Brexit-Votum: Wie sich die EU verändern muss
Nach dem Brexit-Votum der Briten ist unklar, wann offizielle Austrittsverhandlungen beginnen und in welchem Verhältnis Großbritannien und die EU künftig stehen werden. Kommentatoren präsentieren Ideen für eine Neuordnung Europas.
EU muss sich auf das Wesentliche besinnen, fordert Tahar Ben Jelloun
Nach dem Brexit muss sich Europa erneuern und unnötigen Ballast abwerfen, fordert der Schriftsteller Tahar Ben Jelloun in Ouest France:
„Dieser Ausstieg ist vielleicht gar keine so schlechte Nachricht wie man behauptet. Er wäre eine gute Gelegenheit für Europa, sich zusammenzureißen und sich auf einer soliden und kohärenten Basis neu zu erfinden. … Länder sind dem harten Kern beigetreten, die ihn weder gefestigt noch bereichert haben. Im Gegenteil, viele sind schnell auf den US-amerikanischen Kurs eingeschwenkt, wie zum Beispiel Polen. Andere haben ihre Grenzen angesichts der Not der Migranten geschlossen und so dazu beigetragen, die Seele Europas, seine Werte und Prinzipien, mit Füßen zu treten. Wir müssen uns wieder auf das Wesentliche besinnen, Bürokratie verbannen, mit Verschwendung, hohlem Gerede und leeren Versprechungen Schluss machen, denen keine Taten folgen. Europa ist eine Notwendigkeit, besonders, wenn es sich angesichts der Herausforderungen und der Realität wieder herrichtet und dabei bescheiden und konkret bleibt.“
Die EU muss sich gar nicht neu definieren, meint Peter Sloterdijk
Nach dem Brexit-Votum haben viele Politiker in der EU eine Erneuerung Europas gefordert. Der Philosoph Peter Sloterdijk erteilt dieser Forderung in einem Gastbeitrag für das Handelsblatt eine Absage:
„Was wir 'Europa' nennen, ist schon seit gut einem halben Jahrhundert ein weitgehend selbstläufiger Prozess, der sich von den Willensbekundungen und Stimmungsschwankungen der Mitglieder unabhängig gemacht hat. Die Stärke Europas besteht darin, dass es ein Kooperationssystem bildet, das in der Teilung von Sachvorteilen und gemeinsamen 'Wert'-Erfahrungen gründet, ohne Rücksicht auf Turbulenzen und Stimmungen des Tages. Dieses Prozess-Europa wird seinen systemisch vorgezeichneten Weg weitergehen, egal, was 'Neugründer' und sonstige Schwärmer über seine Uneinigkeit in finanzpolitischen, flüchtlingspolitischen, sicherheitspolitischen und anderen Fragen sagen mögen. ... Europas Stärke beruht in der Stimmungsunabhängigkeit seiner Institutionen. Die Europäische Union ist - nach der katholischen Kirche - das erste populismusresistente Gebilde der Geschichte.“
Maximale soziale Rechte für alle Europäer
Will Europa als Gemeinschaft bestehen, dann müssen die unterschiedlichen Sozialstandards in den einzelnen Ländern EU-weit angeglichen werden, rät Dnevnik:
„Das Problem liegt nicht in dem Dilemma zwischen weniger Europa und mehr Kompetenzen für die einzelnen Staaten und mehr Europa mit supranationalen Institutionen. Ein wenig Phantasie beim Plan für ein neues Europa schadet nicht. Soll Europa als eine Einheit erhalten bleiben, muss es zu einer Gemeinschaft zusammengeführt werden. Einheitliche Direktiven zu Lohn und minimale Standards im öffentlichen Gesundheitswesen, sowie maximale soziale Rechte auf dem gesamten Kontinent sind dafür nötig. ... Es gibt mindestens zwei Europas. In dem einen Europa bekommt man neben Arbeit auch noch soziale Rechte, im anderen Europa hat man mit den sozialen Rechten auch die Arbeit verloren. Europa kann ganz leicht zusammengehalten werden. Man muss Osteuropa für die Arbeiter aus dem Westen Europas attraktiv machen.“
Den Euro wird wohl kein Land mehr einführen
Nach dem Brexit und nach den Erfahrungen, die Griechenland im vergangenen Jahr gemacht hat, dürfte die Erweiterung des Euroraums wohl erst einmal ins Stocken geraten, mutmaßt Večernji list:
