Türkei: Was wird Erdoğans dritte Amtszeit bringen?
Recep Tayyip Erdoğan hat seine dritte Amtszeit als Präsident der Türkei angetreten. Nach seiner Vereidigung im Parlament stellte er sein neues Kabinett vor. In der Stichwahl am 28. Mai hatte er sich mit 52,2 Prozent gegen Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu (47,8 Prozent) durchgesetzt. Was das für die Zukunft insbesondere auch der Nato heißt, beschäftigt Europas Presse.
Jetzt geht's erst richtig los mit der Autokratie
Erdoğan wird das Land nur noch mit eiserner Hand regieren, befürchtet Politologe Baskın Oran in Artı Gerçek:
„Erdoğan will nun den IBB-Bürgermeister İmamoğlu verurteilen und die HDP ausschalten. Die neueste Nachricht ist: Er lässt die Immunität von Kılıçdaroğlu aufheben. Der Justiz wurde sogar der Weg für dessen Strafverfolgung geebnet. Erdoğans Wesen und seine Ideologie sowie die Situation, in der er sich befindet, gebieten eine Verhärtung. Darüber hinaus wird er sich nun auf das am weitesten rechts stehende Parlament in der Geschichte der Republik stützen. Es ist sehr schwierig für ihn, die 'Pforten der Hölle' nicht weit zu öffnen. Das ist leider die Situation. Ich hoffe, ich liege falsch.“
Gezielt Deals suchen
Europa kennt Erdoğan und sollte daraus einen Nutzen ziehen, fordert Slate:
„Er ist nun etwas weniger unberechenbar als zuvor. Er scheut sich nicht, menschliches Elend auszunutzen, um Druck auf seine Gesprächspartner auszuüben? ... Er kokettiert mit der Idee einer neuen Weltordnung mit Russland und China? Na und! Es liegt an uns, uns anzupassen. Und warum entscheiden wir uns nicht zum Beispiel offen für den Transaktionsmodus, wie es Joe Biden am Abend des 28. Mai tat, indem er die Freigabe der Lieferung von F-16 an die Aufhebung des türkischen Vetos gegen die Nato-Mitgliedschaft Schwedens knüpfte? “
Verhältnis mit Armenien könnte sich normalisieren
Bei der Amtseinführung am Samstag war auch der armenische Premier anwesend. Ein hoffnungsvolles Signal, urteilt Milliyet:
„Indem Premier Nikol Paschinjan an der Einführungszeremonie des Präsidenten teilnahm, hat er für die Menschen beider Länder einen Schritt von enormer Bedeutung getan. Nachdem die Türkei Armenien dazu gebracht hat, die Besatzung [sic] Bergkarabachs aufzuheben und nun Schritte zur Öffnung der [seit 1993 geschlossenen türkisch-armenischen] Grenzübergänge einleitet, zeigt dies die Entschlossenheit Armeniens, einen realistischen Weg einzuschlagen. Das Erreichen dieser Schritte ist ein Vorbote vieler, ja sehr vieler guter Dinge sowohl für die Armenier als auch für Aserbaidschan und die türkische Nation.“
Nato bleibt abhängig von türkischen Interessen
Diário de Notícias ist sicher, dass das Tauziehen um die Nato-Mitgliedschaft Schwedens nun weitergehen wird:
„Die Unterstützung für die Ukraine, ohne jedoch Sanktionen gegen Russland zu verhängen, ist ein Beispiel für die komplizierten Kompromisse der türkischen Diplomatie, ebenso wie die Anwesenheit der Staatsoberhäupter von Aserbaidschan und Armenien bei der Amtseinführungsfeier; aber es ist Erdoğans Kombination aus Pragmatismus und Erfahrung, die die Erwartungen schürt. Stoltenberg war in Ankara, Biden hat sich in Amerika überzeugt gezeigt, dass Schweden der Nato beitreten werde. Bis zum Gipfeltreffen in Vilnius im Juli wird es wahrscheinlich noch Entwicklungen geben, aber immer mit den nationalen Interessen der Türkei im Hintergrund.“
Schweden wird bald aufatmen können
Kaleva ist überzeugt, dass die Türkei schon bald der schwedischen Nato-Mitgliedschaft zustimmen wird:
„Nachdem Erdoğan am Sonntag für eine neue fünfjährige Amtszeit gewählt wurde, muss er sich vor seinem heimischen Publikum nicht mehr als starker Mann präsentieren, der die Nato unter seiner Fuchtel hat. Die Tatsache, dass Erdoğan die [von Biden versprochenen] Kampfjets wirklich haben will, machen ihn gefügiger. … Die Kampfjets sind der Hebel, mit dem Erdoğan unter Druck gesetzt wird. Ab dem 1. Juni wird es für Erdoğan zudem einfach sein, seine Kehrtwende zu rechtfertigen. In Schweden tritt am Donnerstag ein neues Terrorismusgesetz in Kraft, das auch die Haltung gegenüber der kurdischen Organisation PKK verschärft.“
