2024 – ein gutes Jahr für die Demokratie?
Fast die Hälfte der Weltbevölkerung ist 2024 an die Urnen gebeten worden: ein echtes Superwahljahr. Welche Erkenntnisse lassen sich aus den Ergebnissen dieser Wahlen ableiten? Und wie stehen die Chancen, dass in Syrien nach dem Ende des Assad-Regimes ein demokratischer Neuanfang gelingt? Kommentatoren ziehen Bilanz.
Verlust der Mitte
Extreme Kräfte gewannen dieses Jahr die Oberhand, klagt La Stampa:
„Wer weiß, ob sich nicht künftige Historiker an das Jahr 2024 als das entscheidende Jahr für das Schicksal des Planeten erinnern werden. ... Man denke nur an die Zahl der politischen Wahlen, die in diesem Jahr stattfanden. Zu den wichtigsten gehörten die in Frankreich, Österreich, Belgien, den USA und Japan sowie die Erneuerung des Europäischen Parlaments. In den meisten Urnengängen setzten sich radikalere Parteien sowohl auf der rechten als auch auf der linken Seite durch oder gewannen zumindest klar an Zustimmung. Das Erstarken von AfD und BSW in den deutschen Bundesländern, die Erfolge von Le Pen und Mélenchon in Frankreich und der Triumph von Donald Trump in den USA sind nur einige der augenfälligsten Beispiele.“
Das System hat seine Stärke bewiesen
Freie Wahlen haben in einer Reihe bedeutender Staaten zu positiven politischen Veränderungen geführt, freut sich hingegen The Economist:
„In Indien hatte die zunehmend illiberale Regierung von Narendra Modi erwartet, ihre Dominanz auszubauen. Doch die Wähler machten ihr bei einer eindrucksvollen Machtdemonstration der Demokratie einen Strich durch die Rechnung. ... In Südafrika verlor der ANC seine Mehrheit. Anstatt dem Wahlergebnis die Anerkennung zu verweigern - was viele Befreiungsbewegungen tun -, entschied sich der ANC dazu, mit der reformorientierten Democratic Alliance zu regieren. In den USA begann das Jahr mit Warnungen vor Gewalt rund um die Präsidentschaftswahl. Donald Trumps klarer Sieg bedeutete, dass Amerika diesem Schicksal entging.“
Volksvertreter verlieren an Vertrauen
Immer mehr Menschen sind mit dem System unzufrieden, stellt Jutarnji list fest:
„Globale Untersuchungen der letzten Jahre zeigen die Frustration mit dem Funktionieren der repräsentativen Demokratie. .... Es zeigt sich, dass sich die Bürger nicht verbunden fühlen mit den politischen Anführern und Institutionen, und eine Mehrheit in vielen Nationen glaubt, die gewählten Volksvertreter interessierten sich nicht für die Meinung der einfachen Bürger. Viele sagen, es gäbe keine politische Partei, die ihre Standpunkte gut vertritt, und 'Menschen wie du und ich' hätten nur wenig oder gar keinen Einfluss auf die Politik in ihrem Land. Solche Frustrationen mit der politischen Klasse haben Chancen für Rechtspopulisten und andere Herausforderer des politischen Status quo eröffnet.“
Migranten als Sündenböcke
Der Wahlsieg von Donald Trump zeigt beispielhaft einen Trend im Wählerverhalten, analysiert De Morgen:
„Wut über eine subjektiv erlebte Abnahme der Kaufkraft und die Ablehnung der illegalen Migration verhalfen Trump zum Sieg. In den Köpfen vieler Wähler sind diese Faktoren miteinander verwoben. Migration bietet für sie eine Erklärung für alles, was schiefläuft oder sich verändert in der Gesellschaft: Inflation, Arbeitslosigkeit, aber auch gesellschaftliche Entwicklungen und Diversität. Getrieben von den Populisten wird 'der' Migrant so zum idealen Sündenbock und 'Feind des Volkes'. Das sehen wir auch bei uns.“
Von Russland gezielt ins Visier genommen
Contributors ordnet Moskaus Einflussnahme in Moldau, Georgien und Rumänien ein:
„Russland verfolgt seine Ziele in Osteuropa durch eine Kombination von Taktiken: Es erobert Gebiete, wo es Marionettenregimes einsetzt, es benutzt lokale Politiker, um demokratische Prozesse zu kapern und die Regierungsführung zu destabilisieren. Es sorgt für Wahlturbulenzen und lähmt Institutionen. Moskau versucht auf diese Weise, diese Demokratien zu kapern und die westlichen Verbündeten von der Verteidigung der Ukraine abzulenken. Künftig Wahlbeeinflussung und weitere Angriffe abzuwehren, ist nicht nur für die Stabilität der Republik Moldau, Georgiens und Rumäniens wichtig, sondern für die Sicherheitsarchitektur Europas insgesamt.“
Zu früh für ein Urteil zu Syrien
Auf Diktatur folgt nicht automatisch Demokratie, gibt die Kleine Zeitung zu bedenken:
„Laut Syriens De-facto-Machthaber Ahmed al-Sharaa – eben noch Abu Mohammed al-Jolani – könnte es vier Jahre bis zu einer Wahl dauern. Und diese könnte eine Farce sein. Hoffnungen, das Land werde sich in eine stabile, bessere Zukunft bewegen, sollten also nicht zu hoch angesetzt werden. Abzuwarten ist auch, was von Sharaas Ankündigung, seine auf der UN-Terrorliste stehende Islamisten-Miliz Hayat Tahrir al-Sham (HTS) im Rahmen eines 'nationalen Dialogs' aufzulösen, bleibt. Syrien ist ein Land in anhaltender Schwebe. Dass Sharaa nationale Einheit beschwört und alle religiösen Gruppen und Ethnien anspricht, ist klug gewählte Taktik. Für das geschundene Volk aber geht es um lebenswerte Perspektiven.“
Rechtsstaatlichkeit ist der Schlüssel
La Croix blickt nach Syrien und sieht nach dem Ende des Assad-Regimes ein entscheidendes Element für eine gelingende Zukunft:
„Bei der Bewältigung des Übergangs muss die neue Regierung damit beginnen, auf Versöhnung und Einheit hinzuarbeiten. ... Auf diesem Weg wird das Schicksal der alawitischen Minderheit sowie das der Christen international sehr genau beobachtet werden. Um eine Versöhnung zu erreichen, ist die Einführung einer echten Justiz unerlässlich, um die Täter der in den vergangenen Jahren wirklich begangenen Verbrechen zu verurteilen - allen voran den nach Russland geflohenen ehemaligen Diktator. Diese darf das Land jedoch keinesfalls in einen Teufelskreis der Vergeltung stürzen.“