand riskieren
Radio Kommersant FM rechnet für Russland trotz eines deutlichen Anstiegs der Infektionszahlen nicht mit einem neuen Lockdown:
„Eine neue Runde der Selbstisolation könnte nicht nur Demos, sondern, ganz banal, Hungeraufstände auslösen. Und ob die Rebellierenden dabei husten oder etwas riechen können, ist zwar nicht ohne Bedeutung, aber in diesem Fall zweitrangig. ... Die in den letzten Monaten in Russland und weltweit gemachten Erfahrungen zeigen, dass eine Quarantäne bei der Bekämpfung der Seuche durchaus hilft. Aber eine Bevölkerung ohne große Finanzreserven in ihren eigenen vier Wänden einzuschließen, ist äußerst gefährlich - für den Wohlstand der Menschen wie für die Stabilität des Systems insgesamt.“
Österreich braucht den Leidensdruck
Im Frühjahr hat sich Österreich dank Lockdown und Obrigkeitshörigkeit schnell erholt, erklärt Die Presse, um dann fortzufahren:
„Und genau das war - besser gesagt, ist - unser Problem. Österreich funktioniert offenbar in Ausnahmesituationen besser als in der Normalität. ... Als die Maskenpflicht fiel und wir uns als Musterschüler Europas im Eigenlob sonnten, schalteten viele wieder auf 'Normalbetrieb'. Sie fuhren auf Urlaub wie eh und je ... und belächelten jene, die zur Vorsicht mahnten. ... Und jetzt hängen Tausende in der Warteschleife. Die Gesundheits-Hotline 1450 ist spätestens seit Schulbeginn heillos überlastet. ... Die Coronakrise hat uns quasi im Zeitraffer die Stärken, aber auch die Schwächen unserer Gesellschaft vor Augen geführt. Die Grenzen zwischen rücksichtsvoll und rücksichtslos, zwischen solidarisch und egoistisch, zwischen arrogant und kompetent liegen in diesem Land sehr nah beieinander.“
Endlich europäisch antworten
La Vanguardia fordert mehr Kompetenzen für die EU in der Gesundheitspolitik:
„Die Zahlen für diesen Monat sind in der ganzen EU besorgniserregend: 40.000 bis 50.000 Neuansteckungen täglich. ... Das Europäische Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten, eine EU-Behörde, empfiehlt Massentests, um die Pandemie zu stoppen. Das sind aber nur Empfehlungen. Weil Brüssel nicht die nötigen Kompetenzen hat, gibt es keine gesamteuropäische Antwort auf das Virus und keine Koordination. ... Die EU will die bestehenden Seuchenbekämpfungs- und Arzneimittelbehörden stärken und eine neue schaffen, um die Reaktionsfähigkeit zu verbessern. ... Das geht in die richtige Richtung - wenn auch angesichts der Verbreitung des Virus zu langsam. ... Die EU ist sich sicher, dass es eine zweite Welle geben wird. Jetzt geht es darum, die Fehler, die wir im März gemacht haben, zu vermeiden.“