Er wird Stockholm zappeln lassen
Schweden wird weiter auf Erdoğans Zustimmung zu einem Nato-Beitritt warten müssen, prophezeit hingegen Wprost:
„[Es] herrscht die Hoffnung vor, dass sich der von der türkischen Regierung verzögerte Prozess nach den Wahlen stark beschleunigen wird. ... Man kann sich jedoch des Eindrucks nicht erwehren, dass Erdoğan die Schweden nicht so einfach vom Haken lassen will. Nachdem er seine politische Dominanz erneut bewiesen hat, wird der Präsident wahrscheinlich alles tun, um sicherzustellen, dass die Frage der Ratifizierung der Nato-Erweiterung um Schweden zum würdigen Auftakt seiner nächsten Amtszeit wird. ... Die ganze Welt soll mit angehaltenem Atem verfolgen, wie Erdoğan entscheidet, wer dem mächtigsten Militärbündnis der Welt beitreten wird und wann.“
Unfaire Bedingungen
Die Legitimität der Wahl zweifelt Cumhuriyet an:
„Wir sollten uns wirklich fragen, ob man dies eine Wahl nennen kann. Wie der Name schon sagt, müssen für eine 'Wahl' die Bedingungen gleich und der Wille frei sein. Doch so ist es nicht, das wissen wir alle. Die eine Seite hat Panzer, Kanonen, Schiffe und Flugzeuge sprechen lassen. Die andere Seite wurde geknebelt, um zu verhindern, dass sie einen Ton von sich gibt. Und dann wurde dieses Theater Demokratie genannt.“
Oppositionsführer klebt an seinem Posten
Dass der Oppositionsführer keine Verantwortung für sein Versagen bei der Wahl übernimmt, ärgert das oppositionelle Onlineportal T24:
„Kılıçdaroğlus Rede unmittelbar nach dem Bekanntwerden seiner Wahlniederlage zeigt, dass man einige Dinge aufgeben muss, um in der Türkei Politik zu machen, und eines der wichtigsten dieser Dinge muss das Schamgefühl sein. Anders ist es nicht zu erklären, dass er nach einer Wahlniederlage immer noch sagen kann: 'Wir werden unseren Kampf fortsetzen, unser Marsch geht weiter und wir sind hier'. Normalerweise hätte er auf den im Sommer stattfindenden Parteitag verweisen müssen, um den Weg für seine Partei frei zu machen. Stattdessen ging er nicht einmal auf seine Verantwortung für das ein, was die Türkei in den nächsten fünf Jahren durchmachen könnte.“
Druck auf Ankara muss erhöht werden
Irish Independent sieht drei unmittelbare Folgen der Wiederwahl Erdoğans:
„Erstens: Die Türkei wird sich weiter vom Westen entfernen. Zweitens: Die Abwärtsspirale der türkischen Wirtschaft wird sich fortsetzen. Und drittens: Das außenpolitische Establishment der USA wird Washington drängen, sich mit Ankara zu arrangieren und argumentieren, dass dies besser sei als fünf weitere Jahre erbitterter Schärfe. Die Regierung von US-Präsident Joe Biden sollte der Logik der ersten beiden Punkte folgen und die Argumentation des dritten Punktes zurückweisen. Statt eine Versöhnung mit Erdoğan zu überstürzen, sollte der wirtschaftliche und diplomatische Druck erhöht werden, bis Erdoğan bereit ist, die amerikanisch-türkischen Beziehungen neu zu gestalten.“
Garant für Stabilität zwischen Ost und West
Europa sollte die Wiederwahl Erdoğans als Chance für einen Neuanfang der Beziehungen begreifen, meint der Kurier:
„Erdoğan bleibt auch nach 20 Jahren an der Macht. Er hat alles dazu getan, sie zu behalten: Ausschaltung unliebsamer Gegner, Missbrauch der Justiz, Gängelung der Medien, Muskelspiel im Ausland - das Sündenregister des türkischen 'Paschas' ist lang. … Vielleicht ist die nächste Zukunft für beide Seiten entspannter: Erdoğan muss nach der gewonnenen Wahl nicht mehr den Haudrauf geben; Europa kann versuchen, mit dem Mann am Bosporus wieder ins Gespräch zu kommen. Auch, weil es ihn als Garant für Stabilität an der Grenze von Orient und Okzident brauchen könnte.“
Stabilitätsversprechen und unfairer Wahlkampf
Zwei wichtige Gründe für den Wahlsieg macht Politologe Raul M. Braga Pires in TSF aus:
„20 Jahre politische Karriere als Premier und dann als Staatspräsident versichern den Wählern genau das, was viele Türken während der Wahlkampfzeit sagten und was sich so zusammenfassen lässt: 'Ein Versprechen, das dieser Mann gegeben hat, ist ein gehaltenes Versprechen. Daran kann in der Türkei niemand zweifeln, er hat sich bewährt. Erdoğan gibt uns die Garantie, dass er sein Wort nie gebrochen hat.' Dies und die Tatsache, dass der gesamte Staatsapparat für die Wiederwahlkampagne des Kandidaten Erdoğan mobilisiert wurde, waren entscheidende Faktoren für das Endergebnis.“
Massenhafte Gehirnwäsche
Inwieweit die Wahl nur ein Spektakel in einer Scheindemokratie war, erörtert Népszava:
„Die Abschaffung der freien Presse, die Vereinnahmung des gesamten Medienmarktes und dessen Umwandlung in einen Diener der Macht haben zu einer perfekten potemkinschen Demokratie geführt, in der der größte Wirtschaftskollaps Europas und eine ungeheure Inflation als nationaler Erfolg verkauft werden konnten. Erdoğans Wahlsieg ist kein Wahlbetrug, aber das Ergebnis von lügnerischer Propaganda, von massenhafter Gehirnwäsche.“
Wenig überzeugende Kehrtwende des Herausforderers
Woran der Machtwechsel in der Türkei gescheitert ist, beschäftigt Dnevnik:
„Kılıçdaroğlu hat sich als Notkandidat und unter den sehr ungleichen Bedingungen des Wahlkampfs recht gut geschlagen. Am Ende hat ihn wohl einfach der Mangel an Charisma in der ersten Runde den Sieg gekostet. In der zweiten Runde musste er auf 'Alles oder Nichts' gehen. Kılıçdaroğlu verstärkte seine flüchtlingsfeindlichen Positionen und gab sein bisheriges Image des freundlichen Großvaters auf. Denn nur bei der nationalistischen Wählerbasis verfügte er noch über Wählerreserven. Doch eine solch radikale Kehrtwende in den letzten 14 Tagen hat die meisten Wähler nicht überzeugt.“
Immerhin weiß Griechenland, was es erwartet
Was die weitere Amtszeit Erdoğans für Griechenland bedeutet, schreibt der TV-Produzent und Politikanalyst Giannis Koutsomitis auf Iefimerida:
„Die Wahlen in der Türkei waren weder frei noch fair. ... Dennoch sind Griechenland und allgemein der Westen gezwungen, sich mit Erdoğan abzufinden. Wir werden nie erfahren, ob die Türkei mit Kemal Kılıçdaroğlu als Präsident die Rechtsstaatlichkeit und ihre Beziehungen zum Westen wiederhergestellt hätte und ob das türkische Volk hier eine Chance auf eine bessere und demokratischere Zukunft verpasst hat. Aber die Geschichte wird nicht mit den Worten 'wenn' und 'ob' geschrieben und wir in Griechenland sind am Ende vielleicht besser dran, wenn wir es mit einem Dämon zu tun haben, den wir gut kennen.“
Das wird seine letzte Amtszeit
Trotz des erneuten Wahlsiegs ist die Zeit Erdoğans bald abgelaufen, meint der russische Oppositionspolitiker Lew Schlosberg in einem von Echo übernommenen Telegram-Post:
„Kılıçdaroğlus Ergebnis verdient allen Respekt: Noch nie war ein oppositioneller Präsidentschaftskandidat in der Türkei einem Erfolg so nahe. ... Wahrscheinlich ist dies Erdoğans letzte Amtszeit. Die türkische Gesellschaft wird sich verändern, allmählich wird ein Teil von ihr dieser langen eigensinnigen Herrschaft überdrüssig werden und einen neuen Führer fordern. Ob dies wieder Kılıçdaroğlu sein wird, lässt sich heute nicht sagen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Zeit einen jüngeren Politiker hervorbringen wird, der in der Lage ist, die Türkei zu den Staatsidealen Atatürks zurückzuführen.“
Wackelkandidat im Verteidigungsbündnis
Ernsthafte Sorgen um die Rolle der Türkei innerhalb der Nato macht sich Jylllands-Posten:
„Ein gestärkter Erdoğan könnte sich radikalisieren. Es ist nicht sicher, dass Schweden beim Nato-Gipfel in anderthalb Monaten von ihm ein gnädiges Nicken für die Nato-Aufnahme erhält. Es ist keinesfalls sicher, dass Erdoğan seine Mitte-Position zwischen dem Westen und Russland aufgibt. ... Die Nato kann froh sein, wenn keine größere Debatte darüber entbrennt, warum man die Türkei nicht aus der Allianz wirft, nachdem Erdoğan seine Partner ständig hintergeht. Die Lage der Türkei am Rande des nahöstlichen Pulverfasses ist zu wichtig, um dies ernsthaft zu erwägen. Aber faktisch hat Erdoğan die Türkei aus der Wertegemeinschaft geführt, die die Nato auch darstellt.“