„Vor einem Jahr hat die EZB es so lange abgelehnt, griechischen Bürgern, Arbeitern und Rentnern ihre privaten Euros von ihren Privatkonten auszuzahlen, bis die griechische Regierung die von der Europäischen Kommission verlangten Reformen annahm. ... Kein Volk kann es sich erlauben, erpresst zu werden. Die europäischen Völker haben die monetäre Union angenommen, weil ihnen Schutz vor Erpressungen und Angriffen, monetäre Liquidität sowie ein freier und ungehinderter Geldfluss zugesichert wurde. Dieses Versprechen wurde vor einem Jahr grob missachtet und nach Griechenland und dem Brexit wird sich kaum einer der acht Staaten außerhalb der Eurozone dazu entschließen, den Kopf in die Schlinge namens Euro zu legen.“
Wir brauchen gesamteuropäische Parteien
Das Brexit-Votum hat verdeutlicht, dass die EU nur überleben wird, wenn länderübergreifende europäische Parteien entstehen, meint der Europa-Aktivist Niccolo Milanese in The Independent:
„Die Europäische Kommission ist zunehmend unpolitisch geworden. Sie kann rechtliche Schritte einleiten aber nicht in eine öffentliche Debatte eingreifen und für Europa und seine Bürger geradestehen. Natürlich sollte das Europäische Parlament diese Rolle einnehmen - aber es wird durch künstliche Parteien gelähmt, die nicht wirklich europäisch sind, sondern eine mehr oder weniger stimmige Ansammlung von nationalen Parteien. Das EU-Parlament ist damit weit weg von den Menschen, die es vertreten soll. ... Es sollte nicht nur eine politische Partei oder einen Anführer geben, der für Europa spricht, sondern mehrere. ... Das sollten echte transeuropäische politische Parteien sein, vom gleichen Kaliber wie die europäischen Bürger, die die Parteien vertreten.“
Verkommt Europa zur Handelsunion?
Das Verhältnis der EU zu Großbritannien nach dem Brexit wird prägend sein für die Zukunft der Union, meint Večernji list:
„Von der Frage, wie sich die Trennung von EU und Großbritannien abspielen wird hängt viel ab, unter anderem auch das Überleben der EU. Die Schlüsselfrage: Wird Großbritannien nach dem Verlassen der EU ein sinnvolles und gutes Handelsabkommen mit der EU aushandeln? Hat es damit Erfolg, wäre dies das Ende des europäischen Projekts, das auf den Ruinen des Zweiten Weltkriegs gebaut wurde. Hat Großbritannien damit Erfolg, besteht kein Zweifel, dass auch andere reiche und entwickelte EU-Mitgliedstaaten diesem Beispiel folgen werden wollen. Die EU würde sich in dem Fall aus einer politischen Union, in der es Grundfreiheiten gibt und das Prinzip der europäischen Solidarität stets betont wird, in eine einfache Handelsunion verwandeln.“
Osteuropa wird mehr Macht bekommen
Ost- und Mitteleuropa werden in einer EU ohne Großbritannien mehr Gewicht bekommen, prophezeit der ehemalige ungarische Außenminister, János Martonyi, in der Wochenzeitung Heti Válasz:
„Das Gewicht des europäischen Integrationsprozesses wird sich nach Osten verschieben, die geopolitische und wirtschaftliche Bedeutung Zentraleuropas wird sich erhöhen. Dieser Prozess war schon früher zu beobachten: die deutsche Wiedervereinigung, die Verlegung der deutschen Bundeshauptstadt nach Berlin, die Vereinigung West- und Osteuropas, ein schnelleres osteuropäisches Wirtschaftswachstum, ein sicherheitspolitischer Bedeutungszugewinn für Osteuropa. ... Die Schlüsselfrage ist nun wie so oft Deutschland, die 'conditio Germaniae'. Nach dem Austritt der Briten muss sich Deutschland aufgrund von wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Faktoren nun verstärkt in Richtung Zentraleuropa orientieren. Das ist offenbar auch der deutschen Politik bewusst.“
Rumänien muss sich stärker einmischen
Rumäniens Präsident Klaus Johannis hat die Parteien zur Diskussion über den Umgang des Lands mit dem Brexit-Votum aufgefordert. Rumänien sollte klar zeigen, dass die EU für das Land wichtig ist, fordert der Journalist Ion Ionita in Adevărul:
„Das Land sollte sich schnell entscheiden, was und wen es in der Diskussion um EU-Reformen unterstützt - eine Diskussion, die nach dem Brexit-Votum umgehend beim Treffen der sechs EU-Gründerstaaten begonnen hat. Bislang hat sich Rumänien schüchtern von den großen europäischen Debatten ferngehalten, zur Zukunft der EU geschwiegen. Nichts dazu gesagt, ob es den Euro will oder nicht. Es verhielt sich wie ein Fähnlein im Wind. Damit muss es vorbei sein. Passt uns ein Europa der zwei Geschwindigkeiten? Falls nicht: Was müssen wir tun, um der ersten Gruppe anzugehören? … Es ist Zeit, zu handeln.“
EU-Integration geht auch ohne Briten weiter
Beim ersten EU-Gipfeltreffen nach dem Brexit-Referendum zeigten sich die EU-Staats- und Regierungschefs einig und geschlossen, was Adelina Marini in ihrem Blog euinside Hoffnung für die Zukunft der EU macht:
„Die EU wird weitermachen wie bisher. Man wird weiter über ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten reden, es wird weiterhin Dramen und Krisen und Teilungen geben - in Nord und Süd, Ost und West, alt und neu. Das Gute am Brexit ist, dass er der EU vergegenwärtigt hat, wozu sie überhaupt gegründet wurde und wie hoch der Einsatz ist, der auf dem Spiel steht. Das Gipfeltreffen am 28. und 29. Juni wird in die Geschichte eingehen als das erste Gipfeltreffen, bei dem sich die EU vielleicht zum ersten Mal wahrhaft und bedingungslos einig war. Die EU wird ihren Weg gehen, mit kleinen Schritten, zaghaft und unsicher, bis die mentalen, wirtschaftlichen und sozialen Unterschiede zwischen den Mitgliedsländern verblassen. Danach können die Schritte größer und mutiger werden.“
Brexit könnte Visegrád-Einheit spalten
Wenn es um die Ausgestaltung einer neuen EU gehen wird, könnte die in den letzten Jahren vielbeschworene Einheit der vier Visegrád-Staaten Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn (V4) in die Brüche gehen, betont die Tageszeitung Magyar Nemzet:
„Während Europa nach dem Brexit vor einer totalen Erneuerung steht, versuchen die Regierungen in Polen und Ungarn aus der europaweit wachsenden Unzufriedenheit mit Brüssel politisches Kapital zu schlagen: Sie fordern eine Union souveräner Staaten und geißeln die allzu große Machtfülle Brüssels. ... Derweil ist Prag bestrebt, die Kriegsstimmung mit konstruktiven Tönen zu entschärfen. ... Die Bruchlinien zwischen den Visegrád-Staaten werden aber wohl erst so richtig hervortreten, wenn sie sich im Rahmen einer EU der zwei Geschwindigkeiten werden positionieren müssen. In diesem Fall dürfte die Einheit der V4 wohl große Risse bekommen, wird doch die Slowakei als Mitglied der Eurozone voraussichtlich darauf beharren, Teil Kerneuropas zu sein.“
Zuwanderung kann nur gemeinsam bekämpft werden
Nach dem Brexit-Referendum muss Europa die Vorteile der EU-Mitgliedschaft deutlich machen, fordert Berlingske:
„Die Staats- und Regierungschefs müssen jetzt gemeinsam Antworten auf die Herausforderungen finden, die die Bevölkerungen umtreiben. Der Zustrom von Migranten aus Nordafrika muss gebremst werden. Ansonsten ist es nur eine Frage der Zeit, bis Österreich den Brennerpass schließt und Italien zusammenbricht. Es muss ein Prinzip des Verdienens eingeführt werden, so dass wandernde Arbeitnehmer nicht schon nach ein paar Wochen das Recht auf Sozialleistungen erhalten. Die Euro-Zusammenarbeit muss einer Revision unterzogen werden. ... Gemeinsam ist diesen Aufgaben, dass sie grenzüberschreitend sind und von einem einzelnen Nationalstaat nicht effektiv gelöst werden können. Genau deshalb dient ihre Lösung dazu, den Bevölkerungen zu zeigen, dass man in einer Gemeinschaft stärker ist.“
Bitte keine Wut auf Großbritannien
In einem offenen Brief an Europa hofft der Guardian auf eine möglichst konstruktive Zusammenarbeit zwischen Großbritannien und der EU:
„Sie alle haben angenommen, der britische Pragmatismus würde letztendlich siegen. Wir teilen Ihren Schock und Ihre Sorge. Auch wenn Sie dazu versucht sein könnten: Bitte schreiben Sie uns nicht ganz ab! Viele Briten möchten die engst mögliche Partnerschaft mit der Europäischen Union, und jetzt ist es dringlicher denn je, die Kooperation auf jede nur mögliche Art fortzusetzen. ... Sobald Großbritannien aus der EU ausgetreten ist, kann und sollte es keine zügige Rückkehr erwarten. Das wäre innenpolitisch gefährlich und würde der EU eine enorme Großzügigkeit abverlangen. Aber diejenigen von uns, die den Brexit mit Widerwillen betrachten, hoffen, dass wir eines Tages wieder in den Club eintreten dürfen. Verabschieden Sie uns mit Trauer und Sorge, aber bitte nicht mit Wut, und verriegeln Sie in unser aller Interesse nicht die Tür.“
Soziale und ökologische Wende einleiten
Nach dem Brexit-Votum muss Europa grundlegend verändert werden, meinen die Ökonomen Catherine Mathieu und Henri Sterdyniak auf ihrem Blog bei Mediapart:
„Europa muss sich wandeln, es muss grundlegend überdacht werden: sowohl sein institutioneller Rahmen als auch die politischen Maßnahmen. Unserer Ansicht nach erfordert dies vor allem eine Wende hin zu einer anderen Politik, die abzielt auf Vollbeschäftigung und eine konzertierte Senkung der Ungleichheiten zwischen den Staaten. Außerdem muss die Herrschaft der Finanzmärkte über die Wirtschaft in Frage gestellt werden. Wir brauchen eine aktive Industriepolitik zur Umsetzung der ökologischen Wende, eine an den höchsten Leistungen orientierte Harmonisierung der nationalen Sozialsysteme und eine Steuerharmonisierung zur Beendigung der Steuerflucht der Reichsten und multinationaler Konzerne. ... Nur in diesem Rahmen können institutionelle Fortschritte erreicht und von den Völkern akzeptiert werden.“
Den Haag muss Berlin unterstützen
Nach einem britischen EU-Austritt sollten sich die Niederlande auf die Seite Deutschlands schlagen, um die Übermacht der Franzosen auszugleichen, analysiert der ehemalige liberal-konservative EU-Kommissar Frits Bolkestein in De Volkskrant:
„Großbritannien war immer ein Gegengewicht zur Achse Paris-Berlin. Das war im Interesse der Niederlande. Die Franzosen mögen keinen Wettbewerb. Das Gefühl ist Jahrhunderte alt. Es bestand bereits vor Rousseau. Wettbewerb führt zum Loi de la jungle. Er umgeht den Staat, und das ist für die Franzosen unakzeptabel. Die Deutschen teilen das Gefühl nicht. Aber sie sind doch weniger auf den Markt gerichtet als wir. Außerdem ziehen sie in einer Kontroverse mit Frankreich stets den Kürzeren. ... Die Niederlande müssen sich nun auf die Seite der Deutschen stellen und deren Selbstvertrauen stützen, damit sie dem französischen Druck standhalten. Dabei werden wir unterstützt von den Skandinaviern und den Balten, aber nicht von den Mittelmeer-Ländern. “
In der EU ist Platz für zwei Europas
Nach der Brexit-Entscheidung der Briten sollte sich Europa für eine EU der zwei Geschwindigkeiten entscheiden, fordert der Diplomat Antonio Armellini in Corriere della Sera:
„Das Mantra einer immer engeren Union gilt nur für einige, nicht für alle. Das hat das Referendum gezeigt. Von einer Gemeinschaft zu sprechen, die das gleiche Ziel verfolgt, hat also keinen Sinn mehr. Es ist an der Zeit, zur Kenntnis zu nehmen, dass es in der EU zwei Europas gibt: ein Europa, das die politische Integration anstrebt (das Europa von [Ex-EG-Kommissar] Altiero Spinelli), ein zweites, dem es um Wirtschaft und Binnenmarkt geht (das Europa von Margaret Thatcher). Ein tendenziell überstaatliches Europa auf der einen, ein strikt zwischenstaatliches Europa auf der anderen Seite. Klar getrennt und doch durchlässig, parallel aber nicht im Konflikt. ... Diese Realität zu erkennen bedeutet zwar, das - heikle - Thema einer Reihe von Korrekturen der EU-Verträge in Angriff zu nehmen. Doch zu glauben, nach dem was geschehen ist, sei dies vermeidbar, ist so gut wie unmöglich.“
Jetzt EU-Wirtschaft durch Freihandel stärken
Die EU muss nun unbedingt den Freihandel stärken, um Frieden und Wohlstand zu bewahren und um den Nationalismus einzudämmen, fordert der Ökonom Lars Christensen in einem Gastkommentar für die konservative Tageszeitung Dziennik Gazeta Prawna:
„Ein großer Erfolg der EU ist der freie Verkehr von Waren, Kapital und Arbeit. Jede Abkehr davon hätte einen sehr negativen Einfluss auf alle Europäer - und zwar genauso auf diejenigen, die sich in der EU befinden, als auch auf diejenigen, die nicht der Gemeinschaft angehören. Deshalb ist es besonders wichtig, zu verhindern, dass Nationalismus und Protektionismus erneut die Oberhand gewinnen. Nur so kann Frieden und Wohlstand in Europa bewahrt werden. Klar ist, dass der Nationalismus eine Folge der Stagnation nach der Krise 2008 gewesen ist. Deswegen muss das liberal-demokratische Lager jetzt seine Kräfte bündeln und einen gemeinsamen Wachstumsplan entwerfen. In dessen Zentrum müssen der Freihandel und Wirtschaftsreformen stehen.“
Europa lieber nationalstaatlich organisieren
Angesichts des Brexit-Votums fordert der Ökonom Charles Wyplosz in Le Temps unter anderem die Personenfreizügigkeit abzuschaffen, um die EU zu retten:
„Das wäre eine Zerreißprobe, die oft als Rückschritt oder gar als Verleugnung aufgefasst wird. Dabei wurden vielerorts bereits Stacheldrahtzäune errichtet, das Schengener Abkommen wurde teilweise ausgesetzt. Neben diesem Beispiel gibt es noch viele weitere Themen, die, wenn nicht die Regierungen, so zumindest die Wähler verärgern. Die Regierungen lassen sich von Europa auf zynische Weise nicht selten dazu zwingen, unbeliebte Maßnahmen anzunehmen. Kompetenzen auf die nationale Ebene zurück zu verlagern wäre für viele eine schmerzliche Änderung. Ein mit Blick auf seine Zuständigkeiten und Ambitionen bescheideneres Europa hätte möglicherweise aber größere Überlebenschancen als ein Europa im derzeitigen Format. Und wer weiß, vielleicht würde sich sogar Großbritanniens Austritt erübrigen.“
Vor lauter Wirtschaft nicht die Moral vergessen
Was Europa jetzt braucht, um wieder neu durchzustarten, ist ein Bekenntnis zu Moral und sozialem Wohlstand, fordert Rafael Company i Mateo, Direktor des Museu Valencià de la Illustració i de la Modernitat, auf El Huffington Post:
„Wie soll man für Integration sein, wenn sich in so vielen Gesellschaften Rassismus breit macht und Rechtsextreme in vielen Parlamenten normal geworden sind? Die Antwort ist nicht einfach, aber wir müssen jene Dimension ausbauen, die sich aus reinem Pragmatismus schwächer entwickelt hat als die wirtschaftliche. Europa als ein moralisches Konstrukt, als entschiedenes Ja zur Freiheit, wo sozialer Wohlstand nicht zur entbehrlichen Ware wird. Unsere Generation muss das Erbe jener Männer und Frauen antreten, die für die europäische Identität kämpften. Wir müssen die EU neu gründen. Neue Sprachen, neues Engagement, neue moralische und wirtschaftliche Herausforderungen. Neue Anführer bitte. ... Europäismus ist ein Zweibeiner: Wirtschaft und Moral. Oder er ist kein Lebewesen.“
EU-Führer demütigen Cameron
Dass die sich die EU-Verantwortlichen trotzig verhalten gegenüber Großbritannien, kritisiert Bernardo Pires de Lima in Diário de Notícias:
„Bis die Verhandlungen zum Austritt abgeschlossen sind, bleibt Großbritannien ein vollwertiges EU-Mitglied. ... Doch EU-Kommissionschef Juncker, EU-Parlamentspräsident Schulz und EU-Ratspräsident Tusk behandeln Großbritannien bereits als europäischen Paria und werfen mit losen Aussagen um sich. Dabei vergisst besonders der EU-Kommissionspräsident seine Verantwortung als Hüter der Verträge. Die Art und Weise wie sie den britischen Premier Cameron gedemütigt haben, kann nur eines bedeuten: Diese drei wollen, dass das Referendum bindend und irreversibel ist - und die schlimmste Wunde in der Geschichte der EU öffnet. Das ist einfach falsch. Die Geschichte hat gezeigt, dass Referenden nicht irreversibel sein müssen und es Möglichkeiten gibt, Statuten zu verhandeln, ohne dabei die EU-Mitgliedschaft zu gefährden.“
Bloß kein europäischer Superstaat!
Die Außenminister Deutschlands und Frankreichs haben sich unmittelbar nach dem Brexit-Referendum für eine enger zusammenarbeitende EU ausgesprochen. Gość Niedzielny ist außer sich:
„Die Emotionen sind nach dem Ergebnis des Referendums in Großbritannien noch nicht abgekühlt und schon stellen Deutschland und Frankreich den anderen Staaten ein Ultimatum: Entweder schaffen wir nun einen Superstaat mit einer Regierung, einer Armee, einheitlichen Geheimdiensten und einer gemeinsamen Visapolitik oder Auf Wiedersehen und Au revoir. Es hat sich nun auch gezeigt, dass dieses Dokument, in dem diese Vision vom vereinigten Europa dargestellt wird, bereits lange vor dem Referendum auf der Insel entstanden sein muss. ... Es ist nur schwer zu begreifen, dass die EU-Eliten aus dem britischen Votum nichts gelernt haben. Es sieht so aus, als hätten die Amtsträger aus Brüssel, Deutschland und Frankreich nur auf den Brexit gewartet, um einen Mitgliedsstaat loszuwerden, der gegen die weitere Integration ist.“
EU muss sozialer werden
Infolge des Brexits muss sich die EU in vielen Bereichen verändern, fordert Pravda:
„Wenn die Union gestärkt aus dieser Krise hervorgehen will, dann ist gerade jetzt Zeit für couragierte politische Visionen. ... Wir brauchen eine EU mit höherem Lebens- und Menschenrechtsstandard. Wenn das Kapital multinational ist, kann sich die Politik nicht im Lokalen erschöpfen. ... Die Union muss die Rechte der Arbeitenden verbessern, die Einkommensunterschiede verringern, die Arbeitsstandards anheben, die Sozialsysteme dahingehend vereinheitlichen, dass Löhne und Renten aneinander gekoppelt sind. Es kann nicht sein, dass nur internationale Investoren kommen, die Subventionen fordern, aber kaum Steuern und geringe Gehälter zahlen. Wir stehen vor der Wahl: Entweder überlassen wir die EU einer Unsicherheit, in der dann ein Mitglied nach dem anderen unter verlogenen Parolen der Populisten geht, oder wir verändern die Union so, das sie für alle zum Vorteil ist.“
Ohne Briten stehen Balten allein da
Der Brexit stellt die baltischen Länder vor ein Sicherheitsproblem, erklärt Neatkarīgā:
„Russlands Aggression in der Ukraine wird nicht mehr im Fokus der EU-Interessen stehen, denn alle Ressourcen werden nun für den Austritt Großbritanniens aus der EU gebraucht. Auch die Wirtschaftssanktionen gegen Russland, die kurz vor dem Referendum verlängert und von den Briten am stärksten unterstützt wurden, könnte Brüssel schon im Herbst mildern. ... Russlands Wirtschaft ist in der Krise. Und das nicht nur wegen der EU-Sanktionen, sondern auch wegen sinkender Öl- und Gaspreise, die nach dem Brexit weiter gesunken sind. ... Wenn es so weiter geht und Russland es nicht schafft mit den eigenen Problemen fertig zu werden, könnte das Land schon wieder nach einem Feind suchen, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Die baltischen Länder hat Russland schon mehrmals im Kampf gegen äußere Feinde benutzt. ... Der Boden dafür ist hier fruchtbar.“
Brexit muss schnell über die Bühne gehen
EU und Großbritannien müssen schnellstmöglich über die Ausgestaltung des Brexit verhandeln, fordert Die Presse:
„Der Austritt Großbritanniens stellt einen gefährlichen Präzedenzfall für die EU dar. Lässt sich die EU ausräumen wie ein Supermarktregal, sichern sich die Briten auch nach einem Austritt Privilegien zu Niedrigstpreisen, dann werden schnell auch andere Mitglieder zur Ausgangstür rennen. Der Brexit muss deshalb mit Kosten für Großbritannien verbunden sein. Andererseits entspringt die Vorstellung, an Europas zweitgrößter Volkswirtschaft ein schauriges Exempel zu statuieren, blindwütigem Wunschdenken. Denn damit schnitte sich die EU tief ins eigene Fleisch. Am Ende sollte ein kühl austarierter Kompromiss stehen. Und um nicht zu viel Erde zu verbrennen, sollten die Verhandlungen bald starten. Führen muss sie ein anderer als Cameron, und zwar möglichst noch vor dem Herbst. Es ist Zeit für Boris Johnson, vorzutreten und Verantwortung zu übernehmen.“
Briten den Bremain anbieten
Da die Briten offensichtlich keinen Plan für das Brexit-Szenario haben, sollte die EU ihnen gönnerhaft entgegenkommen, empfiehlt Berlingske:
„Die chaotische britische Debatte darüber, was man jetzt nach der schockierenden Mehrheit für 'Leave' tun sollte, zeigt, dass das Brexit-Lager nicht die geringste Idee hatte, wie es mit einem Sieg umgehen soll. ... Eine ganze Reihe Regierungen - und nicht zuletzt das große Frankreich - hat ernsthafte Probleme mit einer EU-skeptischen Bevölkerung. Wenn sich jetzt der dichteste Rauch gelegt hat und die Gefühle sich beruhigt haben, sollte man erwägen, den konfrontativen Kurs gegenüber den Briten zu verlassen und ihnen die Hand für eine neue Absprache zu reichen, die bedeutet, dass Großbritannien in der EU bleiben kann. Dafür sind auch Versprechen über konkrete Veränderungen in der Zusammenarbeit denkbar, die den Kritikern entgegenkommen und für alle Länder gelten. Das erfordert natürlich, dass die Briten noch einmal zur Wahlurne gehen.“
Es wird einen harten Kern geben
Ein Europa der zwei Geschwindigkeiten ist unvermeidbar, fürchtet die Wochenzeitung Revista 22:
„Wir werden in naher Zukunft eine Institutionalisierung des harten Kerns Europas erleben, mit einem Parlament für diese Region, einer gemeinsamen Haushalts- und Fiskalpolitik und einem Superfinanzministerium. Vermutlich wird diese Region aus jenen sechs EU-Gründungsstaaten bestehen, zu denen sich Österreich, Finnland, Dänemark, Schweden und Slowenien dazugesellen werden. Die Visegrád-Staaten [Ungarn, Tschechien, Slowakei, Polen] werden dabei das Vorzimmer bilden, das integriert wird, sobald es die wirtschaftlichen Daten zulassen. Die Rolle von Institutionen wie der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung wird beträchtlich steigen, um Programme zu steuern, die den Abstand zum Zentrum der EU verringern helfen sollen. … Die Folgen des Brexit wird man am stärksten an der Peripherie der Union spüren, in so schwach entwickelten Staaten wie Rumänien und Bulgarien.“
Europa muss für die Völker da sein
Der Jurist Etienne Dujardin listet in Le Vif/L'Express die nötigen Schritte auf, die zur Neuausrichtung der EU nötig sind:
„Die Bürger sind nicht gegen Europa, sondern sie wollen ein anderes Europa: ein Europa, das sowohl in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht, als auch in Sachen Migration Schutz bietet und keine Angst hat, seine Wurzeln und seine Identität zu verteidigen. Ein Europa, das neue kulturelle Impulse gibt, das die Hindernisse im Bereich Bildung beseitigt, das Energien für Forschung und Entwicklung bündelt. … Die Engländer haben einen letzten Warnschuss abgegeben. Das europäische Projekt kann gerettet werden; allerdings braucht es ein neues Governance-Modell und darf nicht vergessen, dass es für die Völker da ist.“
Die Mächtigen entmachten
Die EU als politisches Projekt kann nur überleben, wenn sie demokratisiert wird, prophezeit die katholische Tageszeitung Avvenire:
„Sicher, ein politisches Projekt in der Tradition der westlichen Demokratie, doch ist nur wenigen Teilen diese Demokratie vorbehalten. … Hinter diesem engen politischen Kreis steht keine breite soziale Basis: Die Hegemonie lässt die Verlierer der Globalisierung außen vor, sie bietet nur denen Anerkennung, die ihre radikalen Werte verinnerlicht haben. ... Die Krise Europas kann überwunden werden, indem man dieses Hegemonialprojekt neu strukturiert und erweitert. Es ist sicher nicht autoritär, doch hat es finstere und invasive Züge angenommen. Es muss den nationalen Unterschieden gegenüber offen werden, indem es die nationalen und lokalen Patriotismen als eine Bereicherung und nicht als eine Bedrohung sieht und den Beitrag der großen idealen Geistesströmungen aufwertet, die Europa geschaffen haben.“
Paris könnte neues Finanzzentrum werden
Für eine prosperierende Wirtschaft ist es unerlässlich, dass die europäischen Finanzinstitute aus London zurückgeholt werden, betont der Ökonom und Essayist Édouard Tétreau in Les Echos:
„Kontinentaleuropa kann nicht als effizienter Markt, als florierende Wirtschaft und Gemeinschaft souveräner Nationen existieren, wenn es hinnimmt, sich wie ein Mafioso offshore zu finanzieren. Das Finanzzentrum der USA ist in New York, nicht in Nassau auf den Bahamas. Ebenso wird sich die neue Europäische Union die Mittel verleihen, ihr Finanzzentrum auf ihr Territorium zurück zu verlagern. ... Bei dieser Rückverlagerung haben Frankreich, Italien und Deutschland mit Paris, Mailand und Frankfurt besonders gute Karten. Es kommt [der Präsidentin der Region Île-de-France] Valérie Pécresse, [der Pariser Bürgermeisterin] Anne Hidalgo und dem künftigen Staatspräsidenten ab 2017 zu, in Paris bessere steuerliche Bedingungen als in London zu schaffen, damit solch eine Rückverlagerung erfolgt.“
Die Sinnsuche beginnt in Deutschland
Deutschland sollte bei einem Neuanfang in der EU eine treibende Kraft sein, fordert der Deutschlandfunk:
„Berlin, und das ist bemerkenswert, nimmt die Zukunft der EU aktiv in die Hand, lässt kaum Zeit verstreichen und versucht dabei zugleich, jedem allzu schrillen Ton vorzubeugen. Es ist von enormer Symbolkraft, wenn die Gründungsstaaten der Vorläuferorganisationen der Europäischen Union über die Wiese der Villa Borsig schlendern und am Ende in einer gemeinsamen Entschließung von einem Europa der unterschiedlichen Ambitionsniveaus sprechen. Es ist das Eingeständnis, dass diese EU sich in unterschiedlichen Geschwindigkeiten, Intensitäten und keineswegs geeint weiterentwickeln muss. Und: Es ist auch eine Art Eingeständnis, dass Europa in Deutschland ein behaglicheres Heim für die Sinnsuche findet, als in vielen anderen Ländern.“
Europäisiertes Berlin muss Führung übernehmen
Bei der Konstruktion der künftigen EU muss Deutschland eine zentrale Rolle spielen, fordert Naftemporiki:
„Viele Europäer glauben, dass ihre Stimme keinen Wert hat, dass in den europäischen Institutionen niemand Verantwortung übernimmt, dass die EU existiert, um der Elite und der Bürokratie in Brüssel zu dienen. Kann die Krise als eine Chance betrachtet werden? Die Mächtigen der EU, und vor allem Deutschland, müssen die Post-Brexit-Epoche verwalten. Doch eine weitere 'Germanisierung' der Union, mit den monolithischen monetaristischen Obsessionen, wird die EU zu ihrer Auflösung führen. ... Stattdessen ist die Demokratisierung der EU und die 'Europäisierung' Deutschlands der Weg, auf dem über die politische Einigung der Separatismus beendet werden kann und auf dem es neue Impulse für die Vision der europäischen Integration geben wird.“
Union künftig schwach gegenüber Moskau
Um die geopolitischen Folgen des Brexits, insbesondere die künftige Einstellung der EU zu Russland, sorgt sich Gazeta Polska Codziennie:
„Der Brexit ist für Polen eine sehr schlechte Nachricht: Denn damit steigt von den vier größten Staaten der EU gerade der Staat aus der Gemeinschaft aus, der am realistischsten auf Moskau blickt (Deutschland, Frankreich und Italien schauen da nicht so hin). Es ist ganz klar, dass die EU ohne London weltweit gegenüber den USA, China und vor allem Russland schwächer auftreten wird als bisher. Die EU wird zwar in der laufenden Woche wahrscheinlich noch einmal die Verlängerung der Sanktionen gegenüber Moskau beschließen. Doch praktisch dürfte der Brexit nun bedeuten, dass dies das letzte Mal sein wird. Ab Januar 2017 werden sie wohl nicht mehr verhängt, im besten Fall vielleicht ausgesetzt oder eingeschränkt.“
Brexit schnell durchziehen
In beiden britischen Lagern, dem für den Austritt und dem für den Verbleib, mangelt es an verantwortungsbewussten Persönlichkeiten, kritisiert die liberale EU-Abgeordnete Sylvie Goulard in Le Point:
„Boris Johnson, den ehemaligen Schüler des Elite-Internats Eton, als Anti-Establishment-Kandidaten zu präsentieren, ist unmöglich. Cameron als Genie zu loben, bedeutet Führungskompetenz und Mangel an Kohärenz zu verwechseln. ... Und sie machen sogar noch weiter. Seit Bekanntgabe der Ergebnisse spielen die Gewinner mit der Vorstellung, 'nichts zu überstürzen' (Johnson). David Cameron hat angekündigt, dass er nicht vorhat, die in Artikel 50 des EU-Vertrags vorgesehene Austrittsprozedur sofort einzuleiten, womit er seine Partner als bedeutungslos behandelt. Ist ihnen klar, wie weit diese lässige Haltung von echtem Verantwortungsbewusstsein und Respekt gegebener Worte entfernt ist, welche man von einem der fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats erwarten können sollte?“
Großbritannien jetzt nicht bedrängen
Mit ihrer Forderung nach einem schnellen Brexit haben EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und EU-Parlamentspräsident Martin Schulz Öl ins Feuer gegossen, kritisiert The Independent:
„Das ist kein kluger Kurs der EU. Eines ihrer größten Probleme ist ihr Demokratiedefizit - nicht nur in Bezug auf die Briten, sondern auf alle Völker der Mitgliedstaaten. Eine solche Haltung gegenüber dem Ausdruck einer demokratischen Meinung einzunehmen, ist töricht. Jeder Einschüchterungsversuch wird Anti-EU-Stimmungen in anderen EU-Ländern eher fördern, anstatt diese zu schwächen. Großbritannien braucht gute Beziehungen mit seinen europäischen Nachbarn, ganz gleich ob das Land nun in der EU ist oder nicht. Doch ebenso ist es im Interesse der EU, die bestmöglichen Beziehungen mit einem großen, reichen Staat vor seiner Küste zu bewahren. Juncker und Schulz sollten sich bremsen.“
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